Titelthema

Am Anfang die Mütter

Fünf Mitglieder der Oya-Redaktion tauschten sich mit Heide Göttner-Abendroth zu Geschichte und ­Gegenwart matriarchaler Lebensweisen aus.von Lara Mallien, Jochen Schilk, Johannes Heimrath, Matthias Fersterer, Heide Göttner-Abendroth, Anja Marwege, erschienen in Ausgabe #61/2020
Photo
© Marcus Gruber

Anja Marwege  Heide, wie schön, dass wir zu einem Gespräch zusammenkommen! Du hast die Matriarchatsforschung einmal in drei Stränge untergliedert: die Erforschung gegenwärtiger Matriarchate, die Geschichtsforschung zu Matriarchaten und die Matri­archatspolitik – lasst uns diese als Gesprächsfäden im Hinterkopf behalten.
Heide Göttner-Abendroth  Matriarchatspolitik richtet sich vor allem auf die Frage, was wir in der Gegenwart mit matriarchalem Wissen tun können – das ist eine Sache für sich. In der Forschung können wir historische Matriarchate nicht aus den wenigen archäologischen Resten verstehen; meine Forschung habe ich deshalb bei gegenwärtigen matriarchalen Gesellschaften begonnen. Vor diesem Hintergrund schaue ich mir die Vergangenheit mit neuem Blick an, das ist eine Revision der Kulturgeschichte.
Lara Mallien  Wie bist du überhaupt dazu gekommen, heutige Matriarchate zu erforschen?
HGA  Der Begriff »Matriarchat« taucht im öffentlichen Bildungssystem kaum auf, und wenn, dann wird er fälschlicherweise als »Mütterherrschaft« übersetzt. Ich stieß auf den Begriff als 21-jährige Studentin der Philosophie in Robert von Ranke-Graves Buch über »Griechische Mythologie« (1955). In seiner Kulturgeschichte des Mittelmeerraums weist er darauf hin, dass es vor der griechisch-patriarchalen eine andere kulturelle Schicht gab, die er als »matriarchal« bezeichnete. Das faszinierte mich, ging es doch in meinem Studium immer nur um die männliche Sicht auf den Menschen im Allgemeinen. Also widmete ich mich der Mythenanalyse im Mittelmeerraum und vorderen Orient. So entstand mein Buch »Die Göttin und ihr Heros«, das sehr positiv aufgenommen wurde und dazu beigetragen hat, den Matriarchats­begriff zu verbreiten. Seitdem betreibe ich Matriarchatsforschung. Mir wurde bewusst, dass es sehr aufschlussreich ist, Mythen sozialhistorisch zu lesen; die Archäologie fördert auch wichtige Erkenntnisse zutage, das sind jedoch Bruchstücke, die zu ­wenig über Sozialordnung, Politik und Ökonomie aussagen. Darum wandte ich mich der Ethnologie zu, und ich habe zehn Jahre lang die noch existierenden Matriarchate studiert. Später hatte ich das Glück, drei Weltkongresse für Matriarchatsforschung organisieren zu können, auf die ich Forscherinnen und Forscher aus diesen Kulturen einlud und von diesen lernen durfte.
Johannes Heimrath  Heide, über die Jahre haben wir uns immer wieder in aller Ausführlichkeit und Tiefe über die Bedeutung des Begriffs »Matri­archat« ausgetauscht. Doch selbst aus den Szenen, über die wir in Oya berichten, werden immer wieder irritierte Rückfragen von Menschen an uns herangetragen, die befürchten, Matriarchat würde ein Patriarchat unter umgekehrten Vorzeichen bezeichnen. Magst du den Begriff für unser Publikum bitte nochmals erläutern? HGA  Gern! Wie du weißt, hat »Matriarchat« – entgegen des weitverbreiteten Missverständnisses – nichts mit »Frauenherrschaft« zu tun. In meiner Forschung habe ich gezeigt, dass matriarchale Gesellschaften grundsätzlich egalitär, bedürfnisorientiert, ausgleichend und durch das Konsensprinzip organisiert sind. Das griechische archē bedeutet sowohl »Herrschaft« als auch »Anfang«. Man sieht es daran, dass »Archäologie« nicht die »Lehre von der Herrschaft«, sondern die »Lehre von den Anfängen« bedeutet, und »Archetypen« nicht »Formen der Herrschaft«, sondern »ursprüngliche Formen« sind. So bezeichnet auch »Matri­archat« nicht die »Herrschaft der Mütter«, sondern: »Am Anfang die Mütter«. Denn jeder Mensch beginnt das Leben durch die Geburt von einer Mutter, und Mütter standen auch am Anfang der Kulturgeschichte.
