Matthias Fersterer sprach mit der Philosophin Annette Schlemm und der Halbinsel-Forscherin Friederike Habermann über utopische Samen, die im Boden des Hier und Jetzt schlummern.von Matthias Fersterer, Friederike Habermann, Annette Schlemm, erschienen in Ausgabe #59/2020
Matthias Fersterer Wie schön, mit euch zu einem Gespräch zusammenzukommen! Heute ist Feiertag – Christi Himmelfahrt für manche, Vatertag oder Herrentag für andere. Das ist auf eine Weise durchaus passend: Als sich die von Manchen herbeigesehnte Utopie des »Reichs Gottes auf Erden« vor 2000 Jahren nicht schnell verwirklichte, fingen die »Kirchenväter« in den darauffolgenden Jahrhunderten an, eine hierarchische, patriarchale Institution zu etablieren, deren missionarischer Eifer viel Leid über die Menschheit gebracht hat. Wenn wir über das gute Leben für alle sprechen, dann kommen wir nicht umhin, auch Kritik an patriarchalen Herrschaftsstrukturen zu üben – und da wären wir wieder beim Vater- oder Herrentag. Annette, du hast geschrieben, »eine andere Welt ist not-wendig«. Friederike, du erforschst »Halbinseln des guten Lebens«. – Was bedeutet »Utopie« für euch?
Friederike Habermann Mein Buch heißt bewusst »Halbinseln gegen den Strom«, weil ich mich damit gegen die Vorstellung wende, es gäbe »Inseln« des Richtigen im Falschen. Ich glaube, dass Versuche, das Richtige im Falschen zu leben, zu falschen Entwicklungen geführt haben, weil Menschen sich dann in historischen Situationen abschotten und sich nicht bewusst sind, welche Herrschaftsstrukturen sie dadurch ausblenden. Es gibt Anfang der 1970er Jahre gegründete Kommunen, die extrem patriarchale Strukturen herausbildeten, weil sie sich vor der aufkommenden feministischen Bewegung abgeschottet haben.
Meine positive Vorstellung von »Utopien« ist dadurch überschattet, dass diese oft Verlängerungen des eigenen Alltagsverstands mit sich bringen, in denen nicht gesehen wird, welche Ungerechtigkeiten und eigenen Privilegien es gibt. In meinem Buch »Ecommony« habe ich mit der Kapitelstruktur »Gestern – Heute – Morgen – Übermorgen« gearbeitet. Unter anderem befasse ich mich darin mit William Morris’ 1890 erschienenem Roman »Kunde von Nirgendwo« – eine an und für sich schöne, tauschlogikfreie Utopie, in der die Frauen jedoch nur Kaffee kochen. Das sehe ich stellvertretend für einseitige Utopien. Es ist gut, sich auszumalen, wie es sein könnte – aber nicht zu fest, ansonsten geht es schief. Deshalb würde ich eher fragen: Welche Leitlinien haben wir hier und heute, an denen wir uns entlangbewegen können, damit es ins Richtige geht? Das ist etwas anderes, als fertige Utopien zu entwerfen.
Annette Schlemm Meine Beziehung zur Utopie beginnt bei der Science Fiction – von Kindheit an las ich begeistert utopische Romane. Das war im Sozialismus. Natürlich steckten in diesen Geschichten auch Technikgläubigkeit und die Erkundung des Weltraums – jedoch nie als Eroberung, und Außerirdische wurden darin nicht als Bedrohung, sondern als Möglichkeit, die eigene Perspektive zu erweitern, dargestellt. Nach der Wende habe ich alles, was »Science Fiction« hieß, gelesen und bald gemerkt, dass die westliche Tradition ganz anders ist.
In meiner Arbeit reflektiere ich, warum bestimmte Utopien zu bestimmten Zeiten entstanden sind. Sie spiegeln vor allem auch die Probleme der jeweiligen Gegenwart. Utopisten wie Thomas Morus (1478–1535) und Tommaso Campanella (1568–1639) lebten in Zeiten frühbürgerlicher Unruhe, deshalb haben sie Ordnungsutopien wie »Utopia« oder den »Sonnenstaat« verfasst. Aus heutiger Sicht erscheinen diese grauselig, vor der Folie der damaligen Geschichte werden sie jedoch nachvollziehbar. Mein eigenes gesellschaftsutopisches Denken beziehe ich stark aus der Arbeit Ernst Blochs, der zwischen »abstrakten« und »konkreten Utopien« unterschied. Bei letzteren wird das Gewünschte nicht einfach so gesetzt, sondern in Beziehung zur Veränderung von Bedingungen gesehen. Das beinhaltet das »Menschlichwerden« der Welt, wozu auch eine Allianz mit der Natur gehört. Mich beschäftigen dabei vor allem folgende Fragen: Welcher Bedingungen bedarf es, um Utopien konkret zu machen? Und unter welchen historischen Bedingungen ist es für uns heute gegeben, utopisch zu denken?
