Seit Jahrzehnten führt Geseko von Lüpke mit der Tiefenökologin und Systemforscherin Joanna Macy einen Dialog über gesellschaftliche Krisen und tiefgreifenden Wandel.von Geseko von Lüpke, Joanna Macy, erschienen in Ausgabe #60/2020
Geseko von Lüpke: Joanna, wie schätzt du den Zustand unserer heutigen krisenhaften Welt ein? Joanna Macy: Wir erleben die letzten Jahre eines industriellen Wachstumssystems, das auf einer ständigen Ausbeutung der Rohstoffe und immer mehr Abfall basiert und das die lebenserhaltenden Systeme dieses Planeten für menschliche wie nicht-menschliche Wesen zerstört. Unabhängig davon, was wir an diesem Punkt dagegen tun, ist es sicher, dass künftige Generationen dazu verdammt sein werden, in einer schwer geschädigten Umwelt zu leben. Darauf reagieren viele Menschen mit Angst. Diese äußert sich entweder durch Panik oder irrationales Verhalten. Die soziale Hysterie wächst und äußert sich in religiösem Fundamentalismus, in Nationalismus und Frauenfeindlichkeit. Manche reagieren wieder anders auf die Angst, nämlich auf eine oberflächliche Art und Weise, die ganz eng damit zusammenhängt, dass sie sich angesichts der politischen und sozialen Problemen wie gelähmt fühlen. Sie lenken sich mit flacher Unterhaltung ab, die von einer milliardenschweren Medienindustrie angeboten wird. Und eigentlich bedeutet das: Sie machen dicht! Ich glaube, dass von all den Gefahren, die uns drohen – sei es der Klimawandel, die Umweltverschmutzung oder das Artensterben – keine Gefahr so groß ist wie unsere Verdrängung, denn mit ihr passiert all das unkontrolliert. Selbstorganisierende Systeme – ob es nun eine Gemeinde, eine Nation oder ein Planet ist – korrigieren Fehlentwicklungen durch Rückkopplung. Jedes System, das seine Rückkopplung abblockt, begeht Suizid. Jedes System, das sich weigert, die Konsequenzen seines Handelns zu sehen, ist suizidal.
Wie kommt es zu dieser gefährlichen Verdrängung? Wir glauben, so zerbrechlich und klein zu sein, dass es uns in Stücke reißen würde, wenn wir uns erlaubten, unsere Gefühle über den Zustand der Welt anzuschauen. Wir fürchten eine tiefe Depression oder Lähmung. Tatsächlich ist das Gegenteil richtig: Wenn wir unsere Gefühle aussprechen, merken wir, dass wir nicht isoliert sind, sondern dass dieser Schmerz weit über das kleine Ego hinausgeht und Konsequenzen hat, die jenseits unserer individuellen Bedürfnisse und Wünsche liegen. Wir erfahren dann nämlich eine Art von größerer Identität. Wenn wir den Schmerz, den wir für die Welt fühlen, unterdrücken, dann isoliert uns das. Wenn wir ihn akzeptieren, anerkennen und darüber sprechen, dann wird er zum lebendigen Zeugnis unserer Verbundenheit mit allem Lebendigen. Und er befreit unsere Hilfsbereitschaft. Ich bin zu der Erkenntnis gekommen, dass unser Schmerz über den Zustand der Welt und unsere Liebe für die Welt untrennbar miteinander verbunden sind. Das sind nur zwei Seiten derselben Medaille.
Wir erleben die unterschiedlichsten Krisenphänomene auf der ökonomischen, sozialen und ökologischen Ebene. Sind das verschiedene Krisen oder nur Symptome einer einzigen Problematik? Die Gefahren, die uns drohen, und das Leid der Menschen auf diesem Planeten sind Ausdruck davon, dass die herkömmliche Art, die Welt wahrzunehmen und zu verstehen, vor dem Bankrott steht. Diese Einsicht ermöglicht uns aber gleichzeitig, uns für ein sehr viel größeres Verständnis des Lebens zu öffnen. Der Kern dieser neuen Sichtweise liegt darin, die Welt in einem größeren lebendigen Kontext wahrzunehmen: Unsere Stellung in der Welt verändert sich grundlegend, wenn wir sie als lebendiges System und uns selbst als Teil eines im weitesten Sinn lebendigen Erdkörpers verstehen. Diese für immer mehr Menschen selbstverständliche Perspektive hat dramatische Folgen für die Art unserer Beziehung zur Welt, für unsere Kreativität, für unsere Lebensqualität sowie für unser inneres und kollektives Wachstum.