LM  Wie fühlte es sich für dich als jüngere Forscherin an, als du zum ersten Mal den Alltag mit Menschen aus matriarchalen Kulturen geteilt hast?
HGA  Zunächst habe ich mich zehn Jahre lang mit ethnologischer Literatur befasst und darin viele Vorurteile gefunden. Aus diesen Studien habe ich einen gemeinsamen Nenner dieser Gesellschaften destilliert: die genaue Definition von »Matriarchat« – und diese wollte ich auf den Prüfstand stellen. In Ostasien existieren noch die meisten matriarchalen Gesellschaften, und so wählte ich die Mosuo im südlichen China aus (siehe Seite 28). 1993 konnte ich mit einer Frauengruppe dorthin reisen. Die Reise wurde hervorragend durch chinesische Ethnologinnen begleitet. Am Anfang stand das wissenschaftliche Interesse – als Wissenschaftlerin muss ich ja meine Thesen testen. Es hat mich jedoch auch sehr berührt, wie offen und unbefangen Frauen wie Männer uns Auskunft gaben. Als reines Frauenteam wurden wir offenherzig empfangen. Dabei erfuhren wir vom Schicksal der Mosuo, das mich tief traurig machte: Die chinesische Zentralregierung gibt sie unter dem Label »Land der Frauen« dem Massentourismus preis. Wir erleben derzeit nicht nur immense biosphärische, sondern auch kulturelle Zerstörung – und in der Regel sind die matriarchalen Kulturen die ersten, die davon betroffen sind.
JH  Inwiefern haben die Probleme, die ihr dort beobachtet habt, auch mit den sozialen Rollen, in denen sich die Menschen befinden, zu tun?
HGA  Die egalitären Clanstrukturen sind genau das, womit diese Gesellschaften den meisten Widerstand gegen die Zumutungen des Patriarchats leisten können. Das ist der Grund, warum es sie heute überhaupt noch gibt. Tatsächlich konnte ich keine Zerrüttung von innen beobachten. Wir haben jedoch massive Umweltzerstörung gesehen – die Häuser der Mosuo sind aus Holz gebaut, doch weit und breit stand kein einziger Baum! Die Berghänge sind durch chinesischen Raubbau kahlgeschlagen und verkarstet, was den Ackerbau auf dem 3000 Meter hoch gelegenen Land erschwert. Die Zentralregierung schikaniert die Mosuo, indem sie ihnen chinesische Funktionäre vorsetzt und hohe Steuern abverlangt. Besonders hart waren die Jahre der Kulturrevolution. Zwischen 1966 und 1976 wurden die Mosuo gezwungen, monogame Kleinfamilien zu gründen, was sie pro forma auch taten. Interessanterweise haben sie ihre matriarchalen Clanstrukuturen danach umgehend wieder eingerichtet. Ein großes Problem ist der Massentourismus. Damals existierten dort keine Hotels und keine Flughäfen, weil die Mosuo unter sich bleiben wollten. Also wurden in Bussen männliche Touristen angekarrt, die dachten, im »Land der Frauen« sei jede Frau zu haben. Das hat die Mosuo beleidigt. Daraufhin hat die chinesische Regierung Hotels an einer der schönsten Stellen am Lugu-See hochgezogen, in denen sich verkleidete chinesische Prostituierte als Mosuo ausgeben – ein kulturelles Desaster!
Jochen Schilk  Diese Probleme haben mit dem von außen herandrängenden Patriarchat zu tun. Gab es denn auch Punkte aus deinem Katalog, die du revidieren musstest?
