Wo junge Menschen Freiräume finden.
von Alex Capistran, erschienen in Ausgabe #50/2018
Wer in unserer Leistungsgesellschaft aufwächst, bekommt von Familie, Schule und Medien meist die Vorstellung eingepflanzt, keine andere Wahl zu haben, als sein Leben auf Geld, Jobs und Status hin auszurichten. Wer nicht mitmacht, ist ein »Aussteiger«, hat weder Geld noch Sicherheit und kann den Zugang zu einem geregelten bürgerlichen Leben für immer vergessen. Nach Lektüre der folgenden Zeilen jedoch kann er oder sie dem entgegnen: Es gibt Orte, an denen ich sein kann, ohne viel Geld zu haben, ohne einer bestimmten Ideologie zu folgen, sogar ohne im klassischen Sinn etwas zu »leisten«. Häuser, Projekte, Anlaufstellen, an denen in realen Situationen gelernt werden kann und die mit Bildungsfragen sehr grundlegend zusammenhängen – sie schaffen einen Rahmen, in dem Bildung im eigentlichen Sinn erst möglich wird, also ein freies Sich-Einlassen und Wachsen anhand von selbstgewählten Lernfeldern. Für mich persönlich war die Entdeckung jener Orte ein mutmachendes und veränderndes Erlebnis, und ich denke, auch für andere junge Menschen kann ihre Existenz zur biografischen Goldgrube werden. Neben Bauernhöfen, Workcamps, Pfadfinderlagern und religiösen Einrichtungen, die entweder temporär oder zweckgebunden sind, gibt es einen interessanten Typus von Orten für junge Menschen: Freiräume. Ihre Qualität lässt sich mit keinem anderen Attribut besser beschreiben, da hier nichts Bestimmtes produziert oder gepredigt wird, sondern weil sie im nüchternen Sinn verkörpern, was sie sind: Räume, Orte, Häuser, die mit Lebendigkeit gefüllt werden möchten. Dabei sind sie Anlaufpunkte, um die herum sich etwas verdichten kann, das nicht gleich wieder verweht, sondern bleibenden Eindruck hinterlässt. Manche der hier vorgestellten Orte habe ich selbst besucht, andere über Gespräche und Recherchen kennengelernt.
Tun und Lassen im Unfertigen Unsere Lesereise beginnt in Mecklenburg-Vorpommern, das über unzählige alte Gutshäuser verfügt. Gottfried Stockmar erwarb 2006 das Gutshaus Hugoldsdorf in der Nähe von Greifswald. Hier leben derzeit eine Familie mit Kindern, eine Seniorin, Katharina, Lisei, Isabell und Marian. Außerdem natürlich Gottfried, der philosophische Gespräche schätzt und oft gedankenversunken an seiner Zigarette zieht. Den Ort umweht eine ganz eigene Atmosphäre, ein Gefühl, hier völlig das tun und lassen zu können, wonach einem der Sinn steht. Zuweilen verlaufen sich die wenigen Menschen in dem riesigen Haus etwas; an allen Ecken und Enden wird gebaut, und eine gewisse Melancholie liegt über dem ganzen Anwesen. Florian Lück von der Initiative Captura, die schon vor Jahren in Hugoldsdorf freie Bildung erkundete, erklärte 2010 in einem Oya-Artikel: »Ein altes Gut wird renoviert und belebbar gemacht. Es gibt jedoch keine Notwendigkeit, bis dann und dann fertig zu sein. Es gibt keinen, der mir sagt, ich müsse dies oder jenes tun, keinen, der mir eine bestimmte Rolle oder Aufgabe zuweist. Wer nicht bereit ist, sich auf sich selbst, auf seine innere Wahrheit einzulassen, wird hier scheitern.« Dieses Experimentieren mit der Freiheit, auch wenn es mal ungemütlich sein mag, verleiht dem Ort seinen Charakter. »Wir wollen einen Raum schaffen, in dem der Mensch seine sozialen wie seine antisozialen Impulse ausleben kann«, schreibt mir Marian. »Warum nicht mal Spülberge? Und warum nicht auch mal Lust auf Fensterputzen? Wir freuen uns über Menschen, die bei sich sind, die Selbständigkeit suchen, die sich verbinden wollen. Auch über Baumaterial, Geld, Initiative, Fantasie und Tiefe und Geduld. Und Ernst und Humor. Aber ist nicht in jedem etwas davon da?«. Wer eine längere Besuchszeit in Hugoldsdorf einlegen möchte, sollte nach Möglichkeit einen Richtwert von vier Euro am Tag für die Deckung der Betriebskosten und sechs Euro täglich für die Essenskasse einplanen. Es ist ein Ort, um sich ganz substanziell mit sich selbst auseinanderzusetzen und einen Vorschein des eigenen inneren Kerns zu erhaschen: »Hier in Hugoldsdorf ist vieles nicht fertig, aber manches scheint durch.«
