Drei Frauen, die seit vielen Jahren in sozialen und ökologischen Bewegungen aktiv sind, erzählten Anja Marwege von ihrem Blick auf die Zukunft.
Anja Marwege Vor zehn Jahren haben wir uns durch die Ausbildung zu »Zukunftspilotinnen« kennengelernt. Als Teil dieses Netzwerks erlebe ich, wie sich Menschen in umweltpolitischen Gremien, in Verbänden, Initiativen, Naturschutzorganisationen und Medien miteinander verbinden, sich über Institutionsgrenzen hinweg zu aktuellen Themen austauschen und ausgetretene Pfade des Konkurrenzdenkens verlassen. Wie der Name schon sagt, ist der Fokus dabei zukunftsorientiert. Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die uns Veronika Bennholdt-Thomsen einmal von einer Forschungsreise aus Bolivien mitbrachte (siehe auch Seite 26). Eine Angehörige einer indigenen Gemeinschaft hatte ihr erzählt: »Ihr jagt immer einer guten Zukunft hinterher. Bei uns ist das anders! Wir versuchen, ein gutes Leben in der Gegenwart zu führen, um später eine gute Vergangenheit zu haben, an der wir und unsere Kinder uns dann erfreuen können.« Astrid Goltz Das ist ein völlig anderer Blickwinkel, den wir in unseren westlichen, europäischen Gesellschaften nicht gewohnt sind. Es täte sicher gut, einmal nicht auf die Zukunft zu gucken. Jutta Sundermann »Fridays for Future« hat gezeigt, wie existenziell die Frage nach unserer Zukunft angesichts des Klimawandels ist. Davon würde ich nicht ablassen. Aber es lohnt sich, zu hinterfragen, wo Zukunftsbilder selbstzerstörerisch sind, auf individueller oder kollektiver Ebene. Ich erinnere mich daran, wie wir vor zwanzig Jahren Attac in Deutschland gegründet und damals das zapatistische Motto »Fragend gehen wir voran« übernommen haben. Das ist immer noch eine sehr gute Leitidee. In diesem Sinn können wir das Zusammenleben anders gestalten, aber dieses ist deshalb noch lange nicht aus einem Guss, sondern immer wieder durch verschiedene ermutigende Bilder, gelebte Alternativen und Inseln für ein anderes Herangehen an die Welt motiviert. Einen konstruktiven Umgang mit dem Umstand, dass es selbst in einer kleinen Gruppe große Unterschiede geben kann, habe ich jüngst bei Fridays for Future erlebt. AG Als progressive Bewegung brauchen wir positive Zukunftsvisionen, weil wir sonst in reiner Abwehr verharren. Wenn wir Rassismus und Nationalismus verhindern wollen, brauchen wir auch eine Vision davon, was wir eigentlich wollen. Ich frage mich aber auch, wie wir jetzt überhaupt über Utopien sprechen können, wo so viel Dystopisches am Horizont heraufzieht! Wenn in den nächsten zehn Jahren nicht viel passiert, um den Klimawandel zu verlangsamen, dann wird es sehr viel schwieriger werden, auf dem Planeten zu überleben – es wird dann massive soziale Ungleichheiten geben, und viele Menschen und andere Geschöpfe werden sterben! AM Dieses Realwerden, das du beschreibst, Astrid, empfinde ich als etwas Wesentliches. Aus einstigen Dystopien und Utopien sind heute reale Lebenswelten geworden. Sie machen nicht nur uns das Leben schwer und treiben nicht nur uns auf die Straße. AG Trauen wir uns überhaupt noch, unsere Utopien auszusprechen? Wenn wir den Fokus auf die Zukunft nicht hätten, könnten wir auch nicht über den Klimawandel als Bedrohung sprechen, um gesellschaftliche Änderungen herbeizuführen. Ich kann doch nicht sagen: »Jetzt kümmere ich mich nur noch um meinen Garten und erfreue mich daran!