HGA  Das war kein Katalog, sondern ein gemeinsamer Nenner an wesentlichen sozialen, politischen, kulturellen, ökologischen und ökonomischen Merkmalen matriarchaler Gesellschaften – eine umfassende Definition. Dazu zählt etwa, dass die Schöpfung als etwas Weibliches gilt, in das das Männliche eingebettet ist, dass die Wirtschaft als eine Ökonomie des gegenseitigen Gebens und Liebesbeziehungen als Besuchs- oder Wanderehen organisiert sind. Wie sich dies in der jeweiligen Kultur ausdrückt, ist jedoch individuell. In meinem Buch »Matriarchat in Südchina« habe ich differenziert beschrieben, wie die Mosuo ihre Ausprägung matriarchaler Ökonomie und Politik leben. Meine Annahmen fand ich grundsätzlich bestätigt. Aber durch den chinesischen Tourismus fingen Frauen an, private Pensionen einzurichten, so dass eine Geldökonomie mit Konkurrenzbeziehungen zwischen Dörfern ins Spiel kam – dies passierte jedoch durch Einfluss von außen.
AM  Hast du auch Schutzmechanismen, um eine matri­archale Kultur zu bewahren, beobachtet?
HGA  Wenn, dann schützen sich diese Kulturen selbst von innen, denn von außen werden sie nicht verstanden. Meine Arbeit hat wesentlich damit zu tun, Verständnis für diese matriarchale gesellschaftliche Form zu schaffen. Wir gaben nur die Unterstützung, um die wir gebeten wurden. Die Mosuo wollten ausdrücklich, dass wir über sie schreiben – denn nur, wenn sie bei der chinesischen Regierung als ethnische Minorität anerkannt sind, genießen sie einen gewissen Schutz. Als Europäerinnen drängten wir uns nicht auf – die Europäer haben schon genug zerstört.
JH  Was sind denn die Verlockungen des patriarchalen Systems? Was macht es für die Mosuo überhaupt attraktiv, von der tradierten Kultur abzuweichen? Und welche Lehren aus deiner Forschung könnten hier und heute so attraktiv sein, dass ein Drehmoment hin zu Strukturen entsteht, die wir als besser empfinden als das, was wir gegenwärtig haben?
HGA  Deine zweite Frage ist exakt das Thema der Matriarchatspolitik. Zu deiner ersten Frage: Was die Verlockungen betrifft, so setzen diese dann ein, wenn die Menschen in Not geraten, und diese Not entsteht meist durch Repression von außen. Dass die Frauen ein bisschen Geld haben wollten, lag eben daran, dass die Regierung Steuern erhoben hatte. Das ist eine Reaktion auf eine Repression. Auf die Vereinnahmung durch irgendeine patri­archale Macht folgt typischerweise die Kolonialisierung, und dann versuchen die herrschenden Mächte, die Menschen zu spalten, indem sie einige als Gesprächspartner heranziehen und andere ausschließen. Frauen wurden als Repräsentantinnen nicht akzeptiert, die chinesische Regierung verlangte männliche Entscheidungsträger, die für das ganze Volk sprechen. Das widerspricht den Prinzipien matriarchaler Politik, denn die männlichen Sprecher tragen nur das weiter, was zuvor in den Clans gemeinsam beschlossen wurde. Deshalb wurden oft Marionetten eingesetzt, die verführbar wurden, weil sie aus den Clanstrukturen herausgelöst waren. Solche »Verlockungen« sind immer ein komplexes Gefüge aus Repression von außen und der Entwurzelung Einzelner.
Matthias Fersterer  Ich möchte dir eine persönliche Frage stellen: Als Mann und Vater interessiert es mich, wie sich deine Erkenntnisse aus der Matriarchatsforschung in deine Lebenspraxis übersetzt haben – als Mutter, als Großmutter, als Lehrende? Wo bist du dabei an Grenzen gestoßen?