Wie gehen wir damit um, dass diese Perspektive in ökonomischen und politischen Entscheidungen bislang nicht vertreten ist? Viele Menschen fühlen einen zunehmenden Verlust von Kontroll- und Planungsvermögen; damit scheinen sich unsere Zukunftshorizonte zu verkürzen. Zugleich wirken wir mit unserem Tun immer weiter in die Zukunft hinein. Wenn wir uns auf eine andere Zukunft ausrichten, steht dann unsere Vorstellung von »Zukunft« insgesamt zur Disposition? Tatsächlich ist unser Zeithorizont im Vergleich zu dem unserer Vorfahren sehr klein geworden. Frühere Generationen haben ihre Existenz viel mehr auf jene ausgerichtet, die nach ihnen kamen. Oftmals haben sie noch nicht einmal die Fertigstellung jener religiösen und kulturellen Bauwerke erleben können, die sie für die nächsten Generationen errichteten. Diese Abgetrenntheit von der Tiefe der Zeit ist ein Merkmal unserer industriellen Wachstumsgesellschaft und bleibt nicht ohne Folgen. Einerseits trennt sie uns psychologisch von Vergangenheit und Zukunft ab und isoliert uns damit. Andererseits hat dieser Prozess – so wie unsere Wirtschaft Wachstum in Quartalen misst und unsere Technologie in Nanosekunden taktet – eine enorme Beschleunigung zur Folge. Also passieren da zwei Dinge zur gleichen Zeit: Die Schrumpfung unserer Zeithorizonte und die Beschleunigung unserer Zeiterfahrung. Damit wird die Erfahrung von Zeit immer mehr fragmentiert, und wir sind wie in der Gegenwart eingesponnen.
Was passiert mit uns in diesem Kokon, der sich da als Bild fast aufdrängt? Er nimmt uns das Gefühl, ein Teil größerer universeller Zyklen in Raum und Zeit zu sein. Er isoliert uns und vermittelt uns den Eindruck, keinen Einfluss zu haben. Er wirkt also psychologisch und spirituell als ein Gefühl der Unfähigkeit und Abgetrenntheit. Das wiederum führt dazu, dass wir im Alltag bereit sind, für ein wenig mehr Profit und ein bisschen mehr Geld im Portemonnaie das zu verbrauchen, was eigentlich künftigen Generationen gehört. Dass wir so mit der Zukunft umgehen, hätten unsere Vorfahrinnen und Vorfahren für geisteskrank gehalten. Insofern ist unsere Wahrnehmung von Zeit tatsächlich ein integraler Teil der Zerstörung der Welt. Aber ich glaube, dass es durchaus möglich ist, zu einem viel größeren Verständnis von Zeit und Zukunft zurückzufinden, zu einer Art »Tiefenzeit«.
Was verstehst du darunter? Durch die Paläontologie, die Geologie und die Astrophysik sind wir heute in der Lage, viel weiter in die Vergangenheit zu blicken als je zuvor. Wir können bis zum Anfang der Raum-Zeit zurückgehen, zum Moment des Urknalls. In diesem riesengroßen Zeitrahmen eines sich in evolutionärer Bewegung immer weiter entfaltenden Universums ist unser kleines Leben ein winziger Teil. Sinn ergibt diese kurze individuelle Existenz nur, wenn wir sie als Geste innerhalb der großen Bewegung oder als Ton in einer viel größeren Sinfonie verstehen. Wenn wir diesen Sprung aus unserem engen Zeitkäfig schaffen, dann erleben wir eine psychologische wie spirituelle Erweiterung. Wir befreien uns vom frustrierenden Selbstbild, nur Eintagsfliegen zu sein, und begreifen uns als Teil einer sich entwickelnden Sinfonie. Aber es ist nicht nur ein psychologisches Moment, vielmehr stößt uns diese Einsicht auch in unsere Verantwortung, denn dann wird unser individuelles Leben ein integraler Bestandteil der Heilung dieser Welt. Außerdem hören wir dann auf, »Leben« nur auf unsere Existenz zu beschränken, sondern erkennen es als einen sich über Jahrmillionen entfaltenden Tanz. Wir erfahren also eine wesentliche Verschiebung des Schwerpunkts unserer Aufmerksamkeit: Will ich mich nur als kleines, abgetrenntes Individuum erleben? Oder will ich mich als Teil größerer Prozesse ausdehnen? Ich glaube, wir haben die Möglichkeit, aus dieser Beschränkung herauszutreten und wieder in die Tiefe der Zeit einzutreten.