MF Bei Ernst Blochs »konkreter Utopie«, die aufgreift, was hier und jetzt samenhaft angelegt, aber noch nicht manifest ist, musste ich an das denken, was Ursula K. Le Guin »Yin-Utopien« nannte (siehe Seite 21) – diese gründen ebenfalls im Hier und Jetzt. Bei der Vorstellung einer guten Zukunft geht es also ganz wesentlich um die Gegenwart. Wie ist es dann möglich, vom Hier und Jetzt ausgehend, gutes Leben zu visionieren, ohne der gewachsenen Welt gewaltsam Pläne vom Reißbrett überzustülpen? Und wie kann es gelingen, das gute Leben im Hier und Jetzt nicht für utopistische Fernziele preiszugeben, die irgendwann erreicht oder auch nicht erreicht werden?
FH Vielleicht treffen sich da die Utopien und die Halbinseln gegen den Strom. Ausgehend von dem, was, aus der eigenen historischen Situation heraus betrachtet, richtig schief läuft – aus meiner Sicht die Markt- und Tauschlogik –, etwas zu leben, das der eigenen Utopie zugrundeliegt: Das wäre das, was ich behelfsmäßig »Prinzipien« genannt habe. Dabei versuche ich, mögliche Zukunftsvisionen herauszuarbeiten und zu zeigen, was beispielsweise in den Care- und Sorgetätigkeiten und in Ansätzen alternativen Wirtschaftens bereits angelegt ist und gestärkt werden könnte, um konkrete Utopien sicht- und gangbar zu machen.
AS In der DDR war mir auch klar, dass sich vieles ändern muss, damit wir den Kommunismus bekämen, den wir uns gewünscht hatten. In den 1980er Jahren war ich noch relativ optimistisch – 1990 hatte sich das dann erledigt. Die folgenden fünfzehn Jahre waren mit dem Versuch ausgefüllt – entgegen den vielen Menschen um mich herum, die sich mit Bananen und Mallorcareisen zufriedengaben –, an meinem Bild, dass es auch anders gehen könnte, festzuhalten. Relativ unabhängig davon hatte ich mich seit den 1980er Jahren mit den sogenannten globalen Problemen der Menschheit befasst – damals hoffte ich noch, dass die nicht-kapitalistische, also die sozialistische Gesellschaftsordnung nebenbei schon auch diese Probleme würde lösen können.
Ich komme aus einem landwirtschaftlich geprägten Umfeld, kann melken und ausmisten – ich kenne die Härte dieser Arbeit und war froh, diese hinter mir lassen zu können. Inzwischen habe ich erkannt, dass ein Großteil der im Marxismus so hochgehaltenen Arbeitsproduktivitätssteigerung vor allem darauf beruhte, dass lebendige Arbeit durch fossile Energie ersetzt wurde – so kann es natürlich nicht weitergehen! Diesen Punkt muss ich also von meiner früheren Utopie abziehen. Spätestens seit 2005 schob sich alles, was ich über die Klimaproblematik wusste, als Hürde vor mein optimistisches Zukunftsbild. Mit dem G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 und der gescheiterten UN-Klimakonferenz von Kopenhagen 2009 konnte ich es dann nicht mehr ertragen, dass so viele Menschen so zukunftsoptimistisch sind! In meinem 2013 erschienenen Büchlein »Schönwetter-Utopien im Crashtest« habe ich dazu aufgefordert, auch unsere Utopien im Licht der sich verändernden klimatischen Bedingungen zu überdenken. Unsere Utopien entsprangen privilegierten Standorten, und wir dachten, dass diese Utopien dann schon auch den Menschen im Rest der Welt helfen würden, ohne wirklich hingeschaut zu haben, was dort bereits passiert. Die Commonsforscherin Silke Helfrich bestärkte mich dann weiter darin, auch in den Traditionen nicht-europäischer Kulturen nach Mustern und Lösungsansätzen für die gegenwärtigen Herausforderungen zu suchen.
