»Die Geschichte wirkt noch heute in die Gemeinschaft hinein«
Wie Gemeinschaften mit den materiellen wie immateriellen Altlasten ihrer Orte umgehen.von Luisa Kleine, Thomas Meier, Joos Welteke, Bill Nickl, Agnes Schuster, erschienen in Ausgabe #58/2020
Wer eine Gemeinschaft gründet, braucht Platz. Viele Orte, an denen sich Menschen einfinden, um ein anderes Zusammenleben auszuprobieren, haben eine düstere Geschichte: Kasernen, Lazarette, Tuberkuloseheime, Gefängnisse, Rüstungsproduktion, Zwangsarbeit oder Geheimagentenausbildung – die Liste der immateriellen Altlasten in einem Land wie Deutschland ist lang und vielfältig. Neben die Sorge für die gemauerten, geschweißten und verputzten Behausungen, die beim Einzug einer Gemeinschaft oft in einem sehr schlechten Zustand sind, tritt die Sorge um den Geist der Vergangenheit. Vier Gründungsmitglieder von Gemeinschaften berichten von ihrem Umgang mit dem Vergangenen und davon, wie es ihnen gelang, alten Gemäuern neuen Sinn zu verleihen.
Joos Welteke, Lebensgarten Steyerberg (seit 1985) Als ich 1985 nach Steyerberg kam und die Gemeinschaft »Lebensgarten« mitbegründete, war noch sehr spür- und sichtbar, dass das Gelände 1939 als Arbeitersiedlung für eine Munitionsfabrik im kasernenartigen Stil erbaut worden war. Von 1939 bis 1945 schufteten in der nahegelegenen Pulverfabrik 20 000 Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter. Die Bedingungen waren so schlecht, dass bis Kriegsende 2000 Menschen an Hunger, Krankheiten und Unfällen starben. Nach dem Krieg wurden in der Siedlung zunächst geflüchtete Menschen und ehemalige Zwangsarbeiter untergebracht, dann war dort bis 1977 die britische Armee stationiert – das Gelände und die Architektur waren durch diese wechselvolle Geschichte stark geprägt. So gab es in unserem heutigen Gemeinschaftsgebäude Duschkabinen für die gesamte Siedlung, eine Zentralküche, einen Speisesaal und eine Bühne, die, dem Ideal der Nazis folgend, nach Norden ausgerichtet war. Viele Gebäude befanden sich in schlechtem Zustand. In den Anfängen haben wir einmal versucht, mit einem Trommelritual die Energie des Orts zu verändern, aber die Atmosphäre war so erschlagend, dass alle furchtbar müde wurden. Auf dem angrenzenden gesperrten Areal der einstigen Fabrik befinden sich übrigens noch heute rund 300 leerstehende Gebäude. Besser wurde es dann mit den baulichen Veränderungen, aber auch mit der zunehmenden Verbindung zum Umfeld. Im Jahr 2000 waren wir Teil der Weltausstellung »Expo«, durch deren Förderung wir auch das Zentralgebäude umgestalten konnten. Dafür haben wir die Geschichte des Platzes und die unserer Gemeinschaft für eine Ausstellung gründlich aufgearbeitet. Die Weltausstellung und die Dorfausstellung veränderten unsere Beziehung zur Region. Die Expo-Teilnahme war wie eine Art Reifeprüfung; sie führte dazu, dass wir plötzlich zu einem der Aushängeschilder der Gemeinde wurden. Auch die Kinder hatten plötzlich weniger mit Vorurteilen über »Ökospinner« zu tun. Die Freie Schule und der Waldkindergarten werden heute auch von Menschen aus der Umgebung gern in Anspruch genommen. Weitere Meilensteine der Auseinandersetzung mit unseren Altlasten waren die Errichtung einer Gedenkstätte in Form dreier Stelen auf dem Dorfplatz – für die Geschichte vor und nach 1945 sowie seit der Gründung des Lebensgartens – und das Theaterstück »Ein Stück Leben« anlässlich unseres 30-jährigen Bestehens, in dem wir die Geschichte von Siedlung und Gemeinschaft verarbeitet und vor Publikum aufgeführt haben. Es war befreiend, den Geistern der Vergangenheit auf der Bühne Raum zu geben! Nun sind wir seit 35 Jahren hier und inzwischen so weit, dass wir die gut 60 Gebäude allesamt saniert und gepflegt haben, so dass wir uns jetzt erstmals auch Neubauten zuwenden können, um Wohnraum für die Älteren zu schaffen.