Utopien im Alltag leben Aus pragmatischem Idealismus geboren wurden zwei Orte, an die uns unsere Reise nun führen soll: das Kanthaus in Wurzen bei Leipzig und das Kollektivhaus in Niedersachsen. Die Kanthäusler wurden ursprünglich durch eine Foodsharing-Initiave zusammengebracht, die Lebensmittel vor dem Wegwerfen bewahrt. So gab es die Gemeinschaft schon, bevor das Haus in der Kantstraße bezogen wurde. In der Entstehungsgeschichte zeigt sich bereits der pragmatisch-politische Impuls des Projekts: »Menschen, die mit uns leben möchten, sollten vor allem mit uns arbeiten wollen«, erfahre ich von Janina. »Wir brauchen aktive, intrinsisch motivierte und eigenständige Menschen, für die Nachhaltigkeit ein Wert ist, der praktisch umgesetzt werden muss.« Meist halten sich um die zehn Menschen im Kanthaus auf – Däninnen, Schotten, Französinnen und Deutsche. Einige haben ihren Lebensmittelpunkt hier, für andere ist es die Basis oder eine Anlaufstelle in ihrem nomadisch geprägten Leben. Gäste können jederzeit ihren Besuch anmelden. Der Aufenthalt ist nicht an finanzielle Verpflichtungen geknüpft, dafür sollte jeder Gast die hauseigene »Verfassung« akzeptieren, in der es unter anderem um Ziele und Grundsätze oder auch Entscheidungsfindung geht. »Unsere Hauptthemen sind bedingungsloses Teilen, Gemeingüter, Lebensmittelrettung und technische Lösungen für Menschheitsprobleme«, formulieren die Kanthäusler ihr Anliegen. Ich stelle mir das Haus als einen kosmopolitischen Ort vor, an dem Menschen konkrete Projekte gemeinsam anpacken können und wo eine betriebsame Stimmung herrscht. »Wir sehen unsere Aufgabe weniger darin, ›Normalbürgern‹ die Augen zu öffnen für die Probleme der heutigen Welt, als (werdenden) Aktivisten und Aktivistinnen Raum zur Entfaltung zu geben.« Wer viel Wert auf Privatsphäre und Eigentum lege, kein Englisch spreche oder Computer nicht möge, werde sich im Kanthaus wohl nicht sonderlich wohlfühlen, erfahre ich von den Bewohnerinnen. Wer hingegen einen Ort zum Ausprobieren alternativer Praktiken und Bräuche sucht, wahrscheinlich schon. Eine ähnliche Betriebsamkeit dürfte im Kollektivhaus im Örtchen Greene zwischen Hannover und Göttingen pulsieren. Seit Mai 2018 leben dort 15 Menschen gemeinschaftlich und funktional. Letzteres bedeutet, dass die Räume nicht nach Personen, sondern nach Funktionen aufgeteilt und von allen genutzt werden, beispielsweise zum Essen, Arbeiten oder Schlafen. Die Menschen im Kollektivhaus engagieren sich für viele gesellschaftliche und umweltpolitische Initiativen. Helen schreibt mir: »Hier im Haus kann Freiheit von Leistungsdruck gelebt werden. Dadurch, dass wir fast alles miteinander teilen oder gemeinsam organisieren – Lebensmittel, Klamotten und auch Geld durch kleine gemeinsame Ökonomien – müssen Menschen nicht viel Lohnarbeit machen und haben dadurch die Freiheit, zu schauen, was die Welt gerade wirklich braucht und wie sie sich wirklich einbringen wollen.