Verändert dieser Perspektivwechsel etwas an unserer Bereitschaft, eine andere Zukunft zu erschaffen? Ich glaube schon. Unseren Kindern sagen wir immer wieder, sie sollten sich »entsprechend ihrem Alter« verhalten. Wenn wir das mal auf uns selbst anwenden, dann können wir uns als Teil eines planetaren Lebensstroms begreifen, der viereinhalb Milliarden Jahre alt ist – vielleicht sogar als jüngsten Ausdruck eines kosmischen Evolutionsprozesses, der vierzehn oder fünfzehn Milliarden Jahre währt. Wenn wir also für die Bewahrung des Lebens eintreten, handeln wir als Teil dieser tiefen Zeit. Wenn wir uns in einem Urwald, der sich über Jahrzehntausende zu einem komplexen Ökosystem entwickelt hat, Bulldozern und Kettensägen entgegenstellen, dann tun wir das nicht mehr für unser kleines Ego oder persönliches Interesse. Wir handeln dann vielmehr im Auftrag dieses Lebens selbst. Das gibt unserem Handeln eine ganz andere Würde. Das gibt uns Autorität. Deshalb ist dieser Zugang zur Tiefe der Zeit so wichtig. Da geht es nicht um eine poetische Metapher, sondern um das Wiedergewinnen von Integrität.
Trotzdem handeln wir doch weiterhin in der Gegenwart aus unserem beschränkten Verständnis von Zukunft. Können wir überhaupt für künftige Generationen handeln? Davon bin ich überzeugt. Es ist ein moralischer Akt unserer Vorstellungskraft, sieben Generationen nach vorne zu denken, uns in die Wesen der Zukunft hineinzuversetzen und von dort aus auf unsere Gegenwart zurückzuschauen. Was sehe ich? Was will ich sehen? Wie wirkt unsere Gegenwart aus der Perspektive der Zukunft? Wenn man diesen geistigen Sprung in eine unbekannte Zukunft einmal macht, dann befreit man sich von Begrenzungen, alten Überzeugungen und Annahmen. Nehmen wir nur einmal unseren Umgang mit Atommüll oder die Gentechnik als Beispiel: Diese Techniken wirken ungeheuer tief in die Zukunft hinein, was wir übersehen, wenn wir uns nicht mit der Zukunft verbinden. Dann treffen wir solche Entscheidungen in Eile und unter Zeitdruck und kreieren Folgen bis in alle Ewigkeit. Wenn wir aber die Perspektive wechseln und aus der Zukunft in die Gegenwart blicken, dann erkennen wir die Gefahren und Herausforderungen, vor denen wir stehen, besser. Dann empfinden wir Mitgefühl für das, was wir zu leisten haben, ja, mehr noch, wir ahnen die Dankbarkeit jener, für die wir heute handeln! Es ist gar nicht so schwer, die Präsenz künftiger Generationen in uns zu spüren …
Wie soll das gehen? Die künftigen Wesen sind jetzt hier – und zwar nicht nur in unserer Fantasie. Die Radiologin und Trägerin des alternativen Nobelpreises Rosalie Bertell hat einmal gesagt: »Jedes Lebewesen, das jemals leben wird, ist heute schon hier. Es ist in unseren Samen und Eierstöcken angelegt und entsteht aus uns. Die Zukunft liegt jetzt in uns!« Das ist weit mehr als nur eine gedankliche Konstruktion. Die Zukunft liegt in uns und entsteht aus unseren Handlungen. Sie entfaltet sich durch uns, und sie ist damit gegenwärtig. Das stellt unsere gängige Vorstellung von Raum-Zeit ein Stück weit auf den Kopf. Es ist ein intellektuelles und moralisches Abenteuer, sich dieser Erfahrung auszusetzen.
Welche Möglichkeiten haben wir, diese Erfahrung zu machen? Ich arbeite in Gruppen beispielsweise immer wieder so, dass ich die Menschen auffordere, kraft ihrer Imagination in die Zukunft zu gehen. »Stell dir vor«, sage ich, »du lebst hundert oder zweihundert Jahre in der Zukunft. Du brauchst dir keine Mühe zu geben, dir vorzustellen, wie man dann lebt. Aber du weißt, dass deine kulturelle Erinnerung zum Beginn des 21. Jahrhunderts zurückreicht. Und nun stelle dir vor, du schaust aus den Augen dieses künftigen Wesens zurück auf unsere Zeit. Du willst diesem Urahnen, den du da jetzt siehst, etwas mitteilen …« Und dann nehmen sie sich Stift und Block und schreiben einen Brief aus der Zukunft an sich selbst. Das kann man auch für sich alleine machen – es ist erstaunlich, zu wie viel Mitgefühl und Einsicht das führt!