HGA  Nachdem ich meine Erkenntnisse verinnerlicht hatte, hätte ich am liebsten einen matriarchalen, wahlverwandten Clan gegründet. Das habe ich hier auf dem Weghof auch einmal mit ein paar Frauen begonnen. Nach ein paar Jahren stieß ich dabei jedoch an Grenzen. Um eine Gemeinschaft gründen, einen Hof betreuen und meine jugendlichen Kinder angemessen begleiten zu können, hätte ich meine Forschung aufgeben müssen. Wir waren zu wenige und hatten mit chronischer Armut jenseits patriarchaler Institutionen zu kämpfen. Diese Grenzen des Systems sind genau kalkuliert! Da musste ich Prioritäten setzen und habe mich immer wieder für die wissenschaftliche Arbeit entschieden. Dennoch lebe ich außerhalb des patriarchalen Systems: Ich habe mich an keine Institution angepasst, weshalb ich ständig im wirtschaftlichen Risiko lebe – Freiheit hat ihren Preis. Nicht nur die gegenwärtigen Strukturen von matriarchalen Gesellschaften zu erforschen, sondern auch die Kulturgeschichte neu zu formulieren, und all das außerhalb der etablierten Universitäten – das ist eine enorme Aufgabe, für die ich mich immer wieder bewusst entschieden habe. Dazu habe ich die »Akademie Hagia« gegründet, wo Menschen, die von mir lernen wollen, dies ohne patriarchale Scheuklappen und Ideologien tun können.
JH  Wir haben ja eine lange gemeinsame Biografie, die sich auch um die Frage dreht, welche verändernde Kraft wir überhaupt haben. Wie beantwortest du diese Frage heute?
HGA  Wir geben viel Leidenschaft und Engagement in das hinein, was wir tun. Nicht zuletzt deshalb sind heute in der Gesellschaft Gedanken virulent, die es vor dreißig Jahren noch nicht gab. Es ist wie das Salz in der Suppe – nicht sichtbar, aber wirksam! Wir Menschen sind jedoch längst nicht der einzige Faktor in dieser Geschichte, der wichtigste ist die Erde selbst. Was ihr angetan wird und was sie auslöst, kann uns Menschen schneller verändern, als landläufig geglaubt wird. Die Corona-Krise führt uns das vor Augen. Wir wissen nicht, ob der Kollaps, der unvermeidlich zu sein scheint, uns alle in den Abgrund reißen wird. Die Situation ist offen und sehr gefährlich. Auf jeden Fall ist die jetzige »Normalität«, zu der so schnell zurückgekehrt werden soll, keineswegs normal, sondern die größte Absurdität in der Geschichte der Menschheit! Die andere Zukunft, für die wir alle arbeiten, wird kommen – wir wissen nur nicht, auf welchem Weg.
MF  Die US-amerikanische Schriftstellerin Ursula K. Le Guin gab in ihrem Roman »Immer nach Hause« das fiktive ethnografische Zeugnis eines indigenen Volks, das in ferner Zukunft in einem nordkalifornischen Tal ein gutes Leben gelebt haben wird. Nach einem nicht näher benannten Kollaps haben sich dort egalitäre, matriarchale Strukturen herausgebildet. Das Ganze ist nicht einfach so ausgedacht, sondern stützt sich auf fundierte ethnologische und anthropologische Forschung. Darin steckt für mich der Hoffnungsschimmer, dass uns Menschen diese Lebensweisen als Grundmuster innewohnen könnten, die zutage treten, sobald die gegenwärtigen Strukturen kollabieren.
HGA  Le Guins Vision ist meiner matriarchalen Vision sehr nahe – vermutlich griff sie auf ähnliche Quellen zurück. Die Kriterien einer künftigen Gesellschaft sind die, die auf der ­Basis des Lebens gründen. Ich nenne das »mütterliche Anarchie« oder »mütterliche egalitäre Gesellschaft« – »mütterlich«, weil die Frauen nun einmal die Quelle des Lebens sind, während Männer die Schützer und Unterstützer des Lebens sind. Das wurde bei uns völlig vergessen – Mutterschaft gilt als nebensächlich! Die Werte matriarchaler Gesellschaften stammen hingegen von den Müttern und sind solche, die das Leben grundsätzlich unterstützen: Egalität – nicht in dem Sinn, dass alle Menschen gleich wären, sondern dass alle Menschen verschiedenartig, aber gleichwertig sind und dies als Reichtum empfinden – und Respekt: vor der Natur, vor dem gemeinschaftlichen Zusammenwirken und vor unserer gemeinsamen Mutter, der Erde! Mit diesen elementaren Werten, die matriarchale Gesellschaften formuliert und gelebt haben, könnten Teile der Menschheit nach dem Kollaps überleben – wie auch sonst?
