von Albert Vinzens, erschienen in Ausgabe #47/2018
Ich habe die Schweiz unter anderem wegen Nietzsche verlassen. Das ist über dreißig Jahre her. Nietzsches geistiges Temperament hat mich nach Deutschland entführt. Ein Land mit großer Geschichte – und großem Schmerz! Dass Nietzsche Antisemit gewesen sei, konnte ich für mich durch ein langjähriges Studium widerlegen. Doch damit ist das Problem des Antisemitismus nicht gelöst. – Was ist das, die deutsch-jüdische Geschichte? Der vergiftete Samen dieser unsäglichen Klammer hat vermutlich eine Halbwertszeit, die derjenigen von radioaktiv verseuchter Materie gleicht. Meine vier Kinder sind Deutsche. Sie haben außerdem einen Schweizerpass. Ein Teil ihrer Vorfahren lebte während vieler Generationen ohne Krieg. Der andere Teil: kriegsversehrte Großonkel und Großeltern, die den Wahnsinn des Kriegs im Blut haben. In ihnen leben Abgrenzungsideologien und Kriegstraumata fort, wie lieb und bemüht sie als Großeltern auch sind. Fatalerweise scheint dies auch für eine politisch relevante Zahl der aus Deutschland und Europa in die Region Palästina vertriebenen Juden zu gelten, die den Anspruch auf die ihnen zugewiesene neue Heimat auf eine Art durchzusetzen versuchen, die Züge der auf Hass gegründeten Systeme aufweist, denen sie – glücklicherweise, und oft nur mit dem nackten Leben – entronnen sind. Mich schmerzt es, dass diese Geschichte nicht wirklich bearbeitet wird. Ich habe den Impuls, dagegen anzusteuern. Das nimmt mir so viel Energie, wie es mir andererseits Energie gibt. Deutschland und Israel sind heute auf der Bühne des Kriegs ganz vorne mit dabei. Junge Leute, die in diesen Ländern leben, wollen damit nichts zu tun haben. Das kann ich nicht akzeptieren, gleich, ob es meine Kinder sind oder andere junge Menschen. Sie alle sind transgenerativ stigmatisiert und haben diese Geschichte ebenfalls im Blut. Wir alle sind Betroffene, selbstverständlich auch ich als Schweizer. Schließlich bin ich ein Mensch! Meine vermeintliche Friedfertigkeit als Schweizer ist keinen Pfifferling wert. Das Gleiche gilt übrigens für eine Afrikaner oder einen geflüchteten Menschen. Solange wir mit Opfer-Täter-Masken umherrennen, verändert sich nichts. Wir alle müssen uns kundig machen über das, was Menschen einander im 20. Jahrhundert angetan haben, um das wahrzunehmen, was heute passiert. Insgesamt verspüre ich eine zweifache Trauer. In George Steiner weiß ich einen Autor an meiner Seite, der darüber Bescheid weiß. Steiner hat über die Tatsache, dass Denken traurig macht, ein Buch geschrieben. Das Denken, dieses ausweglose Hinstreichen über die Endlichkeit des Lebens, ist keine Freude, im Gegenteil, es macht traurig, vorerst egal, was sein Inhalt ist. Doch damit nicht genug. In meiner Seele gibt es zusätzlich die Trauer über die Klammer, die jüdische und deutsche Menschen lähmt. Auch darüber hat George Steiner, der 1929 geborene Jude aus Wien, der in Frankreich aufgewachsen ist, in den USA studiert hat und heute in Großbritannien lebt, geschrieben. In einem seiner Bücher, wo er einen Zusammenhang herstellt zwischen dem, was mit der Chiffre »Auschwitz« gemeint ist, und der Tatsache, dass dieses »Auschwitz« innerhalb unserer humanistischen Zivilisation stattgefunden hat, äußert er Gedanken zu dieser Klammer. Zuerst ist da sein Appell, dass wir das Furchtbare, das im Nationalsozialismus geschehen ist, ohne Unterlass im Gedächtnis behalten und studieren müssen. Dann schreibt er, dass die Juden ihre Geschichte verstehen lernen müssen und die Deutschen ihre, sozusagen unabhängig voneinander, jedoch aufeinander bezogen. Über diese Dinge nachzudenken, ist mir ein wachsendes Herzensanliegen. Ich kann es nicht lassen. Es wächst in mir, ohne dass ich etwas dagegen unternehmen kann. Diese Dauerübung der Aufmerksamkeit macht gelassen und heiter. Ich traue mich fast nicht, es zu sagen, aber es fördert die Geistesgegenwart und die Liebe zum Leben. Das erstaunt mich nicht. Ich habe gehört, dass die Halbwertszeit von radioaktiven Giften durch Denkwärme verringert werden könne. Das leuchtet mir durch das, was ich mit meinen Gedanken erlebe, unmittelbar ein. Gedankenwärme verändert die Welt, auch sie – nicht nur Drohnenkriege und menschenfeindliche politische Dekrete.
Albert Vinzens begab sich mit uns auf Streifzüge in »Von Bäumen, Steinen und Menschen« in Ausgabe 27 zum Thema Verbundenheit, und »Kapitel 6« in Ausgabe 40. Soeben erschien sein Buch »Die Nacht des Erzählens«.