Versuch einer zeitgemäßen Annäherung.von Veronika Bennholdt-Thomsen, erschienen in Ausgabe #48/2018
Beginnend mit Ausgabe 40 sucht der Oya-Redaktionskreis nach einem Weg, die Zeitschrift mit schenkökonomischen Mitteln weiterzuführen. Als gemeinschaftsgetragenes Projekt könnte Oya sich so einen großen Schritt hinaus aus Warenparadigma und Tauschlogik, und hinein ins Paradigma der Gabe und des bedingungslosen Beitragens bewegen. Die zentrale Voraussetzung unserer kapitalistischen Gesellschaft aber lautet: Geld ist ein Mittel zum Tausch von Waren, nicht zum Verschenken. Eine Zeitschrift, die sich nicht dem Diktat der abstrakten Geld- und Warenbeziehung fügt, stößt zuerst einmal an fiskalische Gesetze, die just dies verhindern sollen. Zu verrechnen und abzurechnen ist gesetzlich festgeschrieben. Mehr noch, unsere Art von Gesellschaftlichkeit ist davon geprägt: Recht und Gerechtigkeit orientieren sich am Geld. Exakt aufzurechnen, scheint Gleichheit zu gewährleisten, insofern alles mit demselben Maß gemessen wird. Diese Fiktion findet sich im »eingeebneten Spielfeld« der Globalisierungsideologie wieder, das zum Leitbild der neoliberalen internationalen Handels- und Finanzverträge geworden ist. Wirtschaftliche, geografische und kulturelle Unterschiede werden deshalb nicht berücksichtigt; sie werden vertraglich eingeebnet, damit sich das freie Spiel der Marktkräfte entfalten könne.
Der 500-jährige Krieg gegen die Subsistenz Das Geld ist Herz und Hirn unseres Tauschsystems. »So what?!«, könnte man fragen, Geld stellt schließlich das Kommunikationsnetz par excellence in dieser komplexen Weltgesellschaft her. Alles wird zur Ware – Musik, Sport, Nahrung, Reisen usw. – und Geld ermöglicht allen den Zugang dazu. Das einzige Problem scheint nur darin zu liegen, dass nicht alle über genügend Geld verfügen, um sich all das leisten zu können. Entsprechend ist Geld zum alles beherrschenden Thema und zur Legitimation staatspolitischen Handelns geworden. Das Problem: Die Fixierung auf die Menge verhindert den Blick aufs Ganze des modernen Tauschsystems. Seine verborgenen grundlegenden Prinzipien werden nicht in Frage gestellt. Sie bestehen im Zwang zur Gewinnmaximierung, zur Konkurrenz, zum Eigennutz, zum »Kampf aller gegen alle«, wie der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588–1679) den »Naturzustand des Menschen« vermutete. Somit entsteht das Gegenteil einer globalen, kommunikativen Vergesellschaftung, eine »Entgesellschaftung« sozusagen: Das Geld verbindet nicht, es trennt. Recht, Bedeutung, sogar Würde liegen auf der Seite der Sieger, sprich: derjenigen, die Geld haben. Diejenigen, die keines haben, die Unterlegenen, erfahren Geringschätzung. Damit einher geht ein Geld- oder auch Neid-Rassismus, der sich unheilvoll mit den älteren Formen des Rassismus verbindet. Diese moderne Geldmentalität kristallisiert sich zunehmend seit dem 18. und 19. Jahrhundert heraus. Adam Smith (1723–1790) und Karl Marx (1818–1883) formulierten mit der nationalökonomischen Werttheorie die Grundlagen dazu. Der »Wert« der Dinge wurde zunehmend in Geldeinheiten gedacht, was dazu führte, dass wir den Nährwert der Stoffe, die aus der Erde kommen, und der Tätigkeiten, die uns wirklich am Leben erhalten – kurz: der Subsistenz (von lateinisch subsistentia, »durch sich selbst«, »selbsterhaltend«) – vergessen haben. Das Augenmerk galt dabei zunächst der nationalstaatlichen Ebene und dem Außenhandel, wie bei Adam Smith oder David Ricardo (1772–1823). Darauf aufbauend, rückte im 19. Jahrhundert die zur