Andrea Vetter sprach mit Menschen, die an zwei neuen Gemeinschaftsorten mit alter Bausubstanz ringen und dabei unterschiedlichste Bedürfnisse gegeneinander abwägen müssen.von Andrea Vetter, Julia Jarque Y Jörg, Ines Kramarić, Tobias Michaelis, erschienen in Ausgabe #58/2020
Wenn ein Gemeinschaftsprojekt loslegt, geht es oft erst mal ums Sanieren. Ines und Julia vom Kunstkollektiv »Muerbe u. Droege« aus dem Haus des Wandels sowie Tobias von der Gemeinschaft Freie Feldlage sind gerade dabei, sich mit moderner Bausubstanz von den 1930er bis in die 1990er Jahren anzufreunden. Beide Projekte wurden 2018 gegründet, an beiden Orten sehen sich bislang noch wenige Menschen den Bedürfnissen von viel Materie gegenüber. Und beide folgen keinem vorgefertigten Umbauplan, sondern sowohl Gruppe als auch Gebäude entwickeln sich beständig im Tun. Die Freie Feldlage ist eine Gemeinschaft, die ein hierarchiefreies, ökologisches und tauschlogikfreies Beisammensein anstrebt, mit vielen Gästen und Veranstaltungen auf dem Gelände. Im Haus des Wandels entsteht ein Kulturzentrum, das den inneren und äußeren Wandel für eine postpatriarchale Zeit erprobt. Ein via Bildtelefonie geführtes Gespräch gibt Einblicke ins Erhalten und Sanieren, in notwendige Gruppenprozesse und in wiederkehrende Gedanken ans Abreißen.
Andrea Vetter Schön, dass wir uns hier online zusammengefunden haben. Ich bin ja selber auch am Haus des Wandels beteiligt und freue mich darüber, dass wir uns jetzt einmal mit der Freien Feldlage austauschen – ich dachte schon oft, dass unsere Projekte vielleicht gewisse Gemeinsamkeiten haben. Eine große Frage, die bei diesen riesigen Gebäuden ständig auftaucht, ist ja die, wie wir sie einerseits schönmachen und umgestalten können, wenn andererseits die Häuser ständig an ganz anderen Stellen nach dringender Hilfe schreien. Wie geht ihr damit um? Tobias Michaelis Wir haben ja sehr viele Gebäude hier, die meisten sind auf einem Sanierungsstand aus den 1960er oder 1970er Jahren. Wir haben zum Beispiel bei unserem Schulgebäude immer noch kaputte Fallrohre, das beschädigt natürlich das Haus, aber wir kommen einfach nicht dazu. Bei einem Sturm sind uns kürzlich vier Fenster kaputtgegangen, die haben wir auch noch nicht wieder repariert. Aktuell sind wir meist 10 bis 13 Menschen, die längere Zeit vor Ort sind. Damit ist das Projekt auf Dauer nicht bestreitbar. Gerade sind wir daran, überhaupt hier legal mit mehr Menschen wohnen zu dürfen. Aktuell dürfen wir offiziell nur fünf Bauhütende sein, das ist so eine allgemeine Regelung für stillgelegte Gebäude. Deswegen bauen wir gerade eine neue Brandschutzanlage und einen Löschteich. Julia Jarque Y Jörg Die Dimensionen sind bei 3000 Quadratmetern Nutzfläche und mehr als 60 Zimmern riesig. Bei uns gibt es etwa 230 sanierungsbedürftige Holzfenster, die sind alle doppelflügelig und haben Innen- und Außenflügel – insgesamt 920 Fensterflügel. Ines und ich werden die sicherlich nicht alleine reparieren, dann wären wir ja für die nächsten fünf Jahre mit nichts anderem mehr beschäftigt – das geht nicht. Wir vier, die wir hier dauerhaft wohnen, und noch einmal vier aus der Kerngruppe – das sind die Leute, die das Haus hüten. Wir sind auf jeden