« AM Warum bist du dir sicher, dass dieses »Sich um den Garten kümmern« nicht ausreicht? Oder anders und euch alle gefragt: Warum engagiert ihr euch für gesellschaftliche Veränderung – sei es im Parlament oder in sozialen Bewegungen? AG Ich arbeite im Bundestag zum Thema »grüne Gentechnik«, weil dort die Entscheidungen darüber getroffen werden, ob wir in Zukunft gentechnisch veränderte Pflanzen auf Äckern und Tellern haben werden oder ob eine Wende zur ökologischen und krisenfesten Pflanzenzüchtung gelingt. Wenn ich mich nur um meinen Garten kümmere, aber von meinem Nachbarn Pollen gentechnisch veränderter Pflanzen herüberwehen, dann bin auch ich davon betroffen. Wir sind auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Wenn wir Regeln ändern, Strukturen beibehalten oder Rechte erkämpfen wollen, dann reicht es nicht aus, nur für uns selbst zu sorgen. Julia Verlinden Der politische Rahmen sowie die gesellschaftlichen und ökonomischen Regeln entscheiden darüber, ob die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen weiterhin als günstiger gilt – oder ob sich nachhaltiges Wirtschaften lohnt. Inter- und intragenerationelle Gerechtigkeit, gesunde Luft, gesunde Böden und sauberes Wasser können wir nur erneuern und bewahren, wenn wir uns gemeinsam entsprechende Regeln geben. Viele Ziele wurden auf internationaler Ebene bereits verabredet, etwa das Pariser Klimaabkommen 2015. Umso wichtiger ist es, dass Deutschland und die EU nun endlich den politischen Rahmen setzen, damit diese Ziele auch erreicht werden können. JS Ich bin seit 30 Jahren in sozialen Bewegungen aktiv, weil mir die Einmischung von Menschen außerhalb der Parlamente als besonders wichtiges Moment gesellschaftlicher Auseinandersetzungen erscheint. Wir hatten in den letzten Jahrzehnten alle möglichen Farbkombinationen in Bundes- und Landesregierungen und es war keine dabei, bei der ich die Hände vertrauensvoll in den Schoß hätte legen können. Kreative Protestaktionen, ziviler Ungehorsam und von Zeit zu Zeit Massenmobilisierungen tragen dazu bei, dass Veränderungen vorankommen. Sie spitzen zu, sie konfrontieren die Verantwortlichen, sie können Diskurse vom Kopf auf die Füße stellen. Ich bin erst seit kurzem Mitarbeiterin bei Campact. Diese professionelle Organisation der Zivilgesellschaft hat große Stärken, es gibt jedoch auch viele Aufgaben sozialer Bewegungen, die sie nicht übernehmen kann. Deshalb brauchen wir Engagement auf allen Ebenen! AM Noch mal zurück: Was wäre, wenn sich alle verantwortungsvoll um ihre Gärten kümmerten? JS Wenn sie nur noch das täten, wäre das tatsächlich furchtbar. Aber Gärtnern bedeutet ja nicht nur Rückzug ins Private: Es gibt auch progressive Projekte, wie internationale Gärten und Stadtteilgärten – die Menschen, die eine neue Beziehung zu Nahrungsmitteln entwickeln – und sich auch aktiv in Zukunftsfragen unserer Ernährung und Landwirtschaft einmischen, zusammenbringen. AG Ein gesamtgesellschaftliches Aussteigertum, das ist eine schöne »Jetzt-Utopie«! Aber ich vermute, dass nur kleine Teile der Gesellschaft dafür empfänglich sind. Wenn wir allerdings Strukturen wie etwa ein bedingungsloses Grundeinkommen hätten, die es den Menschen viel stärker ermöglichen würden, ihr persönliches gutes Leben hier und jetzt zu verwirklichen, dann