Titelthema

Für eine psychisch aktive Gesellschaft

von Katrin Faensen, erschienen in Ausgabe #47/2018
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© Markus Altmann

Mitte Januar konnte eins im Radio hören, Donald Trump sei seinem Amtsarzt zufolge körperlich und geistig gesund und tauglich für das Amt des US-Präsidenten. Körperlich und geistig gesund zu sein, reicht meiner Meinung nach nicht aus. Ich höre diesen Bericht und weiß genau, mindestens der Hälfte der Weltbevölkerung ist völlig klar, dass Donald Trump nicht die leiblichen Voraussetzungen erfüllt, um das Amt des US-Präsidenten zum Wohl mindestens des US-amerikanischen Volks auszuüben.
Ja, richtig gelesen: Ich spreche davon, dass er »nicht die leiblichen Voraussetzungen erfüllt«. Leiblichkeit ist eine philosophische Kategorie der Phänomenologie, die Körper, Geist und Seele als einander immer beeinflussend und nicht voneinander getrennt versteht. Die Leiblichkeit ist grundlegendes und konstituierendes (erschaffendes) Element unserer Erfahrungen. Das Untersuchungsergebnis, das Donald Trump Fitness für das von ihm bekleidete Amt bescheinigt, vernachlässigt offenbar relevante Aspekte seiner Leiblichkeit wie Psyche und Seele.
Es liegt mir übrigens fern, Donald Trump als dumm oder psychisch krank zu bezeichnen.
Aber um die Psyche, die Seele soll es gehen – den Teil unserer Leiblichkeit, der in Bildungs- und Erziehungseinrichtungen annähernd komplett ausgeblendet wird, außer, sie beschäftigen sich ausdrücklich damit. Wir haben Sportunterricht, gehen zum Schwimmen und Laufen, wir machen Gehirnjogging, Sudokus, knallen uns den Kopf mit Wissen voll … Aber bis auf ein bisschen Kultur war es das, was wir an institutioneller Bildung mitbekommen, bis wir erwachsen sind. Emotionale Bildung, psychologisches Wissen, soziologisches Wissen, Wissen um Herkunft von und Umgang mit Konflikten und Beziehungsdynamiken, bewusste Erfahrung des Selbst und der inneren Welten bekommen Kinder in schulischen Zusammenhängen kaum vermittelt. Es fehlen auch Räume, um entsprechende Erfahrungen zu sammeln.
Innere Erfahrungsräume zu öffnen, wird in »unserer« Gesell­schaft nicht besonders gern gesehen. Meditation, autogenes Training – das geht ja noch, ist ja unserem Leistungsvermögen und dem Kapitalismus zuträglich. Aber Menschen, die sich ernsthaft mit ihren inneren Räumen auseinandersetzen und diese in Bezug zum »Außen« bringen – wo kommen wir denn da hin? In inneren Welten kann ja gar nichts konsumiert werden! Und was für ­illegale und schlimme Dinge müssen konsumiert werden, um innere Welten zu erfahren?
Die Untersuchung von Donald Trump führt wieder klipp und klar vor Augen, was fehlt: seelische Reife – und die Erforschung derselben. Dort scheint unser blinder Fleck zu liegen. Auf körperliche und geistige Fitness wird geachtet. Da wird trainiert und (sich) gemessen, aber seelische Fitness? Hat eins davon schon mal gehört? »Bleiben Sie körperlich und geistig aktiv bis ins hohe Alter!« – Aber seelisch aktiv? Was könnte das bedeuten?
Es gibt dieses Wort »psychoaktiv«, das sich auf Substanzen, die die menschliche Psyche beeinflussen, bezieht. Sie werden seit Menschengedenken konsumiert, um mit dem, was um uns ist, auf eine andere als die alltägliche Weise in Beziehung zu treten, und kundig genutzt von Menschen wie Schamaninnen oder Medizinmännern, deren Aufgabe darin besteht, andere bei der Navigation durch seelische und geistige Welten zu unterstützen. Mittlerweile häufen sich Studien, die einigen jener gegenwärtig illegalen Substanzen eine heilende Wirksamkeit für (unter anderem) psychische Erkrankungen zusprechen. Manche werden von der Wissenschaft als weniger gefährlich als Alkohol, Nikotin und Zucker eingeschätzt.
Psychoaktive Substanzen sind selbstverständlich nicht die einzige Möglichkeit, um seelisch beweglich und gesund zu werden. Es gibt unterschiedlichste Wege, um andere Bewusstseinszustände und Einsichten in die Zusammenhänge zwischen inneren und äußeren Welten zu erlangen: Tanz, Musik, Poesie oder andere kreative Gestaltungsweisen – solange es nicht um Technik, sondern um inneren Ausdruck geht –, Visionssuche in der Natur und therapeutische Ansätze wie die Gestalttherapie oder Methoden aus dem Feld der Körperpsychotherapie. Diese fristen jedoch ein Nischendasein; wir legen keinen gesamtgesellschaftlichen Fokus auf diesen Aspekt unserer Leiblichkeit. Menschen, die in Therapie gehen, werden (noch) häufig belächelt und oft nicht mehr ernstgenommen. Menschen, die sich mit anderen psychisch aktivierenden Dingen beschäftigen, geht es mindestens genauso. Die Folgen dieses blinden Flecks sind eine Häufung psychischer Unzulänglichkeiten und Erkrankungen. Wie könnten wir diesen ausgeblendeten Aspekt unserer Leiblichkeit mitten in die Gesellschaft holten und zum Thema machten?
Ich wünsche mir, dass wir uns als Gesellschaft ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen – dass wir aktuelle und bereits bestehende Forschungsergebnisse als Grundlage für längst überfällige und notwendige Änderungen nehmen. Wie werden wir zu reiferen, seelensturmerprobten, empathischeren Menschen? Wie können wir uns selbst und unsere Muster, unsere Befindlichkeiten, Verletzlichkeiten und Stärken kennenlernen, auf dass wir zu absichtsvollen, mitgestaltenden Mitgliedern der Gemeinschaft werden?
Wenn wir schon testen, ob wir in verschiedenen Bereichen tauglich sind, dann bitte auf »ganzheitlicher« Ebene, ohne einen relevanten Teil unseres Wesens außer Acht zu lassen. So können wir Instrumente entwickeln, die unsere vollkommen korrekte Wahrnehmung – dass nämlich Donald Trump nicht tauglich für das von ihm bekleidete Amt ist – auch bestätigen. So können wir handlungsfähig werden, anstatt psychisch reaktiv wie Vierjährige die Folgen unserer persönlichen Befindlichkeiten in die Welt zu blasen.


Katrin Faensen stellten wir in dem Porträt »Es zieht mich in den Kreis« in Ausgabe 22 über »Entscheidungskunst« vor; ihr Leitspruch heißt: »Nicht wesentlich mehr tun, nur mehr Wesentliches.«

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