« Gerade wünschen sich die Kollektivhäusler Menschen, die oft anwesend und willens sind, eine menschliche und räumliche Struktur aufzubauen, die ein achtsames Gemeinschaftsleben ermöglicht – sei es durch Gemeinschaftsabende oder durch praktische Mitarbeit beim Bauen und Gärtnern –, und die auch anderen Menschen einen Einblick in ein solches Leben gewährt, zum Beispiel in Form von Seminaren. Auf der Webseite des Hauses finden sich unter »Was wir gerade noch suchen« viele Lebensmittel, wie z. B. Hülsenfrüchte oder Nussmuß, und manches, was sonst weggeworfen würde: Zelte, Fahrräder, eine Djembe. »Wenn du uns kennenlernen möchtest, dann komm doch am besten zu einem Seminar, einer Bauwoche oder einem Mitmach-Brunch vorbei«, meint Bewohner Tobi und betont, »dass Menschen nicht etwas geben müssen, um hier sein zu können« – dass also kein finanzieller Mindestbetrag für einen Aufenthalt erwartet wird. Darüber hinaus gibt es einen Gemeinschaftskleiderschrank im Flur, aus dem jede und jeder im Haus die Kleidung bezieht. In meiner eigenen Wohngemeinschaft haben wir dieses Element auch flugs etabliert und zehren immer wieder davon. Vom modularen Raumnutzungskonzept über funktionales Wohnen und die Foodsaving-Kooperationen lugt im Kollektivhaus viel unkompliziertes utopisches Potenzial durch. Helen bringt es auf den Punkt, weshalb solche Räume für eine schöne Gesellschaft unverzichtbar sind: »Weil diese Orte es ermöglichen, zu erforschen, wie wir in Zukunft leben wollen, und wir jetzt schon spüren können, wie sich unsere Utopie anfühlen würde.« Medial sind die Leute vom Kollektivhaus so gut vertreten wie kaum ein zweiter alternativer Ort. Auf der Webseite des »Stern« findet sich ein mehrminütiges Video über das Haus, und Bewohner Tobi Rosswog veröffentlicht gerade ein Buch über eine Gesellschaft jenseits der Arbeit. Ironischerweise scheine bei manchen Bewohnern manchmal etwas Überarbeitung durch, höre ich den Buschfunk munkeln. Wer aktiv werden und radikale Ansätze in Bewegung bringen möchte, ist im Kollektivhaus aber definitiv an der richtigen Adresse.
Durch den Sommer tanzen So ziemlich das Gegenteil in puncto medialer Bekanntheit dürfte das Tanzgut Lohsdorf in der Sächsischen Schweiz sein. Kaum jemand kennt diesen poetischen Ort kurz vor der tschechischen Grenze. Philipp und sein Freundeskreis beziehen seit 2013 jedes Sommerhalbjahr Quartier in dem Haus mit ehemaligem Dorftanzsaal und laden Menschen ein, dazuzukommen, mitzubauen, mitzusingen und mitzukochen. Philipp, der in der ersten Saison sein selbstorganisiertes »Freiwilliges Utopisches Jahr« am Ort absolvierte, umschreibt das Anliegen so: »Hier im Tanzgut versuchen wir, dass Geschäftigkeit, Geld, Konsum, Perfektionismus, Arbeitslogik, das Harte an Bedeutung verlieren und gleichzeitig das Weiche, Sanfte geschützt wird, wir also eher ein Schutzraum sind für Tätigkeiten wie singen, musizieren, Tiere beobachten, wandern, tanzen, basteln, träumen, gärtnern, Geschichten erzählen.« Rund 100 Übernachtungsgäste kamen bisher pro Jahr; die Übernachtung im Zelt oder Bettenlager wird Besucherinnen und Besuchern geschenkt, die Essensversorgung hingegen gemeinsam organisiert und finanziert. »Die Infrastruktur erlaubt, dass wir meistens draußen sein können; so nehmen wir Wärme, Kälte, Sonne und Stürme intensiv wahr.« Beim Sommerfestival oder zu sogenannten Lebensstilwochenenden kommen mehr Menschen in den Genuss, ein tänzerisches Leben kennenzulernen. Doch was hat es mit dem Tanz im Tanzgut auf sich? »Wir sind davon überzeugt, dass Orte, die so gestaltet sind und gestaltbar bleiben, dass viele Bedürfnisse leicht erfüllt werden können, das Führen eines tänzerischen Lebens unterstützen können«, erklärt Philipp und ergänzt: »Jeder Mensch ist ein Tanzpartner, es kommt auf jeden Schritt an. Achtsam, mal führen, mal folgen – Improvisieren als Zielzustand.« Auch wenn in Lohsdorf viel getanzt wird: Es geht nicht so sehr um das physische Tanzen, sondern eher um »eine Praxis, die einen von innen heraus stärkt«. Philipp schreibt: »In der Regel sind es die Arbeit, der Alltag, das Bequeme, die Sensationssuche oder das Sich-Präsentieren-Wollen, was das stille Herumsitzen im Garten verdrängt.« Wer einen Ort der Muße, Inspiration und Ermutigung sucht, ist im Tanzgut richtig.
