Gemeinschaft

Gemeinschaftskinder

Oya-Redakteur Dieter Halbach sprach mit Karina Stützel, die im Ökodorf Sieben Linden aufgewachsen ist.von Dieter Halbach, Karina Stützel, erschienen in Ausgabe #46/2017
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© Eva Stütztel

»Die stärkste gesellschaftliche Intervention der ­Gemeinschaften und Ökodörfer geschieht wahrscheinlich im Aufwachsen ­einer neuen Generation. Lasst uns diese in die Zukunft wirkende Kraft noch bewusster gestalten!« – So hieß es in der Einladung zum Pfingstcamp für »Gemeinschaftskinder«, das vom 2. bis zum 6. Juni 2017 im Ökodorf Sieben Linden stattfand. Dieter Halbach sprach mit der im Ökodorf aufgewachsenen, 19-jährigen Mitinitiatorin Karina Stützel über ihre Erkenntnisse und Motive.

[Dieter Halbach] Karina, wir kennen uns nun schon dein ganzes Leben lang – und jetzt sitzt da eine junge Frau vor mir und organisiert ein Camp. Du hast die Idee gehabt, junge Menschen, die in unterschiedlichen Gemeinschaften aufgewachsen sind, zusammenzubringen, um miteinander über Erfahrungen und künftige Ideen zu sprechen.

[Karina Stützel] Genau genommen, war das die Idee von Simone Britsch aus dem Bildungsbetrieb. Sie hatte als vielfache Mutter schon länger den Wunsch, sich mit anderen Gemeinschaften über das Thema Kinder auszutauschen, und hat mich angesprochen: »Karina, es geht auch um dich. Hast du nicht Lust, mit uns diese Veranstaltung zu kreieren?« Von da an war ich dabei. Ich habe Freunde eingeladen und erfreut festgestellt, wie groß mein Netzwerk an Gemeinschaftskindern ist und wie familiär es sich anfühlt. In meinem Einladungstext habe ich geschrieben: »Wie war es für uns, in Gemeinschaft aufzuwachsen, und was kann man aus unseren Erfahrungen ›lernen‹? Obwohl wir alle in Gemeinschaft aufgewachsen sind oder einen großen Teil unserer Kindheit verbracht haben, denke ich, dass jede*r von uns unterschiedliche Erfahrungen mitbringt, die sich zu teilen lohnen. Für mich geht es auch darum, zu sehen, wie es bei anderen ist, uns inspirieren zu lassen und damit vielleicht ein bisschen Veränderung und Bewegung in unsere Gemeinschaften reinzubringen.«

Wie hast du das Treffen dann erlebt?

Es war ein großes, aber ­gemeinschaftsinternes Event. Unter den etwa 80 Teilnehmenden waren Eltern von Gemeinschaftskindern, Gemeinschaftskinder und auch andere Gemeinschaftsmitglieder. Die allseits vorhandene Gemeinschaftserfahrung hat sich für mich in der Gruppen­dynamik gezeigt: Niemand war überfordert, wenn mal irgendwo ein Kind geschrien hat; der Umgang miteinander war sehr schön und von einer hohen sozialen Kompetenz getragen. Wir Veranstalterinnen hatten im Vorfeld das Bild eines generationenübergreifenden Treffens verfolgt, bei dem auch kleine Kinder dabei sein können – beispielsweise mit einer Mal- und Kuschelecke, integriert in den großen Seminarraum.

Die Integration der Kinder in die Welt der Erwachsenen ist in den meisten Gemeinschaften ein wichtiges Thema. Wie hast du das als Kind erlebt?

Ich war bei vielen Gruppentreffen dabei und spielte oder schlief einfach neben den Menschen im Raum. Aber ich erinnere mich auch an die Momente, wo die Erwachsenen ­irgendwelche superwichtigen Treffen hatten, wo man nicht rein­gehen durfte – und wenn man es doch gemacht hat, wurde man böse angeschaut und wieder rausgeschickt. Das Schönste war für mich immer, wenn es parallel zu den Erwachsenen-Meetings auch ein Treffen oder ein Highlight für uns Kinder gab.
Interessant wurde es, als wir so halb erwachsen waren und geschaut werden musste, inwieweit wir uns einbringen können und dürfen. Ich gehöre ja zur ersten Pioniergeneration in Sieben Linden und denke, dass wir dieses Thema noch nicht ganz gelöst haben.