könnten die Gärten wachsen. Wir brauchen die Verbindung des Lokalen und des Globalen, des Eigenen und des größeren Ganzen. AM Wie tragt ihr heute mit eurem politischen Handeln dazu bei, Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein gutes Leben im Hier und Jetzt ermöglichen? Wie gelingt es euch, durch euren Aktivismus Orte zu stärken, in denen eine andere Welt vorausgelebt wird? JV Mir ist es ein Anliegen, bei politischen Debatten und Entscheidungen darauf hinzuwirken, dass Rahmenbedingungen geschaffen und bewahrt werden, damit Menschen selbst die Stärkung erneuerbarer Energien organisieren können, etwa indem sie Bürgerenergiegenossenschaften gründen oder Formen von Gemeinwohlökonomie praktizieren. Aber so, wie die politischen Mehrheiten derzeit entscheiden, werden diese Rahmenbedingungen für eine Energiewende von unten mit jedem Jahr schlechter. Als Zukunftspilotin verstehe ich mich auch als Netzwerkerin und versuche, proaktiv mit Menschen, die in Bewegungen tätig sind oder für Umweltverbände arbeiten, in Kontakt zu bleiben – auch, um politische Zeitfenster zu nutzen. Durch meine Mitarbeit im Parlament fällt es mir leichter, einzuschätzen, wann die Zivilgesellschaft politische Entscheidungen beeinflussen kann. Ich versuche, mir genügend Freiräume zu schaffen, um neben meinem parlamentarischen Alltag mitzubekommen, welche Debatten außerhalb des Parlaments geführt werden. JS Mir ist es wichtig, für Spielregeln, die uns als Gemeinschaft auf diesem einen Planeten ein möglichst gutes und faires Miteinander ermöglichen, zu streiten – und dabei für mich selbst und die Menschen um mich herum eine Lebensform zu finden, um immer wieder dazulernen zu können. Beides habe ich derzeit ganz gut miteinander kombiniert. Für mich ist es sehr wichtig, die gesellschaftliche Diskussion ohne Unterlass voranzubringen. Das ist ein Streiten für gutes Leben, für das, was wir hier und jetzt tun können – vielleicht auch für utopische Ideen. Ich habe Träume und Visionen, für die ich streiten möchte, und ich mache mich immer wieder mit anderen auf die Suche danach – wir nennen das »das Narrativ«: Wofür wollen wir Menschen gewinnen, mitzustreiten, und was ist es, das uns verbindet? AG Ähnlich wie Jutta versuche ich, politisch zu wirken und mein persönliches Umfeld zu gestalten. Für Letzteres habe ich vor mittlerweile acht Jahren ein Wohnprojekt gegründet (Seite 45). Wir sind damals alle aus unseren Wohngemeinschaften in Berlin ins Havelland gezogen, haben ein Haus in Strohlehmbauweise gebaut und ein altes, heruntergekommenes Haus ökologisch saniert. Als Gemeinschaft wissen wir jetzt nicht nur viel über Häuser, sondern auch über eine Art und Weise des Zusammenlebens, bei der wir einander weitreichend unterstützen. Ich bin zum Beispiel stolz darauf, dass wir unsere Entscheidungen im Plenum besprechen und im Konsens treffen – nicht per Mehrheitsentscheid, wie ich es bei meiner Arbeit im Bundestag erlebe. Wir können hier im Wohnprojekt viele Dinge im Alltag anders machen und wir entwickeln konkrete Vorstellungen davon, wie ein Leben in Gemeinschaft aussehen kann. AM Wie gelingt ein wirksamer, mitfühlender Aktivismus, bei dem das eigene Wohlergehen und das der Mitwelt nicht auf der Strecke bleiben? JV Im letzten Jahr habe ich zum ersten Mal aus der Bewegung wahrgenommen – insbesondere bei »Extinction