Frei durch den Winter schweben Zu guter Letzt führt diese Lesereise ins Allgäu, wo in diesem Jahr die villa damai ihre Pforten geöffnet hat. Angegliedert an die Gemeinschaft Sulzbrunn, ist die Villa das neue Zuhause für das Bildungs- und Entwicklungsjahr für Frieden, Ökologie und Kulturwandel »Project Peace«. Um die 70 Menschen verhalfen im Frühjahr im Rahmen einer Bauzeit dem länger nicht genutzten Gebäude zu einem strahlenden, hellen Innenleben. Mit Lehm verputzte Wände, helle Dielen und eine schöne Küche empfangen jetzt die Gäste. Eine große Sauna und nahegelegene Bäche runden den traumhaften Ort ab. Wie das Tanzgut ist auch dieser Freiraum saisonal offen: Diesen Winter findet das erste Mal ein mehrmonatiger »Winterfreiraum« statt, in dem junge Menschen ihren Bildungsanliegen selbstbestimmt und in Gemeinschaft nachgehen können. Im Sommerhalbjahr ist die Villa den Teilnehmenden von Project Peace vorbehalten, die im Winter ihre Unterwegszeit im Ausland absolvieren. Sophie erzählt von den Winterfreiräumen: »Diese ermöglichen es jungen Menschen, den Winter jenseits eines Modus zu verbringen, in dem sie selbst und ihr Lebensweg linear funktionieren sollen.« Dafür möchte man über die Wintermonate eine friedliche und lebendige Lern- und Lebenskultur ausprobieren. Manches ist noch unklar, zum Beispiel wie der finanzielle Beitrag aussieht, den Gäste zahlen sollen – aber sicher ist, dass es einige Hüter und Hüterinnen geben wird, die die Winterzeit über den Raum für die Gäste und sich selbst halten werden. Die Winterfreiräume könnten so ein schöner Anfang für weitere freie Zeiten und für die Begegnung friedlich gesinnter, inspirierter junger Menschen werden. »Freiräume unterstützen das Lassen von Lebensprozessen, damit diese einen gewaltfreien, heilsamen und kreativen Verlauf nehmen können«, schreibt Sophie zur Bedeutung solcher Orte.
Wer sucht, findet Die hier vorgestellten sind dabei nur eine kleine Auswahl von vielen weiteren Freiräumen, in denen sich junge Menschen intensiver finden können als anderswo. Dabei sind es atmosphärisch, kulturell und politisch recht unterschiedliche Orte – bei manchen steht nachhaltiger Konsum im Vordergrund, bei anderen das Beobachten von Tieren und Wandern in der Natur; das Kollektivhaus ist drogenfrei und vegan, während in Hugoldsdorf sogar in der Küche geraucht wird. Welcher Ort für wen passend erscheint, kann wohl nur durch Intuition und eigene Besuche erschlossen werden. Ich habe meine Bespiele ausgewählt, weil ich zu ihnen eine Verbindung spüre und weil es mir gefällt, dass sie längere Zeiten des Mitlebens in einem besonders offenen Rahmen ermöglichen. Die Sammlung erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Glücklicherweise gibt es darüber hinaus weitere Freiräume verschiedenster Couleur: beispielsweise das Seminarhotel Jonathan am Chiemsee, das explizit zum längeren Dasein und Mitarbeiten einlädt; im Projekt Go&Change bei Würzburg können Menschen mitleben und sich mit ihren psychischen Mustern und ihrer Persönlichkeit auseinandersetzen. Es gibt linke Kulturzentren wie das AZ Mühlheim, das Sozialkraftwerk in Schwäbisch-Gmünd mit seiner Jurte, die einsiedlerische Freie Feldlage Harzgerode sowie viele Bauernhöfe und Klöster, wo junge Menschen einen guten und freilassenden Platz finden können. Die hier porträtierten Orte glänzen durch ihren offenen Charakter, der nicht durch Zweckgebundenheit verwässert wird. Auch wenn die eigentlichen Fragen und Konflikte erst beginnen, wenn man sich auf einen Freiraum einlässt, ist es essenziell, dass junge Menschen von der Existenz solcher Möglichkeiten wissen, die in einen biographischen Seufzer münden können: »Uff – ich kann mich entspannen und meinem ganz persönlichen Weg folgen!« Das darin liegende Potenzial für eine andere, liebevollere Welt ist nicht auszudenken.