Gerade in der Anfangszeit 1993 im Projektzentrum Groß Chüden habe ich viel Protest von den Kindern erlebt. Die Erwachsenen waren viel in ihren Köpfen, es gab immer etwas zu tun, und oft war es sehr chaotisch – die Kinder jammerten von unten »Ich bin auch noch da!«. Erinnerst du dich an solche Situationen? Nein, da war ich ja noch sehr klein oder gar nicht geboren. Ich erinnere mich aber an Situationen in späteren Zeiten, wo meine Mutter ins Gemeinschaftshaus gegangen ist und ich immer wusste, dass sie sich dort verquatschen wird, selbst wenn sie sagte »Ich bin gleich wieder da«. Das fand ich natürlich blöd. Aber ansonsten habe ich sehr, sehr viele positive Erinnerungen an Gemeinschaft.

Was für positive Erinnerungen sind das?

Dieses Grundgefühl von Gehalten- und Getragenwerden: Ich kann zu ganz vielen Menschen gehen, und sie sind da für mich – Kinder wie Erwachsene, Eltern wie Nicht-Eltern. Das Gefühl, eine Beziehung zu vielen Menschen zu haben und dort einfach so sein zu können, wie ich bin, das war und ist für mich sehr wertvoll. Eine schöne Geschichte dazu ist, wie wir als Kinder irgendwann beschlossen, alle Eltern unserer Freundinnen einfach »Mama« und »Papa« zu nennen – es haben sowieso immer alle reagiert, wenn man gerufen hat! Außerdem ist es doch unfair, dass manche mehr und andere weniger Eltern haben.
Auch das ganze Gelände als Outdoor-Spielplatz zur Verfügung zu haben, machte uns Kindern unendlich viel Spaß. Dass ich zu dieser ersten Generation von Gemeinschaftskindern gehöre, hat mich sehr geprägt. Ich bin dadurch sehr selbständig und selbstbewusst geworden. Wenn ich etwas wollte, dann musste ich mich dafür einsetzen – wie das älteste Kind in einer Großfamilie.

Für mich waren die Kinder ein wichtiger Grund, eine große Gemeinschaft zu gründen. Ich habe vorher in einer kleinen Gemeinschaft gelebt und dort erfahren müssen, wir schwer Trennungen gerade auch für die Kinder sind. So wie meine Tochter hast auch du die Trennung deiner Eltern erlebt. Wie war das für dich?

Ich habe mich in der Gemeinschaft auch da sehr gehalten gefühlt. Und doch erinnere ich mich an die schwierige Phase, als die Trennung bzw. die Abwesenheit meines Vaters mich sehr verletzt hat. Nach der ersten schmerzvollen Zeit gab es dann jedoch mehrere Jahre, in denen ich mit meinen beiden Eltern am Platz lebte, und das hat für mich sehr gut funktioniert. Ich war immer ganz glücklich, wenn ich sagen konnte, dass, obwohl meine Eltern nicht mehr zusammen sind, wir noch gemeinsam wohnen. Die meisten Eltern meiner Freunde hier führen auch keine Liebesbeziehung mehr, und doch leben beide Eltern noch vor Ort und sind für ihre gemeinsamen Kinder da.

Es gibt ja dieses alte Klischee, dass Kinder immer etwas anderes machen müssen als ihre Eltern, dass sie sich gegen deren Lebensentwürfe stellen müssen. Doch bei euch sehe ich, dass ihr unsere Ideale weiterlebt und im Wesentlichen gut findet. Hast du trotzdem das Gefühl, dass du Dinge anders siehst oder etwas ändern möchtest?

Ich habe diese Phase, alles anders zu machen als die Eltern, nicht so extrem durchlaufen. Natürlich waren mir meine Eltern oft peinlich, und es gab eine Zeit, so mit elf und zwölf Jahren, da wollten wir – alle meine Freundinnen und ich – ­einfach nur normal sein. Mir ging es gar nicht darum, dass ich es doof fand, was meine Eltern taten, aber ich wollte in der Schule nicht immer als »Öko« abgestempelt werden. Ich musste erst begreifen, was eigentlich meine eigenen Werte sind. Es war ein spannender Prozess von dem kindlichen Gedanken, dass es doch total normal und selbstverständlich sei, wie wir hier leben, hin zu der Erkenntnis, dass die meisten Menschen anders leben als wir. Darauf folgte dann die Konfrontation mit dem Außen: Wo ich früher als »Öko« in der Schule beschimpft wurde, ohne mich selbst bewusst für diese Werte entschieden zu haben, konnte ich später immer mehr Stellung beziehen. Glücklicherweise habe ich mich dafür entschieden, zu diesen Werten zu stehen und sie zu leben.

