Die Kraft der Vision

Die Kultur der Göttin

»Das Alte Europa« – die Welt als viel­gestaltiger Ausdruck der Großen Mutter.von Marija Gimbutas, erschienen in Ausgabe #61/2020
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Die Bezeichnung »Altes Europa« geht nicht in erster Linie auf die polemischen Äußerungen eines ehemaligen US-amerikanischen Verteidungsministers zurück, sondern beschreibt eine Epoche der europäischen Ur- und Frühgeschichte. Als »Zivilisation des Alten Europas« bezeichnete Marija Gimbutas eine Gruppe von »prä-indoeuropäischen Kulturen, die matrifokal und vermutlich matrilinear, landwirtschaftlich geprägt und sesshaft, egalitär und friedlich waren. Sie standen in scharfem Kontrast zur aufkommenden proto-indo­europäischen Kultur, die patriarchal, hierarchisch, pastoral, expansiv und kriegerisch geprägt war.« Die »Zivilisation der Göttin« florierte zwischen 7000 und 2500 v. u. Z. in Südosteuropa von der Adria und Ägäis über den Donauraum bis hinauf nach Tschechien, zum südlichen Polen und zur westlichen Ukraine. Die Angehörigen dieser Kulturen schufen komplexe gesellschaftliche Organisationsformen mit Handwerkskunst, Metallverarbeitung, weitverzweigten Handelsbeziehungen und einem ausgefeilten Zeichensystem, das manchen Forscherinnen als Zeugnis einer rudimentären Schriftkultur gilt. Im Zentrum dieser matriarchalen Zivilisation stand die Große Göttin, die in vielgestaltigen Ausprägungen als Erzeugerin des Lebens (Creatrix) verehrt wurde. Gimbutas zufolge galten Männer in jenen Kulturen nicht als lebensspendend oder -erzeugend, sondern vielmehr als lebensstimulierend und -erhaltend. Obwohl mehrere Besiedelungswellen durch zentralasiatische Reitervölker der Kurgankultur nach 2500 v. u. Z. zu einer Vermengung alteuropäischer und indoeuro­päischer Gebräuche führten, blieben manche Aspekte der Kultur der Göttin auch in patriarchal geprägten Zeiten lebendig. 