LM  Ich freue mich, dass du die mütterliche Anarchie ansprichst! In unserem Gespräch mit Veronika Bennholdt-Thomsen kamen wir an einen ähnlichen Punkt (Seite 56). An diesem Gespräch nahmen einige junge Leute von der Wanderuni teil, die durch linke, anarchistische, queerfeministische Diskurse geprägt sind. Sie haben zwar selbst matriarchale Werte gelebt, indem sie sich etwa bei Gleisbesetzungen egalitär in Bezugsgruppen und Räten organisierten, tun sich jedoch schwer damit, von »Mütterlichkeit« zu sprechen, weil sie dabei ans Hausmütterchen denken. Wie können wir für solche jungen Menschen Mütterlichkeit wieder als etwas greifbar werden lassen, womit sie sich identifizieren und woraus sie Kraft schöpfen können?
HGA  Was du schilderst, Lara, ist das patriarchale Mutterbild, das Frauen übergestülpt wird und das sie selbst verinnerlicht haben: Frauen, die nach diesem Bild leben, beuten sich selbst aus. Matri-archale Mütterlichkeit ist etwas anderes: Damit haben Frauen ganze Kulturen geprägt, die Jahrtausende lang überlebt haben – das ist eine große Kraft, die andere Menschen tragen und integrieren kann, anstatt sich selbst für die Kleinfamilie auszubeuten. Matriarchinnen führten Clans von bis zu 3000 Leuten als »Große Mütter«, weil sie alle respektieren, integrieren und zu einem gemeinsamen Ziel einen konnten – das ist hoch politisch!
JS  Eines deiner Bücher heißt »Matriarchate als herrschaftsfreie Gesellschaften«. Könntest du noch einmal auf den angeblichen Widerspruch zwischen Herrschaftsfreiheit und der Rolle der ­Matriarchin eingehen?
HGA  Es ist ein häufiges Missverständnis, dass Frauen in Matriarchaten die Herrschaftsmacht inne hätten. Die Matriarchin hält ihren Clan zusammen, die Entscheidungsfindung läuft jedoch über Räte, und da ist ihre Stimme nur eine unter anderen. »Herrschaft« bedeutet, kontrollierende Ämter und Erzwingungsstab zu haben, um andere gegen ihren Willen zu zwingen – das gibt es in matriarchalen Gesellschaften nicht! Die Matriarchin gibt lediglich Rat, und dieser wird respektiert, jedoch nicht zwingend befolgt. Die mütterlichen Werte lassen sich nur aus der matriarchalen Weltsicht heraus verstehen: Frauen werden als Quelle allen Lebens respektiert und geehrt, haben jedoch keine politische Macht über andere. Es ist also nur ein scheinbarer Widerspruch, dass die Frauen im Zentrum einer herrschaftsfreien Gesellschaft stehen. Die jungen Leute, die du erwähntest, Lara, fragen ja vor dem Hintergrund ihrer patriarchalen Vorstellungen, wonach diejenigen, die im Zentrum stehen, andere beherrschen. Eine Matriarchin hat hingegen eine Ehrenposition, keine Machtposition. Die Mosuo wählen diejenige Frau zu ihrer Matriarchin, die am meisten für alle Clanmitglieder sorgt – da sind wir wieder bei den mütterlichen Werten! Letztlich beinhalten diese mütterlichen Werte das, was die meisten Menschen sich selbst für ein gutes Leben wünschen: dass sie genährt werden, dass sie mit ihren Fähigkeiten erkannt und anerkannt werden, dass sie in Frieden und Sicherheit leben können und freie Liebeswahl haben. Daran zeigt sich, dass matriarchale Werte an menschlichen Grundbedürfnissen orientiert sind und der Schritt in ein anderes Paradigma gar nicht so groß ist.
AM  Hab ganz herzlichen Dank für dieses wesentliche Gespräch, Heide! //