Verarbeitung aufgewandte Zeit ins Zentrum der Wertfrage. Lag die Betonung bei Smith noch auf dem Waren- oder Handelswert und dem Geldgewinn, der durch Kauf und Verkauf der Güter erzielt werden konnte, so liegt sie bei Marx auf dem »Lohngeld« oder »Arbeitslohn«. Aus dem Wert der konkreten Arbeit wird jener der abstrakten Lohnarbeit, und das Kapitalgeld wird nun anhand des Gewinns definiert, den der Kapitaleigner aus der lebendigen und dennoch abstrakt bewerteten Arbeitskraft der Lohnarbeitenden zieht. Diese werden für ihre Arbeit bezahlt, mal mehr, mal weniger »betrügerisch«, aber niemals adäquat. Sie generieren das, was Marx als »Mehrwert« bezeichnete, der den Gewinn des Kapitaleigners ausmacht. Um die »Betrugs«-Differenz sollte es dann auch in den sozialistischen Revolutionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehen. Bei ihrem Ringen um soziale Gerechtigkeit stand die Bezahlung der Arbeit im Mittelpunkt. Im sozialistischen Denken wurde jedoch – trotz aller Abgrenzung gegen Kapitalismus und Profitmaximierung – an der Tauschgerechtigkeit via Geld nicht gerüttelt. Realistisch betrachtet, müsste allein schon die Vermutung absurd erscheinen, dass Arbeit gerecht berechnet gegen Geld getauscht werden könnte: Welche Arbeit? Wofür? Von wem und für wen? So aber vollzog sich in jener Zeit ein tiefgreifender Kulturwandel. Der abstrakte Wertbegriff, der abstrakte Arbeitsbegriff und das entsprechende Verständnis von abstrakten Tauschverhältnissen erobern die Welt. Der Prozess der Umwertung der Werte schreitet voran, bis schließlich in unseren Tagen alle Phänomene von der Luft (Verschmutzungsrechte) über jede sorgende Handreichung (Kinder-, Kranken- und Altenpflege) bis hin zur Wachstumsfähigkeit des Saatkorns in Geldeinheiten nach ihrem Tauschwert bewertet werden. Ein weiterer Schritt im Mentalitätswandel wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durch die internationale Entwicklungspolitik gemacht. Unter Leitung der US-Regierung wurde die Weltbank als »International Bank for Reconstruction and Development (IBRD)« gegründet. Fortan wurde das, was notwendig zum Leben ist, ausschließlich in Geld berechnet – was bei einem Finanzinstitut nicht weiter verwundert. Verwunderung, so möchte man meinen, sollte jedoch die Anmaßung hervorrufen, die ganze Welt zum Bankobjekt zu erklären. Gemäß dem Pro-Kopf-Einkommen in Geld wurden die Weltregionen eingeteilt in »unterentwickelte« Länder der »Dritten Welt« und »entwickelte« Länder der »Ersten Welt« (erstere wurden später in »Entwicklungsländer«, »Schwellenländer« oder »aufstrebende Märkte« umbenannt). Die UNO, ebenfalls seit 1945 in Kraft, übernahm die Bank-Nomenklatur als Richtschnur ihrer völkerrechtlichen Politik. Sukzessive traten den beiden Institutionen IBRD und UNO die Regierungen fast aller Länder bei – gerade auch jener, die als unterentwickelt, als arm (an Geld) und deshalb als rückständig und minderwertig klassifiziert wurden. Ein entscheidender ideologischer Baustein war dabei der Begriff von »Fortschritt«, der sich mit der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert herausgebildet hatte. Selbst die Evolution wurde als Kampf der Arten gedeutet, aus dem der Sieger als hierarchisch höherstehend hervorgehe. 