Die Feier des Lebens ist das Leitmotiv im Ideenleben und der Kunst des Alten Europas. Es gibt keine Stagnation; die Lebenskraft ist ständig in Bewegung als Schlange, Spirale oder Wirbel. Man denke nur an die reich bemalten Keramikobjekte der ­Cucuteni-, Dimini-, Butmir und der minoischen Kultur, bei deren Anblick man unweigerlich die dynamische, wirbelnde, aufwärtsstrebende, spaltende und wachsende Kraft ihrer Ornamentik empfindet, deren prachtvolle Farbkomposition vor allem vom Ockerrot, der Farbe des Lebens, dominiert wird. Lebenssäulen, aufgerichtete Schlangen, Laubbäume, Bienen und ­Schmetterlinge, die sich aus Gräbern, Höhlen, Gesteinsspalten oder dem mächtigen Uterus der Göttin aufschwingen: Jede Form geht in einer anderen auf. Die Bilder der Verwandlung, vom Menschen in ein Tier, von der Schlange in einen Baum, vom Uterus in einen Fisch, Frosch, Igel oder ein Bukranion (gehörnter Rinderschädel, Anm. d. Red.), vom Bukranion in einen Schmetterling, spiegeln die Vorstellung von der Wiederkehr der Lebenskraft in immer neuer Form. Das heißt nicht, dass der Tod ignoriert wurde. Er manifestiert sich in der Kunst eindrucksvoll in Knochenartefakten, in bedrohlich wirkenden Bildern von Hunden, Eulen, Geiern und wilden Keilern. Die Sterblichkeit war ein Thema, mit dem sich die Menschen sehr ernsthaft befassten, aber gleichzeitig bildete sich ein starker Glaube an die Lebenserneuerung im Augenblick des Todes heraus, der sich auf die Erfahrung der stetig wiederkehrenden Zyklen der Natur stützen konnte, des Mondzyklus beispielsweise oder des Zyklus des weiblichen Körpers. Es gab für sie nicht den Tod als solchen, nur das Zusammenspiel von Tod und Erneuerung. Und diese Sicht ist der Schlüssel zu dem Lobgesang auf das Leben, der in der Kunst dieser Menschen zum Ausdruck kam. Heilige Bilder und Symbole von Göttinnen und Göttern und den mit ihnen assoziierten Vögeln und Säugetieren, geheimnisvollen Schlangen, Amphibien und Insekten waren realer als das tägliche Leben. Sie enthüllen uns den eigentlichen Zusammenhang, in dem sich das Leben der Menschen im Alten Europa abspielte. Diese Symbole bleiben uns, die wir weit entfernt von der Gesellschaft leben, die diese Bildersprache hervorgebracht hat, als einziger Zugang zu der lebensfrohen, erdverbundenen und von der Achtung für alles Lebendige geprägten Weltsicht der damaligen Zeit. Freud hätte diese Bilder wohl als »Urfantasien« abgetan, während Jung sie wahrscheinlich als »die Früchte des Innenlebens, das dem Unbewussten entspringt« zu schätzen gewusst hätte. Die Göttin symbolisierte in ihren sämtlichen Erscheinungsformen die Einheit allen Lebens in der Natur. Ihre Macht wohnte dem Wasser, den Steinen, den Grotten und Höhlen, Säugetieren und Vögeln, Schlangen und Fischen, Bergen, Bäumen und Blumen inne. So erklärt sich auch die holistische und mythenbildende Vorstellung vom heiligen und geheimnisvollen Wesen all dessen, was auf Erden ist. Die Menschen dieser Kultur erfreuten sich an den natürlichen Wundern des irdischen Lebens. Sie stellten keine tödlichen Waffen her, obwohl sie die Metallurgie beherrschten, und sie bauten keine uneinnehmbaren Festungen wie ihre indoeuropäischen Nachkommen. Stattdessen errichteten sie großartige Grabmonumente, Tempel und behagliche Wohnhäuser in Siedlungen von mäßiger Größe und schufen kunstvolle Keramikgefäße und Skulpturen. Es war eine lang anhaltende und politisch stabile Periode der Kreativität, eine Zeit ohne kriegerische Auseinandersetzungen, in der die Kultur durch die Kunst geprägt wurde. Die in diesem Buch vorgestellten Bilder und Symbole bestätigen, dass die parthenogenetische Göttin (Parthenogenese = ­eingeschlechtliche Zeugung, Anm. d. Red.) die in den archäologischen Zeugnissen der alten Welt über die längste Periode hinweg belegbare Erscheinung ist. Sie beherrschte die religiöse Vorstellung der Menschen in Europa vom Beginn des Paläolithikums bis zum Ende des Neolithikums und im Mittelmeerraum sogar noch bis weit in die Bronzezeit hinein. Die nächste Phase, in der die patriarchalen Kriegergötter nomadisierender Hirten die matristischen Göttinnen und Götter verdrängten oder in ihrem Pantheon assimilierten, bildete eine Übergangsstufe vor der Zeit des Christentums, das sich durch die strikte Ablehnung der alten Werte und Überzeugungen auszeichnete. Eine tiefe Abneigung gegen die weltliche Ausrichtung der alten Kulturen und gleichzeitig auch gegen die Göttin und alles, was sie verkörperte, griff um sich. Die Göttin wurde allmählich in die Tiefen der Wälder oder auf die Gipfel der Berge zurückgedrängt, wo sie in den Vorstellungen und Märchen der Menschen bis heute fortlebt. Von dieser Verdrängung rührt die Entfremdung der Menschen von den Wurzeln des irdischen Lebens, deren Folgen in der modernen Gesellschaft unübersehbar zutage treten. Doch der ewige Kreislauf der Natur setzt sich unaufhörlich fort, und wir erleben heute, dass die Göttin aus den Wäldern und von den Bergen zu uns zurückkehrt und, indem sie uns zu den ältesten Wurzeln der Menschheit zurückführt, unsere Hoffnung für die Zukunft aufleben lässt. // 

Aus: »Die Sprache der Göttin. Das verschüttete Symbolsystem der westlichen Zivilisation«, aus dem Englischen übersetzt von Udo Rennert und Andrea von Struve, Zweitausendeins, 1995. Mit freundlicher Genehmigung durch The Estate of Marija Gimbutas.

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