Bildung

Aktiv und selbstbestimmt studieren

Warum ich als Klimaaktivistin einen selbstbestimmten Philosophie-Studiengang mit aufbaue.von Charlotte von Bonin, erschienen in Ausgabe #60/2020
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© Ben Engelhard

Fragen nach einer klimagerechten Welt und gutem menschlichen Miteinander fand ich nicht in verstaubten Klassenzimmern und Hörsälen, sondern auf Demonstrationen und in zahllosen informellen Gesprächen. Dennoch spürte ich den Wunsch nach einem richtigen Studium, wo ich mich selbstbestimmt -diesen Zeitfragen widmen darf – eine Studiengruppe, mit der ich gemein-sam einen längeren, intensiven Bildungsweg gehe, in der ich das Privileg habe, mich in freilassender Begleitung und Vertiefung auf gesellschaftliche Themen zu fokussieren. Dabei habe ich mich auf einen Drahtseilakt eingelassen: Auf der einen Seite Zeitfagen und Aktivismus, auf der anderen mein Bedürfnis, mich in geschützten Bildungsräumen ausprobieren, erforschen und entwickeln zu können, anstatt mich mit der permanenten Dringlichkeit der aktuellen Krisen zu konfrontieren. Wie kann ich die Balance zwischen diesen Polen halten? Kann ich mich frei und unbedrängt als Mensch entfalten, wenn die immer lauter werdenden Zeitfragen drohen, mich aus der Balance zu bringen?

Die Zeitfragen begegneten mir auf schmerzhafte Weise, als mir klar wurde, dass wir mit unserer Art zu leben unsere Zukunft gefährden und den Planeten zerstören – und wie viel sich verändern muss, damit ich mit gutem Gewissen ein Kind bekommen kann! Ich stand am Fenster und blickte auf die asphaltierte Hauptstraße. Der Geruch von einer Imbissbude stieg mir in die Nase – und da hörte ich es: Ein kleiner Vogel saß auf dem Blitzableiter des Nachbarhauses. Mir kamen die Tränen, und ich wusste: Ich muss aktiv werden – und sei es nur für dieses Vögelchen! Daran denke ich oft, wenn ich im ruhigen Seminarraum sitze und die drängenden Zeitfragen ein Stück weit in den Hintergrund treten. Wenn in diesen Momenten Fragen nach dem guten Leben laut werden, gerate ich manchmal ins Wanken.

Studium in Weltveränderung

Ich wollte mich auf diesen Drahtseilakt einlassen. Deswegen suchte ich nach einem Studium, das mir einerseits die Bildung von Fähigkeiten und geschützte Entwicklungsräume ermöglicht, und sich andererseits den Fragen der Welt zuwendet. Dabei begegnete ich einer Gruppe von Jugendlichen, die sich entschlossen hatten, einen ebensolchen selbstbestimmten Bildungsweg zu gehen: Die seit 2017 existierende Initiative »Selbstbestimmt Studieren«. Seit Oktober 2019 beschäftigen wir uns im Studiengang »Philosophie und Gesellschaftsgestaltung« mit grund-legenden Themen, die uns als jungen Menschen unter den Nägeln brennen. Dazu gehört die Frage nach dem Sinn unserer Existenz, nach Ethik und nach Selbstbestimmung. Immer wieder suchen wir im Austausch den Bezug zu aktuellem Zeitgeschehen vor dem Hintergrund der ökologischen und sozialen Krisen. Durch meine Verbindung zur Klimagerechtigkeitsszene kann ich die dort aufkommenden existenziellen Fragen in unsere Seminare tragen. Hier haben wir in selbstbenannten Studienbereichen wie etwa »Grundprobleme der Gegenwart« den Spielraum, uns unseren Fragen zu widmen. Zur Verwirklichung des Projekts erfahren wir unter anderem große Unterstützung durch Menschen der »-Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte«, die uns auf unserem selbstbestimmten Bildungsweg begleiten. Zu den Seminaren treffen wir uns einmal im Monat und leben eine Woche zusammen, während wir uns mit den vorab online abgestimmten -Themen auseinandersetzen. Dabei probieren wir unterschiedliche Arten von inhaltlicher Arbeit aus: Texte gemeinsam lesen und diskutieren, Lernen im Gruppendialog, Diskussionen und Vorlesungen. Die Zusammenarbeit gestaltet sich immer wieder neu, da sich auch die Verhältnisse ändern – zum Beispiel wird ab Herbst ein neuer Jahrgang ins Studium einsteigen.

Hinterfragen und Beobachten

Oft fragen mich Außenstehende, warum wir uns für Philo-sophie entschieden haben, wo uns doch die aktuellen Herausforderungen interessieren. Vielleicht ist für Bildung auch ein Schutzraum nötig, in dem der Fokus auf einem selbst und der Entwicklung der eigenen Fähigkeiten liegt. In praktischen Philosophieübungen wenden wir uns gleichzeitig uns selbst und der Welt zu: Beim bewussten Wahrnehmen und Denken lernen wir uns und unsere Fähigkeiten besser kennen. Zum Beispiel haben wir uns mit unserem Erinnerungsvermögen befasst. Dabei habe ich eine Kindheitserinnerung aufgeschrieben und währenddessen beobachtet, wie ich mich erinnere. So können wir unsere Verbindung mit der Welt reflektieren und uns einigen grundsätzlichen Gegenwartsproblemen auf ganz eigene Weise nähern. Bei Übungen zur Selbstreflexion trete ich einen Schritt zurück und lasse den Lärm der Welt verstummen. So entsteht ein Bildungsraum, in dem ich den Blick auf uns Menschen mit unseren individuellen Fähigkeiten und zugleich auf die Welt mit ihren Herausforderungen richte. Dabei lerne ich, mein Verhältnis zu meiner Mitwelt zu beobachten und zu hinterfragen.