1973 stellte der damalige Präsident der Weltbank, Robert McNamara, in Nairobi eine »Neuorientierung der Entwicklungspolitik« vor, durch welche die Gleichsetzung von lebenswerter mit geldwerter Existenz bis in die letzten Winkel der Erde getragen werden sollte. Die Mehrheitswelt wurde fortan entwicklungspolitisch davon durchdrungen, dass das Leben eine Finanzfrage sei. »Neu« im Vergleich zur Programmatik der bisherigen Entwicklungsdekaden war die Schwerpunktsetzung: »Gegenwärtig leben 70 Prozent der Bevölkerung unserer Drittweltmitgliedstaaten – und ein ähnlich hoher Prozentsatz der Armen – auf dem Land.« Auf und von dem Land zu leben wurde gleichgesetzt mit: im Mangel leben. Künftig sollte nicht mehr vornehmlich in den modernen, städtischen Sektor, sondern in die Millionen von Kleinbauern (»small subsistence farms«) investiert werden, die aufgrund ihrer niedrigen – in Geld gemessenen! – Produktivität angeblich am Rand des Existenzminimums lebten. Die im globalen Süden wie im Norden nach wie vor mehrheitlich bäuerlich geprägte Landwirtschaft wird nun uminterpretiert: Aus bäuerlichen Haus-Hof-Dorf-Regional-Wirtschaften wurden »landwirtschaftliche Betriebe«. Sie wurden als Ansammlung isolierter »Familienbetriebe« verstanden, gemäß dem Vorbild der patriarchalen Farmen der europäischen Kolonialisten in Nordamerika. Dadurch wurden und werden auch die unendlich vielfältigen Weisen der bäuerlichen Landwirtschaft – etwa in Form von Allmenden (Almwirtschaft im Alpenraum; comunidad indígena in Mexiko, Mittel- und Südamerika) oder matriarchalen Clans (im südindischen Kerala oder im chinesischen Mosuo) – als inexistent erklärt und nach ihnen fremden Vorbildern mit Reißbrettplanungen überzogen. Letztlich konsequent, könnte man mit einem gewissen Sarkasmus sagen, denn sie sind im Sinn der Maximierung nicht »geldexistent«. Entsprechend werden jegliche Formen gemeinschaftlicher Versorgung und regionaler Marktsysteme mit eigenständigen kulturellen Bewertungssystemen ignoriert. Auch gegenwärtige Diskussionen um Alternativen leiden unter der Blindheit gegenüber der Vielfalt von Tauschformen. Jeglicher Handel erscheint als Marktwirtschaft im Sinn der Maximierungsgeldwirtschaft. Jeglicher Tausch gerät unter Verdacht, sei es ohne, aber erst mit gegen Geld. Dann steigt der Pegel der Resignation nach dem Motto »Man kann sowieso nichts ändern«.
Die Plünderung der Lebensgrundlagen In der Weltbank wurden in den 1970er und 1980er Jahren unzählige Strategiepapiere zur Umsetzung der neuen Entwicklungsprogrammatik geschrieben. Sie wurden vom Grundgedanken bestimmt, die Bauern weg von der Subsistenz hin zur kommerziellen Produktion zu bringen. Bäuerinnen entgingen in den 1970er Jahren noch der Wahrnehmung der Entscheidungsträger. Sie rückten erst in den 1980er und 1990er Jahren in den Fokus der Armutsbekämpfung via Mikrokrediten. In der »Grameen Bank« in Bangladesch etwa hatte man festgestellt, dass Frauen weit zuverlässiger hinsichtlich der Rückzahlung sind als die Mehrzahl der männlichen Kleinstkreditnehmer. Der Vordenker dieser Strategie und langjährige Leiter der Bank, Muhammad Yunus, erhielt dafür 2006 den Friedensnobelpreis. Die beunruhigende Frage lautet: Warum wurde mehrheitlich nicht erkannt, dass das Kreditgeld ein Einfallstor für die multinationale Plünderung der Lebensgrundlagen und für die chemisch-industrielle Zerstörung von Erde, Wasser und Luft ist? Eine Antwort findet sich bereits in McNamaras berühmter Nairobi-Rede von 1973, in der er, vordergründig gesehen, Partei für globale soziale Gerechtigkeit ergriff. McNamara kritisierte die Kluft zwischen Reich und Arm, die Korruption der Eliten, die Schuldenlast durch internationale Kredite. Er klagte Unterernährung, Kindersterblichkeit, niedrige Lebenserwartung und Analphabetismus an. Er lenkte den Blick weg von der Industrie