Bildung

»Nicht jede Schulkritik stellt die Bedürfnisse junger Menschen in den Vordergrund«

Dorothée Krämer unterhielt sich mit ­Immanuel Zirkler über verschwörungsideo­logisch ­motivierte Schulkritik und wie die Freilern-Szene mit dieser umgeht.
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© JURI WOLF

In der Bildungsrubrik von Oya versuchen wir, Menschen und Ideen zu Wort kommen zu lassen, die aktiv an positiven Veränderungen des Bildungssystems arbeiten. In diesen gelebten Alternativen schwingt die Kritik an bestehenden Umständen häufig implizit mit.

    Die vergangenen Monate mit der Erfahrung der Bestimmungen rund um die Corona-Pandemie haben viel explizite Kritik und Widerspruch hervorgerufen – gegen das Gesundheits- und Wirtschaftssystem, die Politik, aber auch das Bildungssystem. Vieles davon war und ist wichtige und berechtigte Kritik, die auf generelle Missstände und systemische Ungerechtigkeiten hingewiesen hat. Kritik an bestehenden Umstände zu üben, ist ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu einer Transformation.

    Zugleich aber wurden – wieder einmal – auch Stimmen laut, die von einer großen Weltverschwörung sprachen, von ­bösen Mächten und manipulativen Kräften. In diesen Gedanken­konstrukten werden Schulen oft als Orte betrachtet, an denen ­Indoktrinierung und Manipulation stattfänden.

    Im Rahmen dieser Rubrik erscheint es uns als wichtig, die Tatsache anzunehmen, dass nicht alle, die Kritik am Bildungssystem üben, die gleiche Art von Wandel im Blick haben. Nicht immer ist das Ziel eine Gesellschaft, in der die Gleichheit und Würde der Menschen – aller Menschen – tatsächlich anerkannt sind und unterschiedliche Bedürfnisse ihren Platz finden können. Manchmal werden auch in der Kritik am Bildungssystem Feindbilder kreiert, Unwahrheiten behauptet und Narrative und Sprache von Gruppen verwendet, die menschenverachtende Ideologien vertreten. Kritik am Bildungssystem wird immer wieder auch im Kontext von Medien ­geäußert, die verschwörungsideologischen Stimmen eine Plattform bieten (siehe auch Seite 6).

    Wir versuchen, unsere eigene Sprache und unser Verhalten auf die Wiederholung diskriminierender Einstellungen und Handlungen zu überprüfen. Das ist ein steter Prozess, der Selbstkritik und Wachsamkeit erfordert. Zugleich gilt es, aktiv damit umzugehen, wenn im Namen einer Kritik am Bildungssystem verschwörungsideologische und menschenverachtende Gedanken verbreitet werden.

    Immanuel Zirkler beschäftigt sich schon lange mit diesen Aspekten. Selbstbestimmtes Lernen ohne Schule begleitet ihn seit seiner Kindheit. Heute ist er Herausgeber der Zeitschrift »Die Freilerner« und Initiator der Erklärung zum Recht auf Selbstbestimmung in der Bildung. In der Facebook-Gruppe »Freilernen in Deutschland«, die er gemeinsam mit anderen moderiert, setzt er sich immer wieder klar und transparent mit Kritik am Bildungssystem, die verschwörungsideologische Ansichten mittransportiert, auseinander. Wir haben ihn zum Gespräch gebeten, um mehr über seine Beobachtungen, Erfahrungen und Gedanken zu diesem Thema zu hören.

   

Immanuel, du engagierst dich für die Möglichkeiten des Freilernens und bemühst dich zugleich darum, dass der Begriff »Freilernen« nicht von menschenverachtenden oder anderen bedenklichen Bewegungen gekapert wird. In welchem Zusammenhang stehen deiner Wahrnehmung nach differenzierte Kritik am Schulsystem auf der einen Seite und Lebensentwürfe, die eben nicht demokratische Grundwerte und die Freiheit und Gleichheit aller Menschen anerkennen, auf der anderen Seite?

 Schule kann aus sehr verschiedenen Richtungen heraus hinterfragt und kritisiert werden. Ein klassisches Beispiel ist das religiös motivierte Homeschooling aus zumeist christlich-fundamentalistischen Kreisen – also von Menschen, die ihre Kinder nicht zur Schule schicken wollen, weil sie dort mit der ­Evolutionstheorie in Berührung kämen oder mit anderem Wissen, das sich nicht mit der Bibel vereinbaren lässt. Auch in ­völkischen Zusammenhängen finden sich Argumente gegen Schule, weil sie dort als Orte der Manipulation und Indoktrinierung mit humanistischen und demokratischen Werten ange­sehen wird.

Gegenwärtig spielen vor allem Verschwörungserzählungen eine große Rolle. Woran erkennt man Kritik, die aus dieser Perspektive heraus geäußert wird?