Fall auch zu wenige. Das ist manchmal ganz schön anstrengend, wenn man auf seine To-Do-Liste mit den 300 Punkten schaut, und weiß, das ist einfach nicht zu schaffen. TM Wir haben eine Notfall-To-Do-Liste für besonders dringende Fälle. Aber selbst die schaffen wir nicht immer. Eines unserer kleinen Nebengebäude hat seit Jahren einen Dachschaden, und seit acht Wochen steht auf der Notfall-To-Do-Liste, dass dieses Dach notdürftig geflickt werden soll, aber wir kommen einfach nicht dazu. Ines Kramarić So ein Projekt fordert uns immer wieder, private und öffentliche Bedürfnisse miteinander zu vereinbaren. Wir wollen und können ja nicht dauerhaft im Staub auf einer Baustelle wohnen, und trotzdem wollen wir das Haus für möglichst viele Menschen zugänglich machen. Das zwingt uns, ganz eigene Lösungen zu finden. Dabei hilft es bestimmt, mehr Menschen zu sein, so wie ihr in der Freien Feldlage. TM Bedingt. Viele Menschen haben manchmal auch viele Meinungen. IK Kommunikation ist ja eine genauso große Dauerbaustelle wie ein Dachschaden oder der Anschluss für das Schmutzwasser. Genauso wichtig, wie im Winter das Haus zu heizen, ist es für uns, einen guten Kommunikationsfluss zwischen den beteiligten Menschen zu finden. TM Das ist, gerade was Baustellen und Handwerker angeht, oft gar nicht so einfach. Manchmal haben wir in der Gruppe etwas abgesprochen, und dann kommt ein Handwerker und sagt, so, wie du dir das gedacht hast, geht das nicht. Da muss ich dann spontan unabgesprochen eine Entscheidung treffen. Die Reaktion darauf erfahre ich dann erst am Abend, wenn ich im Plenum sitze. Ich wurde aber bislang noch nie für eine Entscheidung, die ich getroffen habe, verurteilt. Bei uns ist es eher ein Problem, dass es zu einer großen Sache aufgebläht wird, wenn zum Beispiel jemand einen Bauwagen aufstellen will. In unserer Gruppe kommt jetzt langsam die Erkenntnis an, dass wir lange viel zu perfektionistisch waren. Jetzt fangen die Leute an, loszulassen und einfach etwas zu machen. JJJ Das ist das Schöne, wenn sich das einpegelt. Wie bei uns mit den Tapeten und den Fenstern. Tapete ab, Tapete dran, oder Fenster mit Lack oder Öl streichen – zwischen uns hat es sich mittlerweile eingependelt, dass verschiedene Lösungen möglich sind. Manchmal ist es schwierig mit den Raumpatinnen und Raumpaten, die hier ein Feriendomizil haben und die diesen Prozess nicht mitgemacht haben. Was ist mit Leuten, die noch nicht so lange dabei sind, weniger Informationen haben und dann paralysiert vor den Aufgaben stehen und sich so fühlen, als dürften sie nichts entscheiden? TM Wir haben gerade das Problem, dass zwei neu Anwachsende nicht genau wissen, wie sie sich einbringen können und was sie machen dürfen. Es gibt hier so viel zu wissen und zu tun, um sich gut einzubringen, und gleichzeitig sind wir in der Kerngruppe total überarbeitet, schaffen es aber nicht, all dieses Wissen weiterzugeben. JJJ Es ist wichtig für die Kerngruppe, nicht zu mürrischen, überforderten Menschen zu werden, die nichts erklären. Wir arbeiten gerade sehr viel an der Frage, wie es eigentlich mit der Sorge um uns selber steht. Welche Baustellen müssen wir vielleicht auch eine Weile seinlassen? TM Als ich im Herbst 2018 