Heide Göttner-Abendroth (79) gilt als Begründerin der modernen Matriarchatsforschung. Sie promovierte an der Universität München in Philosophie und Wissenschaftstheorie, gründete 1986 die freie »Akademie Hagia« und organisierte drei Weltkongresse für Matriarchatsforschung.
www.goettner-abendroth.de.


Weiterführende Literatur von Heide Göttner-Abendroth
Das Matriarchat, Band 1–3. Kohlhammer Verlag, 1988–2019 

Matriarchat in Südchina. Kohlhammer Verlag, 1998
Die tanzende Göttin. Frauenoffensive, 2001 (Neuauflage)
Frau Holle / Das Feenvolk der Dolomiten. Ulrike Helmer Verlag, 2005
Gesellschaft in Balance. Kohlhammer Verlag, 2006 (Tagungsband)
Der Weg zu einer egalitären Gesellschaft. Drachen Verlag, 2008
Am Anfang die Mütter. Kohlhammer Verlag, 2011
Die Göttin und ihr Heros. Kohlhammer Verlag, 2011 (Neuauflage)
Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart. Kohlhammer Verlag, 2021


weitere Artikel aus Ausgabe #61

Photo

Bäume in Gemeinschaft

Oya Ausgabe 51 »Garten Erde« handelte von den Möglichkeiten einer poly-kulturellen Landwirtschaft, die wieder gezielt Gehölze einbezieht. Im Beitrag »Den Garten Eden pflanzen?« wurde unter anderem die Methode angesprochen, neu gepflanzten fruchttragenden

Photo
von Charlotte Selker

Vertrauensbildung in der Vorarbeit

Lotte Selker: Auf dem Kongress »Zukunft für alle«, den du mitorganisiert hast, gab es ein Treffen, bei dem sich eine deutsche und eine kenianische Schule mit dem Thema »Machtkritik in Nord-Süd-Partnerschaften« auseinandergesetzt haben. Parallel fand ein Austausch

Photo
von Dieter Halbach

Was ist für mich Gemeinschaft?

Seit zehn Jahren habe ich nun für Oya geschrieben, und davor bereits viele Jahre mit meinem inzwischen verstorbenen Freund Wolfram Nolte unter dem Label »eurotopia – Leben in Gemeinschaft« in der Vorgängerzeitschrift »KursKontakte«. In einem programmatischen

Ausgabe #61
Matriarchale Perspektiven

Cover OYA-Ausgabe 61
Neuigkeiten aus der Redaktion