Bill Nickl, Zentrum für experimentelle Lebensgestaltung (ZEGG) (seit 1991) Als ich im Frühjahr 1991 erstmals auf unser Gelände kam, wollte ich sofort wieder weg. Während der Nazizeit war hier ein »Kraft-durch-Freude«-Sportheim, während des Kriegs ein Lazarett und ab Mitte der 1950er Jahre wurde das Gelände als Agentenschule der DDR genutzt. Das Schulungsgelände war militärisch so weit ausgebaut worden, bis es komplett abgeschottet war. Es schien mir, als beträte ich eine Kaserne – der Platz kam mir vollkommen leblos vor. Ich war mir sicher, dass wir mit den damals 80 Menschen hier nicht lange bleiben würden. Als wir dann eingezogen waren, gab es Orte, an die wir nicht gehen wollten – etwa ein Häuschen mitten im Wald, wo sich die Wachmannschaft getroffen hatte, um Karten zu spielen. Inzwischen hat sich die Atmosphäre dort merklich verändert, und wir nutzen das kleine Haus heute als Rückzugsort. Viele Menschen haben durch ganz unterschiedliches Wirken zu dieser Veränderung beigetragen. Zum einen haben wir renoviert, Zäune entfernt, den Platz bepflanzt. Zum anderen passieren jetzt ganz andere Dinge in den Gebäuden – das verändert sie auch. Wir pflegen eine andere Kultur, haben andere Rituale. In unserer Gemeinschaft gibt es einige Menschen, die nach verschiedenen Traditionen schamanisch ausgebildet sind und den Platz energetisch gereinigt haben. Wir haben auch mit Landschaftsheilern durch Rituale und Gesang an Störlinien gearbeitet. Die Veränderung kann man nun wirklich körperlich spüren. Wir haben uns viel mit der Geschichte des Orts auseinandergesetzt. Mittlerweile stehen große Informationstafeln hier, und es gibt auch eine Broschüre, die zusammen mit dem Ortschronisten erstellt wurde. Auch bei unseren Führungen setzten wir uns kritisch sowohl mit der Geschichte des Platzes als auch mit der Geschichte unserer Gemeinschaft auseinander. Es gibt zwar jede Menge Fotos aus der NS-Zeit, jedoch kein einziges aus der Ära der Agentenschule. Die DDR-Zeit aufzuarbeiten, war lange nicht möglich – wir fühlten eine Art Sprachlosigkeit. Die meisten Bewohnerinnen und Bewohner des Zegg kommen aus dem Westen, und wir fangen erst jetzt richtig an, uns tiefer mit diesem herausfordernden Erbe zu beschäftigen.
Agnes Schuster, Gemeinschaft Schloss Tempelhof (seit 2010) Bevor unsere Gemeinschaft 2010 hier ankam, waren Schloss Tempelhof und die dazugehörigen Gebäude 140 Jahre lang im Besitz der Evangelischen Kirche gewesen und als Altenheim, Lehrerakademie und »Kinderbesserungsanstalt« genutzt worden. Wir hatten uns vorgenommen, eine Industrie- und Sozialbrache zum Blühen zu bringen. Nachdem wir den Ort kennengelernt hatten, zögerten wir jedoch noch ein Jahr – nicht, weil wir an der baulichen oder finanziellen Machbarkeit gezweifelt hätten, sondern weil wir uns fragten, ob wir der Energie von Traurigkeit und Verlassenheit des Orts standhalten würden können und wollen. Die Geschichte wirkt noch heute in unsere Gemeinschaft hinein. Tempelhof scheint ein Platz für Kinder zu sein. Bereits in der Gründungsgruppe hatten wir den Wunsch, eine Schule für freie Entfaltung zu schaffen, und inzwischen besuchen rund 80 Kinder (davon die Hälfte von außerhalb) diesen lebendigen Ort. Das Sein mit Kindern wird neu gestaltet. Hierarchische Strukturen haben sich zu einem Zusammenwirken auf Augenhöhe mit Potenzialentfaltung transformiert. Wir haben hier wirklich »Kinderland« geschaffen, und ich habe das Gefühl, dass diese Arbeit und auch die Kooperation mit dem Verein Wellenbrecher e. V., durch den auch heute wieder aus dem Nest gefallene Jugendliche hier sein und betreut werden können, dazu beitragen, den Ort zu heilen. Als wir hier ankamen, hatte der Ort einen zweifelhaften Ruf. Die Menschen aus dem Umland waren mit der Drohung aufgewachsen: »Wenn du nicht brav bist, kommst du zum Tempelhof!« In manche Gebäude wollten wir zuerst gar nicht hineingehen. Dann haben wir versucht, den Ort anders zu beleben, haben viel gesungen und Reinigungsrituale durchgeführt. Mit dem Geomanten Marko Pogačnik haben wir Kosmogramme auf Kupferblechen gestaltet, die heute noch an den Bäumen im Wind schwingen. Heilend wirkte auch, dass bald Menschen zu uns kamen, die hier als Kinder gelebt hatten und nun den alten Erzählungen Gesichter gaben. Neben vielen schrecklichen Geschichten wurde auch Schönes erzählt, etwa von Zivildienstleistenden, die den Ort mitgestaltet hatten – manche von ihnen kommen bis heute immer wieder. Wir haben aber auch materiell viel verändert, die Häuser bunt gestrichen und große Gärten angelegt. Wir haben Beete und Wege zwischen den Häusern und viele Treffpunkte und Sitzgelegenheiten geschaffen, um die Gebäude besser miteinander zu verbinden. Viele von ihnen tragen noch immer ihre alten Namen, weil sie ihnen anhaften. Mittlerweile sind wir gut in der Region angekommen, und Tempelhof ist zu einem Anziehungspunkt geworden. Gleich zu Beginn habe ich mich beim Bürgermeister erkundigt, an welchen Tagen denn früher viele Leute hierhergekommen seien – und auch unseren Einladungen zum Fest am 1. Mai oder zum Tag der offenen Tür folgen stets über tausend Menschen. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich durch die riesigen Maisfelder den Hügel hinunterfahre und dann unsere kleinteilige Landwirtschaft, die Vielfalt und die Lebendigkeit sehe. Da kann ich spüren, dass wir den Platz wirklich gewandelt haben.