und den Städten hin zum Land, von wo unser aller Nahrung stammt. Er tat dies, um die vermeintliche Notwendigkeit der »Investition in die Armen« vor Augen zu führen, von deren positiver Wirkung er überzeugt war – und die fortschrittsgläubige Mehrheit, vor allem im globalen Norden, schloss sich ihm an. In der gegenwärtigen, von den Folgen betroffenen und der Ökologie bewussteren Zeit bedarf es keiner weiteren Erläuterungen über die verheerenden Konsequenzen der globalisierten Agrarpolitik, die überall zu Umweltzerstörung, Massenmigration, Landgrabbing und regionalen Hungersnöten führt. Immer mehr Menschen erkennen, dass die wachstumsökonomische Tauschwertmentalität der Dreh- und Angelpunkt bei der Suche nach einem friedvollen Umgang der Menschen untereinander und der Menschen und ihrer Mitwelt ist. Aber sie ist nicht einfach revidierbar. Heutzutage – fast ein halbes Jahrhundert später – sind Fakten geschaffen worden, in die die Tauschwertmentalität als Quellcode eingeschrieben ist: in die Straßen und Häuser, ins Wissen und Können, ins Zusammenleben und den Individualismus. Wege aus diesem Schlamassel können nur gefunden werden, indem diese Gegebenheiten mit einem anderen Licht als jenem der wachstumsökonomischen Vision ausgeleuchtet werden. Und wie Maria Mies immer zu sagen pflegt: »Keine Theorie ohne Praxis!«
Der Impuls der Gabe lebt Einen erstaunlichen Perspektivwechsel erlebte ich in einem Seminar mit der Linguistin und Theoretikerin der Ökonomie der Gabe, Genevieve Vaughan. Mich beschäftigte damals, 2006, die Frage, warum die Frauen von Juchitán im Süden Mexikos nicht die US-amerikanische Supermarktkette boykottierten, die kürzlich dort eröffnet hatte. Dabei verfügen sie doch über eine alle bestens versorgende Marktökonomie, die sich mit ihrem speziellen Verständnis von sozialer Gegenseitigkeit seit Jahrhunderten bewährt hatte! Es gibt bei ihnen keine festgelegten Preise, sondern sie sind variabel je nach Beziehung und Stand der gegenseitigen gesellschaftlichen Verpflichtung: War die »Kundin« etwa auf dem großen Jahreszeitenfest gewesen, das die Händlerin als Mayordoma (Festhofmeisterin) ausgerichtet hatte (was für diese mit hohen Ausgaben verbunden war)? Falls nicht, fühlt sich die Mayordoma geringgeschätzt. Die einkaufende Juchiteca ist somit ihrer sozialen Verpflichtung zur Festigung der Verbundenheit nicht nachgekommen. Vermutlich geht der zu zahlende Preis des Handelsguts nun für sie nach oben, so als sei sie eine Fremde. Es sei absehbar, so meinte ich, dass diese besondere, frauenzentrierte marktwirtschaftliche Gemeinschaft durch das Supermarkt-System zerstört werden würde. Genevieve Vaughans Antwort überraschte mich. Eine derartige Überlegung würde den Juchitecas vermutlich gar nicht in den Sinn kommen – sie folgten einem ganz anderen intuitiven Muster, das übrigens nicht nur auf diese matriarchal geprägte Gesellschaft zuträfe, sondern in gewissem Maß auch auf unsere sogenannten Schnäppchenjäger: Die Menschen würden intuitiv und unreflektiert – sozusagen aus dem Bauch heraus – denken, ein billiger Preis bedeute ein Geschenk an sie. Warum? Selbst in einer von der patriarchalen Maximierungswirtschaft dominierten Gesellschaft hätten wir das bedingungslose mütterliche Umsorgtwerden erfahren und seien in unserer Lebenseinstellung davon nachhaltig geprägt. Diese Erfahrung sei im wahrsten Wortsinn existenziell. Ohne das bedingungslose mütterliche Geben würden wir weder existieren noch gäbe es eine friedliche Vergesellschaftung. Aus dieser Blickrichtung vermag ich