MF Ich möchte an die globale Perspektive und an den Optimismus anknüpfen: Der diesjährige Welterschöpfungstag (»Earth Overshoot Day«) für Deutschland – also jener Tag, an dem wir die Ressourcen, die uns rechnerisch für ein Jahr zur Verfügung stehen, verbraucht haben – wäre vermutlich auf den 3. Mai gefallen, wenn nicht die Coronakrise gekommen wäre und wir dadurch etwas weniger Ressourcen verbraucht und CO2 ausgestoßen hätten. Global gesehen, vernutzt die Menschheit gegenwärtig Ressourcen, die nicht einer Erde, sondern 1,75 Erden entsprechen – in Deutschland sind es 3,2 Erden und in den USA sogar 5 Erden. Wenn ich das einmal wirklich an mich heranlasse, ist das doch schier unfassbar!
Nun gibt es eine interessante Studie, die dem Großteil der Menschheit eine »unrealistischer Optimus« genannte Form von Verdrängung und Selbstüberschätzung bescheinigt: Wenn wir mit solchen erschreckenden Fakten konfrontiert werden, neigen wir mehrheitlich dazu, diese auszublenden und weiterzumachen wie bisher. Evolutionär mag das seinen Sinn gehabt haben – heute hat es fatale Auswirkungen. Wobei, wie Václav Havel so schön sagte, Optimismus nicht dasselbe wie Hoffnung ist: Optimismus ist die Überzeugung, dass etwas schon gut ausgehen werde, Hoffnung die Gewissheit, dass etwas Sinn ergibt – egal, wie es ausgeht. Wenn wir nun gutes Leben visionieren, wie können wir es da schaffen, mit den Füßen auf dem Boden zu bleiben und wohlgegründete Hoffnung zu hegen?
FH Wenn ich die Wahrscheinlichkeiten »realistisch« betrachte, dann ist es wohl tatsächlich leichter, mir das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus auszumalen. Aber was wäre die Konsequenz – auf dem Sofa sitzenzubleiben?! Ein Porträt über mich in der Zeitschrift »Oxi« war einmal betitelt: »Mit dem Sieb Wasser schöpfen« – wenn ich nichts anderes als ein Sieb habe, dann muss ich eben damit Wasser schöpfen, wenn ich etwas retten will. Gleichzeitig bin ich schon seit vierzig Jahren politisch aktiv und finde, es hat sich vieles zum Besseren gewendet. Sicherlich gibt es auch Gegenbewegungen wie Pegida oder die rechte Szene allgemein – doch es gibt vieles, was mir Hoffnung macht: Das feministische Bewusstsein ist gewachsen, weiße Privilegien werden zunehmend reflektiert, die Mitwelt gilt vielen Menschen nicht mehr nur als Ressource, und vielfach wird achtsamer miteinander umgegangen.
Ich bin ja im Westen aufgewachsen – was ich, anders als du, Annette, interessanterweise nicht eigens betonen musste, weil ich mich damit mehr in dem bewege, was als »das Normale« gilt. Doch wir alle sind damit aufgewachsen, dass wir nicht davon ausgehen konnten, den Kalten Krieg zu überleben. Immer wieder gab es Situationen, in denen die bereits in Position gebrachten Raketen erst im letzten Moment gestoppt wurden, weil ein Alarm sich als Fehlalarm erwies. Am 9. November 1983 etwa wäre es beinahe zum Atomkrieg gekommen – die Sowjetunion musste entscheiden, ob es sich um ein NATO-Manöver oder um einen Angriff handelte. Anhand meines Kalenders habe ich rekonstruiert, dass ich an diesem Tag bei zwei Friedens-Events dabei war. Ich glaube, dass wir einen Einfluss auf dieses Weltgeschehen hatten, auch wenn dieser nicht greifbar war! Als soziale Bewegung unterschätzen wir häufig unseren Einfluss. Nachdem wir das überlebt haben, ist alles Weitere für mich eine Kür. Das ist auch ein Grund, warum ich hoffnungsvoll bin.