Verschwörungsideologische Kritik kommt zunächst oft harmlos daher. Aber es werden bestimmte Muster bedient, Verdacht wird angedeutet, ohne explizit ausgedrückt zu werden. Es wird von manipulativen und bösen Kräften gesprochen, die angeblich einen gezielten Plan verfolgen. Es wird zwischen »denen«, nämlich den Mächtigen mit dem geheimen Plan, und »uns«, den Unterdrückten, die manipuliert werden sollen, unterschieden. Bei dieser Art von Aussagen geht es dann nicht mehr darum, Zusammenhänge oder Menschen zu verstehen und Bedürfnissen gerecht zu werden. Stattdessen wird ein Feind konstruiert, der überwunden werden müsse, damit es »uns« wieder besser gehen könne. Die Welt ist dann nicht mehr ein komplexes Gebilde, zu dem wir als Menschen alle unseren Teil beitragen, sondern ein Spielball böser Mächte. Diese Verschwörungserzählungen knüpfen teilweise direkt, wenn auch nicht unbedingt bewusst, an antisemitische Mythen und Ideologien an. Mit einer ethischen Basis, die auf der Würde jedes Menschen aufbaut, hat das nichts zu tun.

Wie stehst du als Teil der Freilern-Gemeinschaft dazu, wenn Menschen mit einem solchen ideologischen Hintergrund die Schulpflicht ablehnen und Kritik am Bildungssystem üben?

 Bei dem, was wir als Freilernen verstehen, steht die Frage im Mittelpunkt, was die Bedürfnisse des jungen Menschen sind. Wie kann er oder sie gut darin unterstützt werden, diesen Bedürfnissen nachzukommen? Wenn jemand von der großen Weltverschwörung und dem bösen Schulsystem überzeugt ist, dann geht es selten um die Bedürfnisse von jungen Menschen, sondern um die Ängste der Eltern. Darin ähneln sich fundamental-christliche Perspektiven und jene, die böse Mächte am Werk sehen. Frei­lernen steht für die Orientierung am jungen Menschen und seinen oder ihren Bedürfnissen. Wenn Eltern aus ihren eigenen  Ängsten heraus ihre Kinder isolieren und nicht in die Schule schicken wollen, dann werden die Bedürfnisse der Kinder ebenso verletzt wie bei einer alternativlosen Durchsetzung der Schulpflicht. Das hat nichts mit Freilernen zu tun.

Wie kann diesen Tendenzen entgegengewirkt werden?

Die Tatsache, dass Freilernen in Deutschland illegal ist, führt häufig zu einem Verlust des Vertrauens in den Staat bei denjenigen jungen Menschen und ihren Familien, die aus guten Gründen nicht zur Schule gehen wollen oder können. Wenn der Staat ­legale Alternativen zur Schulpflicht schüfe, würde dies das Vertrauen in staatliche Institutionen stärken, einer Radikalisierung durch Kriminalisierung des Freilernens entgegenwirken und Möglichkeiten eröffnen, die Verletzung der Bedürfnisse junger Menschen zu vermeiden. Familien, in denen die Eltern gegen die Bedürfnisse der jungen Menschen handeln, könnte von außen besser geholfen werden, wenn der Zwang, sich verstecken zu müssen, entfiele.

Beobachtest du eine Zunahme von Verschwörungserzählungen in der Freilern-Szene? 

Verschwörungserzählungen sind kein Nischenphänomen, das nur in bestimmten Szenen auftritt. Aktuell erleben wir ja, dass solche Erzählungen in ganz verschiedenen Zusammenhängen weiterverbreitet werden. Es betrifft einen sicherlich anders, wenn es Menschen sind, die man persönlich kennt. Aber es wäre zu leicht, zu sagen: »Das sind immer die anderen, mein Freundeskreis und meine Szene sind nicht anfällig dafür.« Niemand ist gefeit vor Pauschalisierungen und einfachen Feindbildern. In persönlichen Krisen und Unsicherheiten werden wir anfälliger dafür. Verschwörungsideologien bieten dann leichte und schnelle Sicherheiten. Wenn wir mit allzu einfachen Erzählungen, mit klaren Feindbildern und manipulativen Kräften konfrontiert werden, sollten wir dies als Gelegenheit nutzen, um unsere eigene Art der Kritik zu überprüfen und aufmerksam zu bleiben, ob wir es uns nicht auch manchmal zu leicht machen.

Sind Verschwörungsideologien also kein spezifisches Thema der Freilern-Szene?

 Nein. Die organisierte Freilern-Szene ist weit von solchen Erzählungen entfernt. In der Regel sind es einzelne Menschen, die undifferenzierte oder verschwörungsideologische Kritik üben und mit ihren Thesen viel Raum einnehmen. Ihnen wollen wir in der Freilern-Szene keine zusätzliche Plattform bieten. Deswegen ist Abgrenzung hier wichtig. Im Januar haben wir die »Erklärung zum Recht auf Selbstbestimmung in der Bildung« initiiert. Darin distanzieren wir uns explizit von »der Ideologie der Staatsleugner (sogenannte ›Reichsbürger‹), von nationalistisch oder völkisch geprägter Esoterik und von Rassismus, Nationalismus und Antisemitismus sowie religiösem Fundamentalismus in jeglicher Form«. Wir verstehen das Recht auf Selbstbestimmung in der Bildung als ein Recht junger Menschen – nicht als ein Recht ihrer Eltern – und als einen integralen Bestandteil der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Diese Erklärung wurde von vielen Akteuren in der freien Bildungsszene unterzeichnet. //

   

Die Website zur Erklärung zum Recht auf Selbstbestimmung in der Bildung ist hier verfügbar: https://erklaerung-selbstbestimmte-bildung.de


Mehr übers Freilernen erfahren
Die Zeitschrift »die freilerner« berichtet vierteljährlich über Themen rund um selbstbestimmtes Leben und Lernen. ­www.freilerner.de



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