Rebellion«, bei »Ende Gelände« und bei »Fridays for Future« –, wie die Gruppen sich ganz explizit Gedanken über Regeneration und die eigenen Gefühle machen und sich um einander kümmern. Das Projekt »Zähne putzen« wurde von Menschen ins Leben gerufen, die kaum zwanzig Jahre alt sind, damit Aktivistinnen und Aktivisten für eine Weile in Ökodörfern einkehren und Kraft sammeln können. Die Initiatoren spüren, wie wichtig es ist, mit unseren Kräften langfristig haushalten zu können. JS Ja, und einiges davon gibt es auch schon seit Längerem. Als ich in der Anti-Atom-Bewegung, etwa bei »x-tausendmalquer«, unterwegs war, war Selbstfürsorge auch ein Thema. Wir sagten damals, wir wollen unser Miteinander so leben, wie wir uns auch eine lebenswerte Welt vorstellen. Wir haben uns gefragt, wie wir gegenüber anderen auftreten: bei Kontakten mit der Polizei, aber auch mit Menschen, die zum Teil eine ganz andere Sicht auf Atomkraft hatten. Kürzlich habe ich mich mit Menschen getroffen, die das »Zähne putzen« initiiert haben. Das hat mir gut gefallen. Gleichzeitig erlebe ich manchmal, dass Gruppen, die »Regeneration« großschreiben, oft Probleme damit haben, miteinander klare Ziele und Strategien festzulegen. AM Wie übt ihr euch darin, über das Bestehende hinaus zu denken und alte Pfade zu verlassen? JV Mir fällt es oft schwer, mir in meinem Alltag den dafür notwendigen Freiraum zu nehmen. Deswegen setze ich Reflexionsräume immer wieder extra auf meine Tagesordnung. Dabei frage ich mich: Finden die Bewegung oder die Menschen, die mit uns an gesellschaftlicher Veränderung arbeiten, ausreichend Räume, um über Pfadabhängigkeiten nachzudenken? Welche Unterstützung brauchen sie, um das zu tun? JS Ich suche gezielt Begegnungen mit andersdenkenden Menschen. Das hilft mir auch, eigene Routinen und Ansichten auf den Prüfstand zu stellen. Diese Gespräche verstärken manche Gewissheiten, andere bringen sie ins Wanken. Mir gefällt es, das bewusst auszuhalten. AM Habt herzlichen Dank für diesen Austausch, und lasst uns weiter im Gespräch bleiben! //
Julia Verlinden (41) ist seit 2013 Mitglied des Deutschen Bundestags für Bündnis 90/Die Grünen. Die Lüneburger Umweltwissenschaftlerin ist Mitglied einer regionalen Gemüsegenossenschaft sowie mehrerer Energiegenossenschaften und war neun Jahre lang als Kommunalpolitikerin tätig. www.julia-verlinden.de
Jutta Sundermann (49) lebt in einer Hofgemeinschaft mit 26 Menschen, mit Tieren und Garten in Niedersachsen. Als Bewegungscampaignerin bei Campact begleitet sie »Fridays for Future«-Gruppen und die Geflüchteten-Initiative »Leave no one behind«. 2000 hat sie Attac Deutschland mitbegründet. www.campact.de
Astrid Goltz (36) ist Referentin für Biotechnologie und Bioethik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Mit Jutta Sundermann und anderen initiierte sie das Bündnis »Aktion Agrar«. Sie ist Mitbegründerin und Bewohnende des Projekts »wurzeln und wirken«. www.wurzelnundwirken.de
Training gefällig? Mit dem Trainingsprogramm »Zukunftspiloten« bildet die Bewegungsakademie mit Sitz in Verden an der Aller seit fast 20 Jahren Jahren junge, umweltengagierte Menschen aus. Zu den Säulen der einjährigen Ausbildung gehören Kampagnenarbeit, Moderationstechniken, kollegiale Beratung und Selbstfürsorge. Seit diesem Jahr läuft das Programm unter dem Namen »Kurs Z«. www.kurs-z.de