Gutes Leben entsteht nicht an abstrakten Nicht-Orten, sondern an einer reichen Vielfalt konkreter Orte, die hier und jetzt beherzt gehütet werden.
Von Anfang an wussten wir: Wenn wir in dieser Ausgabe einen kritischen Blick auf herbeigewünschte Idealzustände, Hoffnungen auf bessere Welten und abstrakte Nicht-Orte werfen, dann wollen wir zugleich auch die große Vielfalt konkreter Orte, an denen tagtäglich gutes Leben stattfindet, sichtbar machen. Die Corona-Krise hat unsere ursprünglichen Pläne von Reportagereisen an solche Orte hinfällig werden lassen und uns stattdessen zum folgenden »Mosaik des guten Lebens« inspiriert. Dazu haben wir den Hüterinnen und Hütern solcher Orte vier kurze Fragen gestellt: Wer seid ihr? Was tut ihr, um gutes Leben hier und heute konkret werden zu lassen? Auf welche (inneren wie äußeren) Widerstände stoßt ihr dabei? Welche Möglichkeiten der Mitwirkung und Unterstützung gibt es bei euch? Aus den Antworten sind die achtzehn kleinen Texte auf den nachfolgenden Seiten entstanden, in denen die Hütenden selbst zu Wort kommen. Wie ein Ausschnitt aus einem viel größeren Mosaik geben die hier zu einem bunten Flecken zusammengesetzten, jeweils ganz eigen-artigen Steinchen einen Eindruck von der Vielfalt an Orten, Projekten und Initiativen, die es nicht »besser« als andere machen wollen, sondern schlicht und einfach so gut, wie es ihnen möglich ist. Sie streben nicht nach einem besseren Leben im Irgendwann, sondern setzen sich hier und heute für ein gutes Leben im umfassenden Sinn ein – indem sie das jetzt Naheliegende tun. In Ausgabe 31 haben wir solche Orte »Tatorte«, in Ausgabe 57 »Weltmittelpunkte« genannt – doch auch ganz unabhängig vom Schwerpunktthema einer jeweiligen Ausgabe war das Sichtbarmachen solchen regional verwurzelten Engagements von Anfang an ein wesentlicher Aspekt von Oya. Bei all dem ist mitgedacht, dass niemand perfekt ist und dass an einem Ort die einen und an einem anderen Ort die anderen Aspekte des guten Lebens sichtbar werden – Perfektion ist kein Maßstab, wenn es darum geht, Neuland zu erkunden. Trotz oder gerade wegen ihrer örtlichen Verwurzelung und ihres praktisch zupackenden Tätigseins lassen die Ortshütenden in den folgenden Mosaiksteinchen – wenn auch oft nur zwischen den Zeilen – ein visionäres Element durchschimmern. Bei der Arbeit an dieser Ausgabe haben wir das »Vorauslieben« genannt – einen Menschen weht der Hauch einer Ahnung an, die wispert: »Alles könnte anders sein. Dein Ort birgt dieses Potenzial – spürst du nicht, wie er gemeint ist?« Manche können vor ihrem inneren Auge bereits in voller Blüte sehen, was sich in solchen Anflügen dessen, was da kommen mag, erst keimhaft ausdrückt; andere sehen nichts als ein Stück Ödland, ein halbverfallenes Dorf, eine amtlich verwaltete Grünfläche, eine tiefe Krise, einen hoffnungslosen Fall oder eine Kiste (ohne Schaf). Die Kraft der Vision macht es uns möglich, das zu sehen, was da und doch nicht da ist – was als Potenzialität vorhanden, aber noch nicht manifest geworden ist: das, was der Philosoph Ernst Bloch als »konkrete Utopie« bezeichnet hat. Aus den folgenden Ortsbeschreibungen sprechen Qualitäten wie grenzenlose Solidarität, nährende Landfürsorge, gleichwürdiges Miteinander verschiedenartiger menschlicher wie mehr-als-menschlicher Beteiligter; dort werden Räume des Gemeinschaffens aufgebaut und bewahrt, tauschlogikfreies Wirtschaften erprobt oder Kenntnisse und Fertigkeiten frei weitergegeben. Diese Aspekte guten Lebens, die im Mainstream der gegenwärtigen, durch Wachstumszwang und Weltvernutzung getriebenen Gesellschaften westlicher Prägung kaum oder nur als Randerscheinungen vorkommen, werden durch die Hüterinnen und Hüter der jeweiligen Orte vorausgelebt und vorausgeliebt. Diese samenhaften Qualitäten des »Zukünftigen«, die hier und jetzt in den Boden des Gegenwärtigen gepflanzt werden, damit sie zu so weithin sichtbaren Gewächsen wie Birken- oder Buchenbäumen heranreifen können, sind etwas völlig anderes als die utopischen Versprechungen einer »schönen neuen Welt«, deren neongrelle, Aufmerksamkeit heischende Strahlung unseren Blick auf die Gegenwart trübt; dieser Blick klärt sich, sobald wir wahrnehmen, was hier und jetzt am jeweiligen Ort wachsen, sprießen, konkret werden kann – und vielleicht sogar möchte. Wir wollen das Mosaik des guten Lebens weiter wachsen lassen und werden auch künftig Weltmittelpunkte sichtbar machen. Über Hinweise auf weitere Orte, an denen gutes Leben konkret wird und die gerne in Oya vorgestellt werden möchten, freuen wir uns: mitdenken@oya-online.de.