AS Die Vorstellung, die ich früher von Zukunft hatte, glich einer exponentiellen Aufwärtskurve: Sozialismus, Kommunismus und dann vielleicht noch die Ressourcen für eine friedliche Weltraumfahrt. Inzwischen sehe ich die Zukunft eher als Parabel, von deren Scheitelpunkt aus es durch Verteilungskämpfe und Klimakriege erst einmal nur steil abwärts gehen kann. Die Träume, dass wir auf direktem und geradem Weg zu einer besseren Welt gelangen können, sind für mich ausgeträumt! Dort bleibe ich aber nicht stehen: Ich glaube, dass es nach dieser Talfahrt im Sinn des guten Lebens wieder bergauf gehen wird. In Zeiten von Pegida und »Widerstand 2020« führt der Weg eben erst einmal ins Tal hinunter. Das ist aber kein Plädoyer dafür, sich auf dem Sofa sitzend auszuruhen, sondern sich stattdessen dafür einzusetzen, dass es nach der Talfahrt wieder bergauf geht. Und ich denke, dass es eine wichtige Aufgabe ist, die Talfahrt abzuflachen und ihr so viel Solidarität und Zivilisiertheit wie möglich abzuringen. Das ist es, was mich motiviert.
Der Punkt, den wir jenseits des Tals erreicht haben werden, ist ein ganz anderer als der, zu dem die einstige Aufwärtskurve führte – vor allem, weil die Zerstörung der Biosphäre so weit vorangeschritten ist: Wenn ich mir hier ums Dorf herum die Äcker anschaue, stelle ich fest, dass diese für lange Zeit ruiniert sind. Auch eine biologische Landwirtschaft muss erst einmal ins Tal hinunter, in dem viel mehr menschliche Arbeitskraft erforderlich sein wird, um die Böden zu rekultivieren. Die Menschen werden dann nicht mehr so einfach je nach Neigung Astronomie oder Philosophie studieren, sondern wieder auf den Äckern kriechen …
Eine ähnliche Kurve habe ich übrigens 2010 in der zweiten Ausgabe von Oya in Johannes Heimraths Artikel über die Post-Kollaps-Gesellschaft gesehen. Diese Perspektive ist es, die mich an Oya interessiert – eine weitere Zeitschrift über ökologischen Landbau, die nur davon erzählt, wie toll alles ist, hätte ich schnell wieder beiseite gelegt!
FH Annette, dein erstes Bild der Aufwärtskurve hat mir vor Augen geführt, wie unterschiedlich unsere Hintergründe sind: Ich hatte dieses Bild nie! Immer wieder treffe ich auf Menschen, die solchen Bildern anhingen, und wenn ihnen dann dämmert, dass diese nicht eintreffen werden, meinen sie, anderen Leuten ihre Negativität aufdrücken zu müssen!
Da ich noch nicht einmal aus dieser Berg-Tal-Perspektive komme, sondern mit einer Mutter aufwuchs, die mir ausführlich vom Zweiten Weltkrieg erzählte und spätestens seit 1972 davon, wie wir die Erde zerstören, bin ich immer davon ausgegangen, dass wir uns bereits im Tal befinden. Auf dieser Grundlage das Hoffnungsvolle zu suchen – wie du es beschrieben hast, Matthias –, das ist genau das, was ich seit den 1970er Jahren tue. Ich bin dann so was von genervt, wenn mir jemand sagt: »Ach übrigens, es geht aber nicht immer nur vorwärts.« – Natürlich nicht! Es macht mich echt aggro, wenn Leute, die solchen Trugbildern anhingen, mir ihre Erschütterung vor den Kopf knallen! Ich lande zwar auch immer wieder bei der Notwendigkeit, mich mit der Kritik des Gegebenen abzugeben – wenn wir uns jedoch nur mit dem Negativen beschäftigen, ist das Negative auch das, was bei den Menschen hängenbleibt. Bei vielen kritischen Linken kommt das Positive zu kurz, und deshalb erkennen die Menschen nicht, wo es hingehen kann. Anders ist das in der Commons-Bewegung oder bei Oya. Wo immer es möglich ist, versuche ich, mich aufs Positive zu konzentrieren.