auch den zweiten Aspekt zu verstehen, den Genevieve Vaughan im Verhalten der Juchitecas erkannte: Nämlich, dass diese den niedrigen Preis und das darin enthaltene »Geschenk« so begreifen, dass die US-amerikanische Supermarktkette in eine friedliche Verbindung mit ihnen treten wolle. In Wirklichkeit freilich handelte es sich wohl eher um einen Angriff. Über die in diesem Prozess enthaltene Perversion lohnt es sich, etwas länger nachzudenken. Der Anthropologe und Soziologe Marcel Mauss brachte das Thema 1923 mit seinem Essay »Die Gabe« in die gesellschaftspolitische Diskussion des 20. Jahrhunderts ein. Er stellte vergleichende Studien über den Geschenktausch bzw. das Weiterreichen von »Geschenken« in verschiedenen indigenen Gesellschaften weltweit an und formulierte anhand dessen das Grundmuster der Gabe. In ihr versammeln sich demnach drei Voraussetzungen eines gesellschaftlichen Miteinanders anstatt eines Gegeneinanders: die Verpflichtung, zu geben, zu empfangen und zu erwidern bzw. wieder zu geben. Dieser soziale menschliche Verhaltenskodex sei frei von einem unmittelbaren Verwertungszweck, von rechnerischem Kalkül sowie von Enteignung und Aneignung. Im 19. und 20. Jahrhundert jedoch setzte sich das nationalökonomische Herauslösen des Tauschs aus dem sozialen Beziehungsgeflecht durch. Gewinnerzielung wird zum einzigen ökonomischen Zweck. Dennoch seien auch darin Elemente der früheren, archaischeren Weise des Gabentauschs enthalten, zumal die Verpflichtung, zu erwidern bzw. zurückzugeben – wenn auch in der eindimensionalen, linearen Weise, durch die auf jedem Geben, Empfangen und Erwidern der Alptraum der fortschreitenden Vermehrung lastet. Der »Eigennutz« hat den Impetus verdrängt, an einem gemeinschaftlich sich schließenden Kreis mitzuwirken. Vielleicht ist das der Grund, warum Marcel Mauss im Kula-Ring der Tobriand-Inseln Papua-Neuguineas und in dessen Beschreibung durch den Forscher Bronisław Malinowski die klarste und vollständigste Darstellung der Praxis des »Geschenktauschs« erkannte. Das Kula-Gabenaustauschsystem (kula = Ring, Kreis) durchdringt »das gesamte wirtschaftliche und soziale Leben der Trobriander. Es ist ein immerwährendes ›Geben und Nehmen‹«. Entsprechend verwischen sich auch in Mauss’ Analyse die Unterschiede zwischen Schenken und Tauschen, und Bezeichnungen wie »Geschenktausch« oder »Gabenaustausch« werden synonym verwendet. Auf den Trobriand-Inseln schließen sich Tausch und Geschenk nämlich nicht gegenseitig aus, ebensowenig wie Ökonomie, Kultur, Ritual- und Sozialleben. In der Kula-Gabe fließen all diese Aspekte zusammen. Sie gibt der Verbundenheit eine konkrete Gestalt und damit der Aufrechterhaltung des Friedens zwischen verschiedenen Gruppen sowie innerhalb einzelner Gruppen. Auch der individuelle, einfache Tauschhandel ist keineswegs unbekannt. Aber man behält im Allgemeinen das, in dessen Besitz man gelangt ist, nicht für sich – außer es sei wirklich subsistenziell unentbehrlich –, sondern man überlässt es anderen. Auch hier gilt das Kula-Prinzip. Entsprechend kann es durchaus vorkommen, dass das Erworbene identisch am selben Tag zu einem zurückkehrt. Der Historiker Jacques Le Goff nimmt in seinem Essay »Wucherzins und Höllenqualen – Ökonomie und Religion im Mittelalter« Bezug auf diese »verwirrende Tatsache«: »… durch das Hin und Her ein und desselben Objektes zwischen den Tauschpartnern [wird] dem Tauschgeschäft jeder nur denkbare ökonomische Sinn und Zweck genommen.