Wenn wir uns mit Geschichte befassen, blicken wir in der Zeit zurück und können unsere heutige technisch-materialistisch orientierte Weltperspektive erweitern. Dabei lernen wir, uns in andere Weltbilder hineinzudenken und nachzuvollziehen, wie diese entstanden sind. Bei der Auseinandersetzung mit der Menschheitsgeschichte und mit deren Bezug zur eigenen Biografie können wir eine Außenperspektive auf aktuelle Themen gewinnen. Wir möchten möglichst viele Perspektiven einbeziehen und lernen, über unseren heutigen Möglichkeitshorizont hinauszudenken. Friedrich Schiller personifizierte die Geschichte sogar, und erklärte, sie »spreche« zum Individuum. Was bedeutet das, wenn ich mit der Geschichte sprechen möchte und vielleicht dazu erst einmal ihre Sprache lernen muss? Wenn wir mit der Geschichte im Rücken das Heute betrachten, können wir mit mehr Weitblick agieren und menschheitsgeschichtliche Erfahrungen einbeziehen. Doch die Geschichte wird von Menschen geschrieben. Bislang prägten meist weiße, westliche Männer diese Geschichte, die von viel Gewalt und Unterdrückung geprägt ist. Andere Gesellschaften kennen so etwas wie die europäische Geschichtsschreibung nicht, da sie in ihrem Zusammenleben ganz andere Dinge in den Fokus nehmen. Solche indigenen Gemeinschaften werden in der eurozentrischen Geschichtsschreibung ausgeklammert. Mir ist es wichtig, neue Geschichten über die Welt zu hören und mir bewusst zu machen, woher mein heutiges Geschichtsverständnis kommt. So kann ich mich ins Verhältnis zur »offiziellen« Geschichte und zu anderen Perspektiven setzen.

Wir könnten diesen Ansatz mit unserer eigenen Lebens-erfahrung vergleichen. Wer würde auf all die wertvollen Erkenntnisse, Erfahrungen und Entwicklungsschritte des eigenen Lebens verzichten wollen? Wenn ich eine wichtige Entscheidung treffe, dann beziehe ich meine Biografie immer mit ein, ich kommuniziere mit meiner Geschichte und habe so die Möglichkeit, durchdachte Handlungen einzuleiten. Auch als Gesellschaft brauchen wir einen neuen Blick auf die Biografie der Menschheit, um Zukunft gestalten zu können. Und diese Menschheitsbiografie ist nicht nur die Geschichte von Taten (ach so großartiger Männer), sondern auch die Geschichte des Denkens und Fühlens.

Der Drahtseilakt 

Durch das Studium hat sich mein Aktivismus verändert. In Diskussionen denke ich länger nach und hinterfrage meine Ansichten öfter. Die Art und Weise, wie ich denke, ist vor allem durch meine Biografie geprägt, und ich lerne mehr, wenn ich besser zuhöre. Anstatt »Standpunkte« vehement zu verteidigen, mache ich mir zunehmend bewusst, dass mein Horizont begrenzt ist. Immer öfter wird dabei die Frage laut, mit welchem Recht ich meinen kann, die Welt zu einem »besseren Ort« machen zu wollen. Anfangs verunsicherte mich die Frage, doch dann merkte ich, wie wertvoll es ist, tastend und lauschend unterwegs zu sein. Ich habe ein paar Grundsätze entwickelt, die mir in meinem Tun Halt geben: Alle Menschen haben das gleiche Recht auf ein gutes Leben. Ich möchte mich für eine gerechte Welt einsetzen. Alle Lebewesen sind gleich wertvoll. Immer wieder versuche ich dabei, das Gelernte in meine Lebenshaltung zu integrieren. Praktische Fähigkeiten, die ich mir in der Projektarbeit aneigne, geben mir mehr Sicherheit in meinem Engagement. Aus dem Klimaaktivimus trage ich wiederum neue Fragen ins Studium – etwa: »Was ist Gerechtigkeit?«, »Was ist meine Aufgabe?«, »Wie erkenne und verändere ich veraltete Denkmuster?«. 

Nach wie vor ist es eine Herausforderung, mich ganz auf meine Bildung zu konzentrieren, weil ich so viel an die drängenden Zeitfragen denken muss. Durch den Aktivismus bin ich ständig mit Studien über die Zukunft des Planeten konfrontiert, lerne Menschen kennen, die unter den Folgen der zahlreichen Krisen existenziell leiden, und lese von den leeren Versprechungen der Politik. In solchen Momenten könnte ich an meiner gefühlten Machtlosigkeit verzweifeln! Dennoch ist die Lage nicht hoffnungslos. Wandel ist notwendig und möglich – durch unser selbstbestimmtes Studium sind wir ein Teil dieser Veränderung! // 


Mehr erfahren?
www.selbstbestimmt-studieren.org

Charlotte von Bonin (23) studiert selbstbestimmt Philosophie und Gesellschaftsgestaltung, ist bei »Fridays for Future« aktiv, denkt viel über Welt, Liebe und Patriarchat nach – und schreibt darüber.

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