Thomas Meier, Schloss Tonndorf (seit 2005) Als ich zum ersten Mal in das Schloss einstieg, fühlte ich mich wie im Dornröschen-Märchen: Das ganze Gebäude war zugewuchert, und der Efeu nahm sogar schon die Zimmer ein. Es gab einen Schäferhund, der das Schloss wohl bewachen sollte – er war aber nahezu blind und taub und konnte uns deshalb nur riechen. Es war, als würde die Natur das Schloss langsam übernehmen, viele Dachziegel waren heruntergefallen, es fehlten die Regenrinnen, auf den Obstwiesen wuchsen viele seltene Pflanzen, und die Vögel nisteten überall. In den Räumen schwang noch viel von der Vornutzung mit. Von 1968 bis 1997 diente das Schloss als Altenheim; wir sahen die Spuren der vielen Betten, die eng beieinander in den Räumen gestanden hatten. Die Türen hatten Luken, durch die die Krankenschwestern früher in die Räume hineingeguckt hatten. Über allem hing noch der Geruch von Formaldehyd aus den dort verbauten Spanplatten. Wir unternahmen mehrere Anläufe, uns mit der Vergangenheit des Schlosses zu beschäftigen, und je länger wir forschten, desto mehr Geschichten tauchten auf: In den 1930er Jahren war hier ein Kinderkurheim und später eine Ausbildungsstätte für Nazi-Spione untergebracht; in den 1950er Jahren war das Schloss eine Tuberkolose-Heilanstalt. Und dann gibt es natürlich noch die vielen Geschichten aus der Feudalzeit, als das Schloss Herrschaftssitz war. Hier wurden Urteile gefällt und Menschen ins Verlies gesperrt – dessen Überreste sich noch heute bestaunen lassen. Im Bauernkrieg wurde die Anlage von Rebellierenden aus dem Tal eingenommen. Nach der Niederschlagung des Bauernaufstands wurde der Tonndorfer Anführer hier eingekerkert und hingerichtet. Heute treffen wir an diesem Ort, der so lange der Herrschaft und Unterdrückung diente, Konsensentscheidungen. Im ersten Frühjahr unserer Ankunft am Platz gab es eine schöne Zeremonie, bei der wir durch die Häuser gingen und die Räume mit Salbei räucherten. Das taten wir auch, um zumindest für einen Moment den muffigen Geruch der langen Jahre des Leerstands zu übertönen, aber auch um zu signalisieren: Wir sind jetzt da! Wir bringen viele Kinder mit, und nun bricht eine neue Zeit an! Das brauchten wir. Und so füllten wir den Ort Schritt für Schritt mit neuem Leben. Mit jedem Kind, das hier geboren wurde, und jedem Quadratmeter Dielenboden, den wir freilegten, veränderte sich auch die Stimmung. Der Ort, an dem während so langer Zeit nur alte Menschen zu Hause gewesen waren, wurde nun von einer Gemeinschaft belebt, die zur Hälfte aus Kindern und Jugendlichen bestand. Anfangs fehlten uns dann sogar die alten Menschen – als müsste der Ort erst einmal wieder in Balance kommen. Mit dem Schloss haben wir auch eine Legende übernommen: Die Geschichte von der »Weißen Frau«, die hier als Geist weiterleben soll: Diese kinderlos gebliebene Gräfin wartete einst auf ihren Mann, der sich an einem Kreuzzug beteiligt hatte. Als dieser nach Hause zurückkehrte,blickte sie ihm erwartungsfroh von den Burgzinnen entgegen, musste dann jedoch mit ansehen, wie er am Fuß des Burgbergs von Räubern überfallen und erschlagen wurde. Entsetzt beugte sie sich zu weit über die Brüstung und fiel in den Burggraben. Man fand ihren Körper nie, doch in den drei darauffolgenden Nächten erschien sie an der Bahre ihres Gatten. Seitdem spukt sie angeblich in Schloss und Umgebung. Ein paar Jahre nach unserem Herzug beschlossen wir, dieser traurigen Geschichte eine positive Wendung zu geben. Bei einem Adventsmarkt beauftragten wir einen Holzbildhauer, die Gräfin lächelnd und mit schwangerem Bauch aus einem Eichenstamm herauszuarbeiten. In ihrem Bauch, auf den sie liebevoll ihre Hände legt, ist so viel Platz, dass dort in manchen Jahren sogar ein Bienenvolk Unterschlupf findet.