Ich glaube, von euch Freundinnen hat nur eine einzige wirklich rebelliert; deren Erziehung war von vielen Verboten geprägt. Ihr anderen habt euch halt eine Zeitlang wild geschminkt, die Fingernägel lackiert, ferngesehen oder seid spät ins Bett gegangen.

Durch die Freiheit, die uns gegeben wurde, konnten wir uns ausprobieren, ausleben und dann Dinge auch wieder seinlassen. Das tat gut. Und trotzdem erinnere ich mich auch an klare Grenzen oder Auseinandersetzungen zu bestimmten Themen. Meine Eltern haben meist eine klare Stellung bezogen, und auf dieser Basis durfte ich entscheiden. Sie sagten: »Ich finde es nicht gut, aber tu, was du nicht lassen kannst.«

Wenn du eine eigene Gemeinschaft aufbauen würdest, oder auch, wenn du engagiert nach Sieben Linden zurückkommen würdest – was würdest du verändern und einbringen wollen?

Ich würde das Soziale statt der Ökologie an erste Stelle rücken. Obwohl mir die Ökologie sehr wichtig ist und ich auch die Vorteile dieser gemeinsamen Vision sehe, wünschte ich, dass wir uns mehr bewussten Raum und Zeit für das Soziale nähmen.
Es fällt mir aber schwer, die Frage zu beantworten, was ich in Sieben Linden verändern würde, weil es für mich ein gut funktionierendes System ist. Es hat sich alles irgendwie eingespielt, und viele Dinge haben ihre Geschichte, weshalb sie so sind. Klar könnte ich meine Energie in die Weiterentwicklung Sieben Lindens stecken, doch ich habe jetzt erst einmal Lust auf eigenes Experimentieren: Wie geht gemeinsame Ökonomie? Wie fühlt sich ein radikaleres Zusammenleben an, zum Beispiel in einer kleineren, intensiveren Gruppe?

Hast du die Idee, so eine Gemeinschaft zu gründen?

»Gemeinschaft gründen« klingt für mich immer gleich so, als müsste es ein erfolgreiches, großes Projekt wie Sieben Linden werden. Das ist aber gerade nicht meine Hauptziel. Ich fühle mich noch sehr jugendlich und möchte mich noch ein bisschen ausprobieren. Doch »Gemeinschaft« ist auf jeden Fall einer meiner wichtigen Lebensinhalte.

Spielst du mit dem Gedanken, deine Gemeinschaftserfahrungen weiterzugeben – beispielsweise, indem du in einen eher konventionellen Arbeitsbereich gemeinschaftliches Wissen einbringst?

Ich kann mir schon vorstellen, dieses Wissen weiterzugeben, und ich sehe das tatsächlich auch als meine Aufgabe. Ich möchte das Geschenk, das ich von frühester Kindheit an erfahren durfte, nicht für mich behalten, sondern damit rausgehen und schauen, was ich geben kann. Einen konkreten Plan dafür gibt es aber noch nicht.
Ich bin gespannt darauf, was wir als erste Generation, die in größeren Gemeinschaften aufgewachsen ist, alles kreieren und umsetzen werden! Wir müssen unsere Energie nicht mehr in das Wagnis einer Utopie stecken; wir wissen schon, was alles möglich ist. Überall sprießen gemeinschaftliche Gedanken und Projekte, und wir wissen, dass und wie es geht. Mit unserem Koffer an Erfahrungen können wir auf einer anderen Ebene starten.

Nochmals zurück zu dem Treffen: Hast du das Gefühl, es gab einen Konsens? Hattet ihr alle ähnliche Erfahrungen? Was wurde inhaltlich thematisiert?

Für mich und viele andere Jugendliche war ein großes Thema die Frage, wie es nach der Schulbildung weitergeht. Ich glaube, wir brauchen danach Orientierungsjahre, ein kreatives und selbstbestimmtes Lernen mit echten Herausforderungen im wirklichen Leben.

Wie kann das Gemeinschaftsnetzwerk da unterstützend sein?

Derzeit gibt es interessante Ideen für die Gründung einer Art »Junge-Gemeinschafts-Akademie« als Begleitung dieser Orientierungszeit mit dem Wissen der Gemeinschaften.