« Le Goff erschließt uns die Mentalität der Menschen im christlich geprägten europäischen Mittelalter – und er glaubt, strukturelle Ähnlichkeiten zum Gesellschaftsverständnis der Trobriander des beginnenden 20. Jahrhunderts zu erkennen. Hier wie dort sei der Tausch ein »Äquivalententausch« – so nennt er, Karl Polanyi zitierend, das Hin und Her desselben Objekts –, dessen Ziel nicht die »ökonomische Rationalität«, sondern »die Festigung des Beziehungsgeflechts durch die Stärkung reziproker Beziehungen« sei. »Reziprozität«, das heißt »Gegenseitigkeit«, hätte auch die »ökonomischen Tauschhandlungen einer auf christlichen und feudalen ›Beziehungsgeflechten‹ beruhenden Gesellschaft« bestimmt. Die Kirche war bemüht, das entsprechende Wertesystem zu stützen. Wer es durchbrach – der Wucherer –, dem drohte die ewige Verdammnis. Die Wirkung der Drohung verblasste scheinbar paradox in eben dem Maß, in dem der Wucher eine zunehmend herausragende Rolle im Diskurs über die sündigen Laster zu spielen begann (Augustinus, Thomas von Aquin, Dante), allerdings nicht im Sinn von Ursache und Wirkung, sondern als Symptom. Die Zunahme der Geldwirtschaft und damit des Zinses, der ursprünglich als Wucher gegolten hatte, sei nicht aufzuhalten gewesen. Daraus wurden schließlich der gerechte und der ungerechte Zins, letzterer nun gleich Wucher, und für die reuigen Wucherer entstand der Umweg des Fegefeuers, aus dem am Jüngsten Tag der Eintritt ins Ewige Leben möglich wurde. Für uns Heutige, Hiesige ist die Brücke, die Le Goff zwischen Melanesien und Europa schlug, unter verschiedenen Aspekten interessant. Zum einen zeigte er den »europäischen Indigenen«, dass auch in ihrer Tradition ein mitmenschlicherer Umgang in den Tauschverhältnissen verborgen ist. Zum anderen fällt auf, dass Le Goff »geben« und »schenken« nicht erwähnt. Er nutzt stets nur den Begriff »tauschen«. Das mag daran liegen, dass er nach den weltanschaulichen Wurzeln des Kapitalismus forscht, die – so sein Argument – bereits im Mittelalter in der Auseinandersetzung mit dem Wucher zu finden sind. So habe sich der Wucher, ein im Mittelalter als besonders negativ beurteiltes Laster, im 18. Jahrhundert zu einer positiv beurteilten Verhaltensweise gewandelt. Aus dem »privaten Laster« Habgier wurden »öffentliche Vorteile«, wie Bernard Mandeville 1723 seine gesammelten, seinerzeit vielgelesenen Abhandlungen betitelte. Aus dem »Wucher« wurde schließlich der »Eigennutz«, der Adam Smith zufolge für die Nationalökonomie so förderlich sei.
Hinwendung zum Stoff des Lebens Der langwährende Prozess der »Entbettung« (Karl Polanyi) des Tauschs aus dem mitmenschlichen Beziehungsgeflecht geht Hand in Hand mit dem Verschwinden der Naturstoffe hinter dem Geld. Der abstrakte Geldwert der Ware, das heißt ihr Preis, überdeckt die Wertschätzung für die stofflich-materielle Herkunft und Zusammensetzung der Dinge: »Da kannst du das Gemüse gleich in der Apotheke kaufen«, hörte ich Landwirte bei der Feldforschung in der Warburger Börde die Gartenarbeiten ihrer Ehefrauen bespotten. Aber auch im europäischen Tauschmittel war die Entmaterialisierung oder Entwurzelung des Geldes aus den konkreten Lebens- und Naturzusammenhängen nicht von vornherein gegeben, wie eine von Le Goff zitierte Schrift, die wahrscheinlich aus dem 5. Jahrhundert stammt und im 12. Jahrhundert ins kanonische Recht aufgenommen wurde, zeigt: »Geld ist unfruchtbar. Wucher aber bezweckt, dass es sich vermehrt. Thomas von Aquin sagt … ›Geld pflanzt sich nicht fort‹«. Aber weder Le Goff noch Mauss noch Polanyi noch die vielen anderen Wissenschaftler gehen auf die