Wie werden diese Wesen der Zukunft auf uns zurückschauen? Wenn künftige Generationen auf den Beginn des 21. Jahrhunderts zurückblicken, werden sie wahrscheinlich von der »Zeit des großen Wandels« sprechen. Denn jetzt, in dieser Zeit, muss der Wandel von industriellen Wachstumsgesellschaften hin zu Gesellschaften gelingen, die das Leben langfristig erhalten. Das ist eine enorme Veränderung. Sie geschieht gerade, und wenn diese Veränderung nicht weitergeht, wird das Leben wohl keine dauerhafte Perspektive haben, weil unser vorherrschender Lebensstil dem widerspricht. Wenn künftige Wesen also zurückblicken, werden sie es mit Respekt tun, mit Mitgefühl und Dankbarkeit für das, was wir in der »Zeit des großen Wandels« getan haben, gegenwärtig tun und künftig getan haben werden.
Wir scheinen unsere Aufmerksamkeit vor allem auf die Zerstörung der Welt zu richten. Wo findet dieser »große Wandel« denn heute schon statt? Ich beobachte die Anzeichen für diesen Wandel auf drei verschieden Ebenen, von denen jede äußerst wichtig ist. Am besten sichtbar ist die Ebene der Aktionen, die dazu beitragen, die Zerstörung von sozialen und ökologischen Systemen so zu bremsen, dass wir Zeit gewinnen. Das sind die politischen Aktionen, die Demos und Blockaden, die Gesetzesinitiativen, die aktive Einmischung in Bürgerinitiativen und friedlichem Widerstand. Auf dieser Ebene nehmen die Leute die meisten Strafen in Kauf, erreichen die größte Öffentlichkeit und leiden am meisten an dem Gefühl, ausgebrannt zu sein. Die meisten Menschen identifizieren sich mit diesen Aktionen. Darin liegt für sie der soziale Wandel und sie glauben, das sei alles.
Aber, wie wir heute sehen, reicht das offenbar nicht aus … Richtig. Man braucht die zweite Ebene, auf der man sich um die strukturellen Wurzeln der Fehlentwicklung kümmert. Welche Institutionen und Machtfaktoren tragen das System und welche Alternativen können eingebracht und ausprobiert werden, um die Samen für eine lebenserhaltende Gesellschaft zu säen? Das passiert beispielsweise bei all den Initiativen, die sich mit den Mechanismen der Globalisierung auseinandersetzen und die Weltwirtschaft entmystifizieren. Da hat weltweit ein erstaunlicher Prozess begonnen, bei dem sich Menschen mit den Mechanismen von sogenannten freien Märkten mit Fusionen oder den Regeln des Welthandels auseinandersetzen. Daraus sind nicht nur große Bewegungen und Organisationen entstanden, sondern man hat auch nachhaltige gerechte Wirtschaftsmodelle und alternative Währungen entwickelt und als Prototypen erprobt. Sie können als Rettungsboote bei einem plötzlichen Kollaps und als Modelle in einem evolutionären Transformationsprozess dienen. Diese Ebene des Wandels ist absolut essenziell, denn sie sät die Samen für die Zukunft.
Aber auch dieser Ansatz bleibt letztlich auf einer reaktiven Ebene. Kann daraus grundsätzlicher Wandel und Neuanfang entstehen? Dazu brauchen wir die dritte grundsätzliche Ebene, auf der wir nach den eigentlichen Motiven der Menschen fragen. Also: Was wollen wir? Wer sind wir? Was brauchen wir? Es geht um das, was uns ins Handeln bringt. Das ist die Ebene des Bewusstseinswandels; das ist die Ebene, wo wir unsere Wahrnehmung schulen und unsere Bedürfnisse neu formulieren, unser Selbstbild neu bestimmen, unsere Beziehung zur Welt überdenken und neu gestalten: eine Rückbindung an die natürliche Welt, eine neue Spiritualität, systemische Sichtweisen. Und all das passiert weltweit in einem ungeheuren Tempo.