das Projekt kennengelernt habe, gab es das große Problem, Arbeitsgäste einzubinden. Die Helfenden fühlten sich verloren, und von uns hatte auch niemand Zeit für sie. Da sind auch Menschen wieder frustriert abgereist. Mittlerweile haben wir ein Patinnensystem, das wir »Buddy-System« nennen; das heißt, dass es für jeden Gast eine Person geben muss, die sich für den Gast während der ganzen Dauer des Aufenthalts zuständig fühlt. AV Wie geht ihr mit diesem Gefühl der Überforderung durch die Gebäude um? Was macht das mit euch? IK Manchmal fragen wir uns, ob wir nicht alles abreißen sollten, um hier ein Gewächshaus, einen Wagenplatz zu haben oder Tinyhouses zu bauen. Mit so einem großen Haus konfrontiert zu sein, führt schon zu der Frage: Wie viel Lebensraum brauchen wir eigentlich? Wäre es nicht sinnvoller, alles abzureißen? Wie wollen wir überhaupt leben? TM Im Scherz war uns in der Freien Feldlage auch schon der Gedanke gekommen, das Hauptgebäude einfach abzureißen, um eine zweite große Wiese zu haben. Alte Gebäude bieten aber auch ein paar Vorteile, etwa dass man an Orten sein kann, an denen Flächennutzungspläne gar keinen Neubau erlauben würden. Und der Denkmalschutz hilft uns auch sehr. Wir haben 165 000 Euro Förderung vom Denkmalschutz bekommen, den wir als Eigenanteil für den Kaufkredit anrechnen konnten. Dadurch konnten wir 100 000 Euro in die Dachsanierung investieren. Jetzt haben wir für die nächsten zwanzig Jahre Ruhe mit den Dächern. JJJ So ein Riesenhaus verortet uns automatisch im System. Wir müssen ans Abwasser angeschlossen sein. Wir reden über ein Blockheizkraftwerk, nicht über einen Grundofen. Wie könnte unser Haus mehr so gestaltet werden, dass einzelne Teile im Haus dezentralisiert werden? Angesichts dessen, wo unsere Zivilisation hinsteuert, müssen wir uns schon fragen, wie wir es schaffen können, autarker zu werden. TM Wir sind schon ziemlich autark, wir haben zum Beispiel eine eigene Kläranlage. Aber die staatlichen Auflagen für ein Projekt dieser Größe kosten viel Geld, dafür mussten wir einen Kredit aufnehmen, und auf einmal sind wir im finanziellen Zugzwang. 450 Euro Grundsteuer müssen wir monatlich aufbringen, eine riesige Brandschutzanlage ist nötig, und so weiter. Unsere Zukunftsvision sind Solaranlagen, aber das beißt sich mit dem Denkmalschutz. Ein neues Haus wäre ein besseres Passivhaus als unseres mit seinen riesigen Fensterflächen. Allerdings funktionieren ja autarke Systeme oft auch besser, wenn sie größer sind. Ein Einfamilienhaus autark zu machen, ist schwieriger. JJJ Eine Mistheizung in den Keller zu packen, ist hier tatsächlich viel einfacher. AV Autarkie hat ja viel mehr mit der Einbindung in das hier und jetzt Naheliegende als mit Abschottung zu tun. Die »Anbindung« an Großsysteme, die Verortung im System, wie du das genannt hast, Julia, ist ja eine Ablösung vom hier und jetzt gegebenen mehr-als-menschlichen Umfeld. »Autarke« Systeme in diesem Sinn sind eher so etwas wie in regionale Kreisläufe eingebundene Kleinsysteme. – Nochmal zurück zu euren Häusern. Warum wollt ihr euch trotz allen Zweifeln immer wieder den Bedürfnissen eurer Gebäude zuwenden? IK Ich glaube, was wir tun, ist eine Zwischennutzung. Wir können nicht