Bildung

Vertrauensbildung in der Vorarbeit

Oya-Redakteurin Lotte Selker sprach mit Christoph Sanders vom »Konzeptwerk Neue Ökonomie«, der auf dem Kongress »Zukunft für Alle« (siehe Ausgabe 59) unter dem Motto »Schule, Macht, Zukunft« verschiedene macht- und hierar­chiekritische Bildungsformate ­organisiert und ­erprobt hat.von Charlotte Selker, erschienen in Ausgabe #61/2020
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© Tim Wagner

Lotte Selker: Auf dem Kongress »Zukunft für alle«, den du mitorganisiert hast, gab es ein Treffen, bei dem sich eine deutsche und eine kenianische Schule mit dem Thema »Machtkritik in Nord-Süd-Partnerschaften« auseinandergesetzt haben. Parallel fand ein Austausch zu Hierarchiekritik statt, der von Schülerinnen und Schülern organisiert wurde. Wie war es, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die sich sonst eher selten auf Kongressen treffen? 
Christoph Sanders: Ich fand das sehr schön und fruchtbar – vor allem, dass die über die Schulpartnerschaft Mitwirkenden sich anhand ihres eigenen Beispiels zu Machtverhältnissen ausgetauscht haben. Generell ist es ein herausfordernder Weg, mehr Menschen in Prozesse des sozial-ökologischen Wandels und entsprechender Bildungsarbeit einzubeziehen  – insbesondere Menschen, die dort derzeit aufgrund von struktureller Diskriminierung wenig vertreten sind. Hier bedarf es einer Art Vertrauensbildung in der Vorarbeit. Wir können nicht einfach einen Rahmen schaffen und dann Menschen dazu einladen, die sonst nicht Teil solcher Räume sind. Daher haben wir schon in der Projektplanung Menschen involviert, die bisher kaum vertreten waren, damit sie schon vorab ihre Interessen im Kontext sozial-ökologischen Wandels einbringen können. Ansonsten wäre der Raum ja schon unter Ausschluss ihrer Bedarfe gestaltet worden und sie hätten sich dann womöglich wenig angesprochen oder gar instrumentalisiert gefühlt.


Ihr habt auch einen Workshop mit Gülcan Nitsch vom Berliner Verein »Yeşil Çember« organisiert, der sich für Bildung für nachhaltige Entwicklung und interkulturelle Arbeit engagiert. Wie war das? 
Die Zusammenarbeit war sehr interessant! Der Verein arbeitet ja vor allem in der türkischen Community. Im Workshop sind sich etwa 20 Menschen begegnet, die ein ähnliches Interesse, jedoch ganz unterschiedliche Erfahrungshintergründe haben. Für mich persönlich war es toll, dass sich so ein Austausch ereignete – und für die nächsten zwei Jahre haben wir eine Kooperation zwischen unseren Vereinen geplant. Gülcan Nitsch hat Problembeispiele aus ihren Projekten vorgestellt und die Teilnehmenden dazu eingeladen, gemeinsam Lösungen zu finden: Wie könnte etwa damit umgegangen werden, wenn beim gemeinsamen Sommerfest eines türkischen und eines deutschen Vereins der türkische Verein darauf bestünde, dass es keinen Alkohol geben solle? Die Teilnehmenden haben über solche Fallbeispiele diskutiert und fanden sie teilweise stereotyp. Es gäbe ja auch Muslime, die Alkohol trinken. Die Diskussion war vielseitig und gut, aber es war auch ein heikles Thema, weil die Teilnehmenden ja der Expertin nicht die Perspektive absprechen wollten und konnten.


