von Geseko von Lüpke, erschienen in Ausgabe #47/2018
Wie geht das nur – eine andere Welt zu bauen? Charles Eisenstein hat das fix mal in einen Buchtitel gegossen und gesagt »Die schönere Welt, die unser Herz kennt, ist möglich!«. Stimmt ja. Und die Wünsche und entsprechenden Forderungen, die ich an die Politik stellen würde, können gar nicht so groß sein, wie mein Herz das will! Ich habe es deshalb längst aufgegeben, solche Schritte von den Repräsentanten in den Parlamenten zu verlangen, geschweige denn, sie zu erwarten. Ihre Aufgabe ist es, den Status quo zu wahren; sie agieren diesseits von ihrem Tellerrand und können sich keine radikalen Veränderungen vorstellen, weil sie das System erhalten wollen, das sie hervorgebracht hat. Wenn ich etwas für die Wahrheit meines Herzens tun will, dann kann ich es nur selber tun. Deshalb kann ich fast nur noch wählen, wer mir möglichst viel Freiraum dafür gibt, die andere Welt, die ich im Herzen trage, selbst zu bauen. Alte Kamellen eigentlich: »Du selbst musst der Wandel sein«, soll schon Gandhi vor 70 Jahren gesagt haben, »den du in der Welt sehen willst«. Gut, der Versuch ist es wert: »Walk your talk!« Ich bin also in eine Gemeinschaft gezogen, eine kleine, noch im Aufbau, mit viel Gestaltungsmöglichkeiten: Sulzbrunn. Hier stehe ich jetzt mit dem Wissen meines Herzens vor rund 30 anderen Genossinnen und Genossen, die ihre ganz eigene Welt im Herzen tragen. Manchmal gänzlich verschieden zu meinem Herzensbild. Wir alle haben einen mehr oder weniger offenen Zugang zu dieser Herzens-Wirklichkeit, weil uns kaum jemals jemand gesagt hat, dass es so etwas überhaupt gibt. Weil wir eher gelernt haben, unser Herz zu verschließen, um die Welt, wie sie ist, zu ertragen. Weil man uns weisgemacht hat, dass wir alle voneinander getrennt sind, konkurrieren und kämpfen sollen und uns schützen müssen vor dem oder der anderen. Also sitzen wir zusammen in Planungs- und Sozialplenen, Intensivtagen und Arbeitsgruppen und versuchen, die Herzenswahrheit in Worte zu gießen, in Vorschläge und Konzepte zu formen, und wollen, dass die Wahrheit, die wir fühlen, einfach in die Gemeinschaft der neuen Welt fließt. Doch dann beginnt es erst: Das Ringen. Die Missverständnisse. Die Ängste vor Veränderung. Die Konkurrenz. Die alten Verletzungen. Die schwärenden Wunden. Die Projektionen. Dann zeigt sich manchmal, wieviel Unaufgeräumtes auf den Herzen liegt, durch wieviele Schichten sich die Wahrheit kämpfen muss, wenn sie nicht im Herzen versauern will. Wenn sie sich schließlich vorsichtig und erschöpft pur zeigt, muss sie sich noch eine Stellung auf der Liste der Tagesordnungspunkte erobern, noch die Hürden der Vernunft nehmen, bisherigen Entscheidungen entsprechen. Dann wird das Ringen um Gemeinschaft nicht selten zur erschöpfenden Egonummer rivalisierender Persönlichkeiten, die jede das Beste wollen – und, statt ein »Wir« zu kreieren, zum Trauerfall, zur kollektiven Enttäuschung, weil wir wieder in die Fallen der »Old School« getappt sind. Dann gilt es, mitfühlend zu sein, geduldig mit sich selbst und mit den anderen und nach einer Zeit der Besinnung und Innenschau radikal zu fragen: »Dient es mir wirklich, was ich hier vertrete?« und »Dient es der Gemeinschaft?«, und alles, was diese Hürde nicht nimmt und Unglück und Abgetrenntheit vermehrt, auf den Müll zu werfen. Unendlich schwierig! Unendlich beglückend, wenn es gelingt. In der Welt, in der unsere Hirne und Herzen kolonisiert wurden, ist »mehr für dich« immer »weniger für mich«. In der verbundenen Wahrheit der Herzen führt der Sieg über den anderen zur Schwächung des »Wir« und ist die Vielfalt der Wahrheiten unverzichtbar. Die Herzen wissen das, aber die Logik des Verstands widerspricht, weil sie der alten Logik der Trennung folgt. Denn das ist die Geschichte, in der wir erzogen und sozialisiert wurden, in der wir leben, lieben und leiden. Die Grenze zwischen der »Old School« und der »schöneren Welt, die unser Herz kennt« geht mitten durch uns hindurch, jeden Tag, bei jeder Entscheidung. Immer wieder müssen wir das Alte sterben lassen und das Neue gebären, meist unter Schmerzen. Immer finden wir uns wieder in der Zwischenwelt, dem Chaos, im Nicht-Wissen. Wir schälen uns ab von alten Prägungen, von Regeln, von Sicherheiten, zwangsweise, wenn wir weiter wollen. Wir ringen! Und wollen viel schneller sein … Noch ist die »Old School« übermächtig. Noch ist die Wahrheit der Herzen die berühmte Imagozelle, die sich gegen das Immunsystem des Alten langsam – nein, nicht durchkämpft, sondern durchliebt. Da geht die Sehnsucht hin, da nähre ich mich. Wenn ich mich verbinden kann mit dem Größeren, egal ob es »Natur« heißt oder »Gemeinschaft«. Wenn ich die Klammer um mein Herz zu durchbrechen wage, wenn ich mich verletzlich mache und die Verletzlichkeit anderer in mir erlebe. Wenn ich den biografisch angehäuften Schutzwall, den ich um mich ziehe, immer wieder öffne. Wenn ich mir erlaube, mehr zu fühlen. Wenn ich meine Sinne dafür öffne, mehr wahrzunehmen. Wenn ich mich nicht mehr als abgetrenntes Etwas erlebe, sondern als liebender Teil des »Wir«. Wenn ich die bislang individuell begrenzten Erfahrungen des eigenen Denkens und Handelns als eine Art Durchfluss in einem größeren System zu verstehen beginne. Wenn mein Ego so durchlässig wird, dass meine Gefühle Ausdruck des Größeren werden. Und wenn dann auch das, was ich ursprünglich für meine begrenzte Energie und Kraft hielt, die ich schützen wollte, sich plötzlich öffnet und das größere Ganze mich trägt und vorwärts schiebt und ich als Ausdruck des Ganzen handeln kann, ich als Einzelner das »Wir« bin. Letztlich, wenn ich liebe, wie ich noch nie geliebt habe. Mich, das Du, die Gemeinschaft. Ja – unendlich schwierig! Und unendlich beglückend, wenn es gelingt.
Geseko von Lüpke fragte »Willkommen in der Mildnis?« in Oya 5 zum Thema »Wildnis« und sprach in der letzten Ausgabe über die archaische Tradition des Geschichtenerzählens.