Kennen Sie folgende Situation? Sie erzählen von einem Projekt, in dem verschiedene Menschen konstruktiv zusammenwirken und das Ihrer Meinung nach einen Beitrag zu einem gesellschaftlichen Wandel hin zu einem »guten Leben für alle« auf einem begrenzten Planeten leistet. Das Gegenüber erwidert, das sei ja ganz nett, aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein – Transformation müsse an ganz anderen, wirklich wirksamen Hebeln ansetzen. Ich habe diese Situation oft erlebt und kenne die Hilflosigkeit, die in mir aufsteigt, wenn ich im weiteren Gespräch keine guten Argumente formulieren kann. Das neue Buch von Silke Helfrich und David Bollier »Frei, fair und lebendig. Die Macht der Commons« ist voll von solchen guten Argumenten. Commoning bedeutet, »zu teilen beziehungsweise gemeinsam zu nutzen und zugleich dauerhafte soziale Strukturen hervorzubringen, in denen wir kooperieren und Nützliches schaffen können«, erklärt das Buch. Diese aus dem gemeinschaftlichen Tun selbst geschaffenen Strukturen sind eben das Besondere, denn sie funktionieren ganz anders als die kapitalistische Wirtschaft oder die übliche Parteienpolitik. Mal involvieren sie ein Dutzend Menschen, mal Hunderte, mal Tausende, mal sorgen sie für Nahrungsmittelversorgung, mal für Mobilität, mal für Wissensvermittlung. Commons existieren weltweit in allen Lebensbereichen und Größenordnungen. Aber was macht sie so bedeutsam oder gar revolutionär? Silke Helfrich und David Bollier zeigen, dass sich Commoning systematisch beschreiben lässt – nicht als Verfahren oder Methode, sondern als »Mustersprache«. In Anlehnung an den Architekten Christopher Alexander identifizieren sie Muster des Commoning als Lösungsstrategien für bestimmte Probleme oder Herausforderungen, die sich im selbstorganisierten Miteinander immer wieder ergeben. Die Muster sind nicht »ausgedacht«, sondern von der Wirklichkeit gelingender Prozesse abgelesen: Sie finden sich überall, wo Menschen sinnstiftend zusammenwirken und gut mit nicht-menschlichen Lebewesen – bzw. dem, was wir üblicherweise Ressourcen nennen – umgehen. Kein Muster wirkt für sich allein, es bezieht sich immer auf weitere. Eine Mustersprache soll das komplexe, mehrdimensionale Gefüge des »wirklichen Lebens« nicht vereinfachen, sondern gerade dieser Komplexität gerecht werden. Vielleicht wirkten die in »Frei, fair und lebendig« beschriebenen Muster beim Lesen auf mich gerade deshalb so einleuchtend, naheliegend und vertraut. Sie tragen Titel wie »Ohne Zwänge beitragen«, »Gemeinstimmig entscheiden«, »Konflikte beziehungswahrend bearbeiten«, »Gemeinsam erzeugen und nutzen« oder »Wissen großzügig weitergeben«. Zur besseren Übersicht gliedern sie sich in drei Bereiche: die Sphäre des Sozialen, des Institutionellen und des Ökonomischen, aber sie beschreiben jeweils aus einer anderen Perspektive heraus dasselbe Phänomen. Eine umfassende Beschreibung gelingender Prozesse sollte in einer Zeit, in der Gesellschaft zunehmend als dysfunktional wahrgenommen wird, von allen Seiten hoffnungsfroh aufgenommen werden. In unserer heutigen Kultur sind Commoning-Erfahrungen Nebensache, mehr oder weniger unsichtbar, denn alles dreht sich darum, im Sinn einer kapitalistischen Ökonomie erfolgreich zu sein. Diese Kultur basiert auf der Idee vom Individuum, das an allererster Stelle sein Eigentum und seinen Erfolg gegenüber anderen verteidigen will – und dieses Einzelkämpfertum für Freiheit hält. Aus dieser Weltsicht heraus lässt sich Commoning nicht begreifen. Commoners erleben sich in einem pulsierenden »Netz aus Kultur und unzähligen Beziehungsdynamiken, aus dem Neues hervorgeht«, schreiben Silke Helfrich und David Bollier. Immer wieder benennen sie diese »andere« Weltwahrnehmung, in der Freiheit und Verbundenheit nur gemeinsam begriffen werden, und nehmen kein Blatt vor den Mund: Es geht um nichts weniger als einen grundlegenden, kulturellen Paradigmenwechsel. Im letzten Teil des Buchs fragen sie: »Wie kann das Commonsversum größer werden? Kann es unsere Art zu wirtschaften verändern und unsere Kultur transformieren? Ist es möglich, staatliches Handeln und Recht aus der hier skizzierten Perspektive zu denken?« Ja, aber dafür ist es nötig, Grundbausteine der gegenwärtigen Kultur auseinanderzunehmen und neu wieder zusammenzubauen, zum Beispiel unser Verständnis von »Eigentum« in »beziehungshaftes Haben« zu verwandeln. Das geht weit darüber hinaus, lediglich die Umwandlung von Individualeigentum in Gemeinschaftseigentum zu fordern: Es geht um eine Überwindung des Prinzips Eigentum an sich. Ein mitgliedergeführter Supermarkt in New York, das hierzulande entwickelte Mietshäusersyndikat und die Software-Architektur eines »Federated Wiki« dienen als Beispiele, um beziehungshaftes Haben zu illustrieren: Nutzen, pflegen, hüten, gestalten, Verantwortung verteilen, für Langfristigkeit sorgen – all das greift ineinander und hat einen anderen Geschmack und eine andere Logik als Vorgänge in der Welt des Eigentums, das nach derzeitigem Verständnis Verfügungsgewalt Einzelner oder einer Gruppe bedeutet. Silke Helfrich und David Bollier geben keinen Fahrplan vor, wie das Commonsversum wachsen kann – das würde der Commons-Logik ohnehin widersprechen –, aber sie zeigen, wie im Hier und Jetzt Freiräume geschaffen werden und wie Commoners selbstbewusst ihre Stimme erheben können.
Frei, fair und lebendig Die Macht der Commons. Silke Helfrich und David Bollier transcript, 2019 400 Seiten 19,99 Euro ISBN 978-3837645309