absehen, was in Zukunft kommen wird. Wir müssen über Zwischennutzung nochmal ganz anders nachdenken. JJJ Ich würde am liebsten in die Fahrradgarage ziehen. Wenn ich ganz alleine wäre, würde ich vielleicht in einem Teil des Hauses das Wasser abstellen und vollständig ablassen, um ein Gewächshaus daraus zu machen. Aber das Wichtigste ist für mich, in einer Gruppe zu sein, der ich vertrauen kann, in der ich das Potenzial sehe, dass auf diesem Grundstück, in welcher Form auch immer, gemeinsam etwas Schönes und Sinnvolles passiert. TM Ich war lange Zeit kein Fan des Denkmalschutzes. Ich dachte, warum das alte Zeug erhalten? Besser ist es doch, alles abzureißen und neu und ökologisch wieder aufzubauen. Aber andererseits würde ein Abriss so viel Müll erzeugen! Ein altes Fahrrad reparieren wir ja auch und werfen es nicht weg, nur weil die Bremsen kaputt sind. Und unser Haus ist auch wirklich schön; es ist ein Kunstwerk, das erhaltenswert ist. Bei mir gilt ganz stark: Einschränkung erzeugt Kreativität – bei einem Neubau hätte ich keine Ahnung, wo ich anfangen sollte. AV Ja, das kenne ich. Ich kann nicht so besonders gut kochen, aber am besten koche ich mit Resten. Vielen Dank für das interessante Gespräch.
Das Kunstkollektiv »Muerbe u. Droege« sind Ines Kramarić (35) und Julia Jarque Y Jörg (40). Die beiden sind im Herbst 2018 als Pionierinnen ins Haus des Wandels eingezogen und wohnen dort mittlerweile in der zur »Planet Love Residency III« umgebauten Direktorinnenwohnung. Als Künstlerinnen vom Dienst sind sie Gestalterinnen, Gastgeberinnen und Projektmanagerinnen des ganzen Hauses. logotorium.org
Das Haus des Wandels liegt 60 Kilometer östlich von Berlin. Es diente früher als Berufsschulinternat für landwirtschaftliche Berufe. Das Haus umfasst 3000 qm, mehr als 60 Zimmer und wurde in den 1950er Jahren auch von Hilfskräften und Lehrlingen gebaut. 1993 schloss die Schule. Danach gab es verschiedene Misch- und Zwischennutzungen; zuletzt waren 2015/16 etwa 80 geflüchtete Menschen einquartiert. 2018 erwarb der Verein Haus des Wandels e. V. das Gebäude. Es liegt am Rand eines rund 1000 Menschen zählenden Dorfs. Einige Dorfinitiativen, wie das Töpfer- und Nähstübchen oder die Dorfbibliothek, befinden sich mittlerweile ebenfalls im Haus. hausdeswandels.org
Tobias Michaelis (30) lebt seit Februar 2019 in der Freien Feldlage. Er ist Ingenieur für akustische Messtechnik. Mit seiner Freundin Sonja Lintner und seinem Hund Osito wohnt er im Ostflügel des Haupthauses.
Die Häuser der Freien Feldlage Harzgerode wurden als Tuberkulose-Klinik für Kinder in den 1930er Jahren gebaut. Das Kinderkrankenhaus wurde 1998 geschlossen, obwohl seit der Wende nochmals 12 Millionen Mark investiert worden waren, um den Ostflügel zu renovieren. Das Gelände umfasst 21 Hektar Land und acht größere Häuser sowie zahlreiche Nebengebäude. Es stand 20 Jahre lang leer, war aber immer bewacht. Seit fünf Jahren gibt es auf dem Gelände Gemeinschaftsversuche. Im Sommer 2018 kamen die ersten Mitglieder der jetzigen Gruppe an und haben die Genossenschaft aufgebaut, der die Freie Feldlage jetzt gehört. Das Gelände liegt mitten im Wald, 15 Minuten Fußweg von der Kleinstadt Harzgerode entfernt. freiefeldlage.de