AS Friederike, bitte nimm es mir nicht übel, dass ich die Leute runterziehe! Für mich ist das wirklich ein wichtiger Entwicklungsschritt. Auch mein ganzes Leben ist letztlich ein Stemmen gegen das Negative, deshalb befasse ich mich auch intensiv mit Utopien. Allerdings kam ich an einen Punkt, an dem mir bewusst wurde, dass ich erst einmal ent-täuscht werden muss, um dann wieder hoffen zu können. Die Hoffnung, die durch so eine Enttäuschung hindurchgegangen ist, ist nichts Fertiges, aber darin steckt dann auch wieder Überzeugungskraft. Es ist wichtig, die Herausforderungen klar zu benennen, anstatt immer nur die schöne neue Welt zu malen – was du ja nicht tust, Friederike. Ich finde ich es tatsächlich sehr schade, dass es außer Joanna Macy, der Begründerin der Tiefenökologie, nur ganz wenige gibt, die sich mit dieser Art von Enttäuschung, Trauer und Verzweiflung auseinandersetzen. Auch Klimaforscher berichten davon, dass sie sich mit ihren Ängsten alleingelassen fühlen.
MF Unsere Herbstausgabe wird übrigens genau diesem Umgang mit dem Scheitern und dem Trauern über Weltzerstörung gewidmet sein. Das angesprochene »Tal« ist eine Metapher, die für mich gar nicht negativ besetzt ist, sondern zum Grundverständnis von Oya gehört. Dass es einen Ausweg aus dem Wahn ewigen Wachstums gibt, ist für mich bereits Ausdruck von Hoffnung. Dieser Weg kann jedoch keine lineare Fortschreibung des Bestehenden sein! Das ist fast schon eine Binsenweisheit, die aber möglicherweise noch nicht überall angekommen ist.
Wäre es zu platt, wenn ich euch nun fragte, wie eine im Hier und Jetzt gegründete Maximalvision eines guten Lebens für die Zeit in zwanzig Jahren aussehen könnte?
AS Hier bei uns im Dorf gibt es einen großen, derzeit leerstehenden Hof: In zwanzig Jahren werden dort Menschen aus Weltgegenden leben, in denen es klimatisch unerträglich geworden ist, und unsere Dorfgemeinschaft wird sich bis dahin so entwickelt haben, dass sie mit diesen Menschen richtig gut zusammenleben und auf der nächsten Kirmes deren Lieder mitsingen und deren Tänze mittanzen können wird. – Das ist allerdings schon sehr utopisch!
FH Mit »in zwanzig Jahren« kann ich wenig anfangen. Meine Frage wäre eher: Was ist meine utopische Vorstellung davon, was Menschen jetzt aus der Corona-Krise mitnehmen? In meiner Vision werden sie erkannt haben, dass die Marktlogik keinen Sinn ergibt, weil Atemmasken und Lebensmittel nicht dort ankommen, wo die Bedürfnisse sind, und es stattdessen darum geht, dass alle ein gutes Auskommen haben, das nicht am deutschen Pass festgemacht wird oder an den deutschen Grenzen endet. Anfangen können wir mit einer auf alle Lebensbereiche ausgeweiteten Solidarität – mit einem »Grundauskommen«, das Wohnen, Bildung, Gesundheit usw. einschließt, den Erwerbszwang zurückdrängt und unsere Lebenszeit befreit. Dazu wirklicher Klimaschutz. Meine Utopie ist, dass wir jetzt, in diesem Moment, maximal lernen. In meinem Blog www.ansteckendsolidarisch.de versuche ich, diese Elemente von Solidarität sichtbar zu machen und zu stärken – und damit zeige ich auch Handlungsoptionen im Hier und Jetzt auf.
MF Damit wären wir wieder in der Gegenwart angekommen: der einzigen Zeit, die wir aktiv gestalten können. Habt ganz herzlichen Dank für diesen weiten denkerischen Bogen – lasst ihn uns an anderer Stelle weiterführen! //
Friederike Habermann (52) ist Ökonomin und Historikerin, Aktivistin und Autorin. Seit 40 Jahren ist sie in sozialen Bewegungen aktiv und erforscht Halbinseln des guten Lebens jenseits von Markt- und Tauschlogik. www.ansteckendsolidarisch.de
Annette Schlemm (59) ist Physikerin und Philosophin. Beschäftigt ist sie im Projekt »Die Gesellschaft nach dem Geld« an der Universität Bonn. Sie lebt in einem Dorf an der Saale, wo sie eine halböffentliche Bibliothek und »Quasselbude« betreibt. www.philosophenstuebchen.wordpress.com