Unter den Teilnehmenden zeigten sich doch sicherlich an bestimmten Punkten auch unterschiedliche Meinungen und Erfahrungen. Gab es Menschen, für die das Aufwachsen in ­Gemeinschaft schwierig war?

Nein, ich habe niemanden getroffen – was aber nicht bedeutet, dass es diese Menschen nicht gibt. Zu so einem Treffen kommen natürlich vor allem diejenigen, die eine positive Erfahrung gemacht haben. Doch hier in Sieben Linden konnte man beobachten, wer von den jungen Leuten aus dem Ökodorf teilnahm und wer keine Lust auf das Treffen hatte. Mir ist dabei klargeworden, dass die Erwachsenen eine bewusste Entscheidung für das Leben in Gemeinschaft treffen und Kinder diese Entscheidung nicht bewusst treffen können. So wie manche erwachsenen Menschen ein gemeinschaftliches Zusammenleben besser finden als andere, so geht es auch den Kindern. Und nur weil ein Kind, das »zufällig« in Gemeinschaft aufgewachsen ist, in Zukunft nicht selbst in Gemeinschaft leben will, sind weder das Kind noch die Gemeinschaft falsch.

Als ich mit meiner großen Tochter Mara vor einigen Jahren den »Stamm Füssen« im Allgäu besucht habe, war sie schockiert, dass in dieser großen, eher hierarchischen Gemeinschaft so vieles verboten war – beispielsweise Radiohören oder die Haarspitzen abschneiden – und diese vielen Verbote dann heimlich gebrochen wurden. Bei den »12 Stämmen«, einer internationalen fundamental-christlichen Gemeinschaft, wurden die Kinder systematisch geprügelt und gedemütigt – obwohl die Erwachsenen gegenüber uns Vertretern anderer Gemeinschaften immer freundlich auftraten und von Liebe sprachen. Es gibt also auch in Gemeinschaften schlimme Arten, mit Kindern umzugehen.

Auf unserem Treffen waren nur Leute aus bestimmten Gemeinschaften, die sich alle irgendwie ähnlich sind. Weder der Stamm Füssen, noch die 12 Stämme oder Menschen aus der Anastasia-Bewegung waren da. Wir sind eben eine andere Art von Gemeinschaft. Es ist keine Abhängigkeitsgemeinschaft mehr, sondern eine intentionale Gemeinschaft.

Es gab geschichtlich auch intentionale Gemeinschaften mit religiösen oder politischen Dogmen, die vorgegeben haben, wie der Mensch sein sollte – ohne hinzuschauen, wie der Mensch ist. Glaubst du, der Umgang miteinander wird in eurer Generation leichter und unkomplizierter? 

Es gibt in vielen Gemeinschaften schon eine fortgeschrittene Gesprächs- und Gruppenkultur. Das habe ich auch auf unserem Treffen so erlebt. Für mich war der Austausch mit Gleichaltrigen, denen ich nicht erst erklären musste, wie das ist, in Gemeinschaft aufzuwachsen, etwas Besonderes. Wir konnten uns auf einer Ebene treffen und sofort ins Gespräch kommen, weil wir Ähnliches erlebt haben, weil uns etwas verbunden hat. Dafür liebe ich Gemeinschaften, dass ich diese Qualität hier und an den vielen anderen befreundeten Orten erleben kann.
Aber eine Sorge habe ich: Sieben Linden ist für mich so sehr Heimat! Doch wie könnte ich später wiederkommen? Wie stark habe ich das Anrecht auf ein Wiederkommen? Muss ich dann auch den Gemeinschaftskurs machen, und dann stimmen andere Leute über mich ab, obwohl ich hier aufgewachsen bin?

Das glaube ich nicht. Ich bin ja bei meinem Weggang zum Ehrenbürger ernannt worden – Und das werdet ihr auch sein! Sonst stimmte etwas nicht, wenn ihr als Fremde angesehen würdet. Danke Karina, für deine Ehrlichkeit und Klarheit im Gespräch. Es ist schön für mich, zu erleben, wie der Gemeinschaftsgedanke wächst und immer selbstverständlicher wird!  \ \ \



Zurück und nach vorne blicken
Ein erstes Interview mit Karina Stützel und ihren Freundinnen fand 2012 statt; es ist in Ausgabe 14 von Oya nachzulesen.
Dokumentationsvideo zum Pfingsttreffen: 
vimeo.com/236609517

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