entscheidende Frage ein, wie es zu der allumfassenden, gottähnlichen Magie des abstrakten Geldwerts kommen konnte. »Der Tod der Natur«, so lautet der Titel der Untersuchung von Carolyn Merchant zum weltanschaulichen Wandel hinsichtlich Frauen und Ökologie in Zeiten der Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaft in Europa. In diesem großartigen Werk aus der frühen Zeit der Frauenbewegung findet sich die entscheidende Erklärung für die Aufspaltung der »Gabe« in das Gegensatzpaar »Schenken versus Tauschen«. Im Zentrum steht die Hexenverfolgung, jene einschneidende Epoche zwischen 1500 und 1700, die in Hinblick auf die Gestaltung der Geschlechterbeziehungen nachhaltig zerklüftend wirkte: Frauen wurden ab der europäischen Neuzeit verfolgt, gefoltert und ermordet, weil sie als Frauen in die naturgegebenen Fruchtbarkeitszyklen eingebettet sind. Damit war einst – zumal im animistischen Volksglauben – eine besondere Wertschätzung verbunden gewesen, die der Fruchtbarkeit der Erde und der weiblichen Gebärfähigkeit entgegengebracht worden war. Die Kirchenmänner, die Gelehrten der entstehenden Naturwissenschaft und Männer in den oberen Rängen der Staatshierarchie sahen darin eine Machtstellung, die allein ihnen zustehen sollte. Das Trauma der Hexenverfolgung reicht bis in die Gegenwart. Der Quellcode des heutigen globalen Tauschsystems ist der symbolische Muttermord. Ein Weg zur Überwindung der profitmaximierenden Tauschlogik und der patriarchalen Kopfgeburt, dass Geld »fruchtbar« sei, sowie zur Heilung von Konkurrenzkampf, Unterdrückung und Ausbeutung liegt somit in der Hinwendung zum Mütterlichen, zum Materiellen (von lateinisch materia, verwandt mit mater, »Mutter« und matrix, »Gebärmutter«) und zum Stofflichen – zum Boden unter unseren Füßen, der Grundlage unserer Subsistenz. Die Voraussetzungen dazu tragen wir in uns: Wir alle haben die Erfahrung bedingungslosen Versorgtseins im Bauch unserer Mutter gemacht, und alle Menschen sind sich insofern ebenbürtig, als sie alle aus »einer Mutter« geboren wurden. Wir sind, wie Genevieve Vaughan schreibt, »a mothering species«: Das mütterliche Umsorgen und Umsorgtsein ist uns als Art eingeschrieben. Diese so schlichte wie einleuchtende Erkenntnis in den Austauschbeziehungen mit unseren Mitmenschen und mit unserer stofflichen Mitwelt manifest werden zu lassen, ist eine entscheidende Aufgabe unserer Zeit.
Veronika Bennholdt-Thomsen (73) leistete als Sozialanthropologin Pionierarbeit in der Subsistenz- und Frauenforschung. Sie wurde an der Universität zu Köln in Ethnologie promoviert und habilitierte sich in Soziologie an der Universität Bielefeld. 1966 tauchte sie während eines mehrjährigen Auslandsaufenthalts tief in die von Subsistenz geprägte Alltagskultur Mexikos ein. Anfang der 1990er Jahre führte Bennholdt-Thomsen in der mexikanischen Stadt Juchitán eine Studie über deren nicht-patriarchales, subsistenzorientiertes, auf mütterlichen Werten basierendes Wirtschaftsgefüge durch, die 1994 als »Juchitán – Stadt der Frauen« erschien. Sie verfasste zahlreiche Bücher und Fachartikel über bäuerliche Ökonomie, feministische Gesellschaftstheorie und matriarchale Praxis. 1997 erschien ihr zusammen mit Maria Mies verfasstes Standardwerk der Subsistenzperspektive »Eine Kuh für Hillary«. Sie baute das Fach »Frauen und Dritte Welt« an der Universität Bielefeld auf, lehrte am Zentrum für Höhere Studien Oaxaca, Mexiko und ist seit 1997 Honorarprofessorin an der Universität für Bodenkultur Wien. Veronika Bennholdt-Thomsen lebt in Bielefeld.