Das heißt, wir leben sowohl in einer Zeit der Zerstörung und Desintegration als auch in einer Zeit des Wandels und der Integration? Diesen Zustand nennt man »positive Desintegration«. Sie findet immer dann statt, wenn ein System unter Stress gerät und sich weiterentwickelt. Das passiert mit sozialen Systemen genauso wie mit Denksystemen oder Individuen. Der Begriff beschreibt, was mit einem System passiert, wenn alle Richtlinien, Normen und Werte auf einmal nicht mehr funktionieren und passen. So sind viele der Werte und Ziele der modernen Industriegesellschaft – »Je größer, desto besser« oder »Wachstum um jeden Preis« – mittlerweile zur Gefahr für unser Überleben geworden. Wenn solche Grundwerte wertlos werden, geraten wir ins Chaos, fühlen uns verloren und glauben, wir könnten nicht überleben. Dabei ist das, was stirbt, nur unsere Sicht- und Handlungsweise. Wir leben weiter und finden neue Formen. Positive Desintegration ähnelt also ein bisschen einem Flusskrebs, dessen enger Panzer beim Wachsen aufbricht und damit Platz für Neues macht. Und fraglos macht das dem Flusskrebs erst einmal Angst.
Was liegt jenseits des Panzers? Wir weiten uns und wachsen. Aber nicht mehr nur insichtlich des Bruttosozialprodukts. Das Alte ist nicht wiederzuhaben. Aber es kommt auf allen Gebieten etwas Neues in Gang. Wir haben unsere Unschuld verloren, wir haben Blut an unseren Händen. Was jetzt passiert, ist die nächste Drehung an der Spirale der Entwicklung. Es besteht die Chance, zurückzukehren zu einer Verbundenheit mit dem Leben. Wir sind an dem Punkt, wo diese Verbundenheit gewählt werden muss. Wir sind verbunden, das ist ganz klar. Wir werden entweder zusammen sterben oder zusammen überleben. Das ist unser Schicksal. Doch wir sollten nicht länger das Opfer sein, sondern uns dafür entscheiden, Akteure zu sein, und entsprechend handeln.
Was bedeutet das für die zunächst einmal noch wachsende Krise? Wir werden es mit der Angst zu tun bekommen, mit Wut und Verzweiflung. Das sind einige der Phänomene eines Zusammenbruchs. Um damit umgehen zu können, müssen wir lernen, mit dem Wandel zu leben. Wenn wir jetzt in dem Prozess sind, nach und nach aus immer mehr Krisen eine nachhaltige lebensfördernde Kultur zu bauen – ohne wirklich zu wissen, wie das geht und was die nächsten Schritte sind –, dann brauchen wir einfach eine große Toleranz für Unsicherheit, für Mehrdeutigkeit, für unbekannte Lösungen. Das ist von entscheidender Wichtigkeit: Um die Gesellschaft vor Panik und sozialem Aufruhr zu bewahren, müssen wir an der inneren Balance arbeiten. Sie kann uns vor der Sehnsucht nach billigen Antworten schützen, wie sie in autoritären, faschistischen oder fundamentalistischen Ideologien angeboten werden. Solche Ideen haben Konjunktur in Zeiten der Krise. Also müssen wir – gerade auch im Bildungssystem – die Fähigkeit trainieren, in Zeiten der Unsicherheit spielerisch die Balance zu halten, auch wenn es nicht immer einfach ist. Nichtsdestoweniger bin ich dankbar, heute in einer Zeit zu leben, in der wir Zeugen eines fundamentalen kulturellen Wandels werden und sogar an ihm mitwirken können. Außerdem ist die Haltung der Dankbarkeit gegenüber dem Leben mit all seinen Herausforderungen und Krisen ein zutiefst subversiver Akt. Denn wenn wir dankbar sind, lassen wir uns nicht mehr einlullen von den leeren Versprechen der Konsumgesellschaft, sondern öffnen uns für das, was da ist und kommen will.
Herzlichen Dank für das inspirierende Gespräch! //
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Joanna Macy (91) zählt zu den wichtigsten Stimmen der Ökologiebewegung. Ihre Arbeit verbindet Tiefenökologie mit Systemtheorie, buddhistischer Philosophie und Aktivismus. Sie lebt in Kalifornien im Kreis ihrer Kinder und Enkelkinder. www.joannamacy.net
Geseko von Lüpke (62) studierte Politologie und Ethnologie. Als Visionssucheleiter, Netzwerker, Journalist und Sachbuchautor trägt er seit Jahrzehnten zum Wandel hin zu einer lebensfördernden Gesellschaft bei. Er lebt in der Gemeinschaft Sulzbrunn im Allgäu.