Gemeinschaft

Hier kann ich doch gewiss übernachten!

Unangemeldeter Besuch in Gemeinschaften ist eine heikle Angelegenheit – die auch gut ausgehen kann. Von Oya-Redakteurin Lara Mallien.von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #60/2020
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© privat

Zwei Unbekannte stehen vor der Tür: »Hier ist doch die Gemeinschaft, wo die Zeitschrift Oya entsteht. Ja? Ah, gut, dann sind wir richtig. Wir wollen erfahren, wie ihr als Gemeinschaft so funktio-niert! Können wir bei euch übernachten?« Treu nach dem guten alten Spruch »Gieß Wasser zur Suppe, heiß’ alle willkommen!« setzen wir solche Leute meist an den Tisch. Wie wäre es, denke ich dann manchmal, wenn solche unangemeldeten Gäste ihr Sprüchlein an Familie Müllers Tür vortragen würden? Klingeln Sie doch mal bei den Müllers und fragen, ob Sie übernachten und die Familie kennenlernen dürfen; vor allem interessiert Sie, wie intern so die Entscheidungen getroffen werden und wie die Ökonomie organisiert wird – und wie es möglich ist, bei Familie Müller einzuziehen oder einen Bauwagen in den Garten zu stellen.

Wohl jede Gemeinschaft – selbst wenn sie ein klares Reglement zur Frage des Besuchs hat – kann solche Geschichten erzählen. Bei uns gibt es ein geflügeltes Wort: »Hier ist doch Oya, hier kann man doch übernachten!« Jedes Jahr steht zumindest eine Person mit so einem Sprüchlein vor der Tür. Es kann sein, dass in diesem Moment gerade letzte Korrekturen in eine neue Ausgabe eingearbeitet werden, die Hälfte von uns verreist ist, ein Studien-gang im Klanghaus läuft, Oma Linde aus dem Rollstuhl gefallen ist, Veit-Peregrin lautstark nach Milch verlangt, die Schafe ausgebrochen sind und der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht, weil unsere Buchhalterin irgendeinen Kleinbetrag nicht überwiesen hat. Dann schicken wir solche Leute weg, möglichst gewaltfrei. 

Manchmal hat aber jemand spontan Zeit für eine Dorfführung, danach ziehen die Überraschungsgäste meist wieder ihrer Wege. Im schlimmsten Fall bleibt aber die unangemeldete (meist männliche) Person über Nacht, wird von diversen Menschen als unangenehm wahrgenommen und setzt sich fest. Macht sich nützlich. Sammelt zum Beispiel Pflaumen, regt zu einem vierstimmigen Lied vor dem Essen an, baut eine Trinkwasserstation für die Kinder im Garten, was von manchen als übergriffig empfunden wird. Irgendjemand fasst sich dann ein Herz und schickt ihn (oder sie) fort mit der Erklärung, dass auch eine Gemeinschaft mal ihre Ruhe brauche, sonst komme es so weit, dass fast nur noch Besucherinnen und Besucher am Esstisch sitzen und kein Gemeinschaftsmitglied mehr. Der Ehrenrettung halber muss gesagt werden, dass solche Kandidaten in aller Regel keine Oya-Lesenden sind.

Gestern entstand noch eine Variante des geflügelten Spruchs, und zwar: »Hier ist doch Oya, hier kann man doch Geburtstag feiern!« Ich stand auf dem Acker und erntete mit unserer Besucherin Hannah Kleeblüten. Eine Frau mit italienischem Akzent näherte sich und sagte: »Sie sind doch Lara Mallien? Ich wollte Ihre Gemeinschaft kennenlernen, habe aber niemanden erreicht, deshalb bin ich aus Berlin losgefahren und hoffte, einfach irgendjemand zu treffen. Ich heiße Rosella.« »Nimm dir einen Eimer und ernte mit«, entgegnete ich, »dann erzähle ich dir was.« »Ich hole meine Kumpels«, antwortete sie. Sie stellten sich vor als Nils und Wimalo, einer trug die Kiste für die Blüten, der andere jätete hinter uns. »Rosella hat heute übrigens Geburtstag«, sagte Wimalo, ihr Lebensgefährte. »Sie wird 52, es war ihr Geburtstagswunsch, in Klein Jasedow zu sein.« Ich umarmte Rosella spontan und gratulierte. Es stellte sich heraus, dass sie eine der langjährigsten Freundinnen von Hütekreismitglied und Oya-Autorin Grit Fröhlich ist. Vor dem Mittagsbrunch, zu dem ein Riesenbovist festlich paniert wurde, sangen wir das Geburtstagslied »Auf viele Jahre«. Am Tisch erklärte sich eine von uns bereit, den dreien das Dorf zu zeigen. Es war ein wunderschöner Geburtstag. 

Es kann also auch der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein, wenn jemand wie vom Himmel gefallen auftaucht. »Da ist ein Dennis an der Tür, ein Oya-Leser, kümmere dich bitte um ihn«, sagte Johannes vor etwa vier Wochen zu mir. Ich schickte Dennis mit wenigen Sätzen auf die Campwiese und bedauerte, keine Zeit zu haben. Diese Wiese bevölkerte eine Wander-Uni-Gruppe und baute Holzhütten für künftige Jasedow-Gäste. Dennis schloss sich ihnen an und kochte. Als die Wandersleute schon wieder abgereist waren, bekochte er auch uns, hütete die Kinder und gab eine Lesung aus seinem bewegenden Buch über den frühen Tod seiner Mutter. Er wird wiederkommen als Dorfschreiber. Als er aufbrach, trauerten wir ihm ein wenig nach.

Und die Moral von der Geschicht? Eine ist offensichtlich: Verschont Gemeinschaften mit unangemeldetem Besuch! Aber es gibt noch eine andere: Wenn du aus unerfindlichen Gründen überraschend vor der Tür stehst, erwarte nichts und frage, was du beitragen kannst. Tu das Naheliegende, das, was du gut kannst, spüre hin, was hier gerade gebraucht wird. Und wenn du spürst, dass es gerade Ruhe ist, verabschiede dich in allem Frieden. Ein andermal wirst du willkommen sein.  

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