Als Bildungsteam beschäftigt ihr euch seit einigen Jahren mit politischen und sozial-ökologischen, aber auch mit erfahrungsorientierten Formaten. Was genau wollt ihr vermitteln?
Dass unsere Lebensweise, vor allem im globalen Norden, auf der Ausbeutung von Mensch und Natur basiert. Diese Analyse ist nicht nur Grundlage dafür, wie wir über Transformation sprechen, sondern auch dafür, wie wir unsere Bildungsarbeit gestalten. Es geht um eine Transformation hin zu solidarischen Lebensweisen, die eine Zukunft für alle und globale Gerechtigkeit im Blick haben. Die Ausbeutung von Mensch und Natur geht mit Diskriminierung einher. Sie fußt auf kolonialistischen Kontinuitäten wie etwa Rassismus und den damit verbundenen ungerechten Welthandelsstrukturen. Diese prägen bis heute die Art, wie wir Süd-Nord-Partnerschaften aufbauen, oder die noch viel zu verbreitete Erwartung, beim »Globalen Lernen« ginge es darum, dass sich Länder des Globalen Südens im Sinn der Industriegesellschaften »entwickeln« sollten. Ein Problem ist, dass Globales Lernen oder Bildung für nachhaltige Entwicklung vor allem von und für Menschen gemacht wird, die kaum von diesen Ungerechtigkeiten betroffen sind.


Das Problem beschäftigt viele Menschen, die sich mit transformativer Bildung auseinandersetzen. Wie versucht ihr, dem zu begegnen? Welche Hürden gibt es?
Wir versuchen, Räume zu öffnen, die es ermöglichen, vielfältigere Perspektiven einzunehmen: Räume, in denen Menschen reflektieren können, was ihre Prägungen sind und wie diese ihr Handeln beeinflussen. Neben diesem Perspektivwechsel möchten wir die Bildungsarbeit prozessorientierter gestalten. Wir lassen mehr Offenheit für die Wünsche und Bedarfe, die dann entstehen, wenn Menschen, die wenig vertraut miteinander sind, sich möglichst empathisch und solidarisch begegnen und zu relevanten Fragen austauschen  – etwa über die Zukunft des Care-Sektors. Unser Anliegen ist es, Menschen durch unsere Bildungsarbeit für einen sozial-ökologischen Wandel zu stärken.

Es macht mich froh, wenn Initiativen, die wenig repräsentierte Perspektiven vertreten, Lust haben, mit uns solche Räume zu gestalten. Auf dem Kongress gab es aber auch eine Situation, die mich sehr aufgewühlt hat: Wir wollten ein Online-Podium mit der stellvertretenden Leiterin des brasilianischen Paulo-Freire-Instituts in São Paulo veranstalten, da sie viel Erfahrung beim Aufbau demokratischer Schulräte hat. Sie hatte zugesagt, aber wir haben es leider nicht geschafft, früh genug eine Übersetzung zu organisieren. Dies hat sie verunsichert, weshalb sie dann doch absagte – auch weil sie meinte, das Problem seien ihre Sprachkenntnisse! Ich war wütend und traurig, weil wir letztlich durch unsere eigene Überforderung einen Ausschluss verursacht haben.


Ein Schwerpunkt des Bildungsstrangs war das Thema »Schule«. Warum dieser Fokus?
In der Planung des Kongresses haben wir Lernende involviert und mit dem Projekt »Schule, Klima, Wandel« des Bildungswerks für Schülervertretung und Schülerbeteiligung zusammengearbeitet. Ein Ergebnis war ein Workshop zum Thema »Um wessen Wissen geht es eigentlich?«. Schule ist ein »vermachteter« Raum, der enorm prägend für die meisten Menschen unserer Gesellschaft ist und in dem immer noch Expertenwissen von oben herab durch Lehrkräfte vermittelt wird. Wir brauchen eine partizipativere, lebensnähere und kritischere Lehrpraxis! Wir haben den Fokus auf das Thema »Schule« gelegt, weil wir neue Formen des Lehrens stärken und über eine Auseinandersetzung mit Schul-Utopien zeigen wollten, was uns heute noch daran hindert, eine andere Art von Schule zu leben. Zum Beispiel wird häufig Faktenwissen zu ökologischer Landwirtschaft vermittelt, doch es gibt kein entsprechendes Essen an den Schulen. Ein wichtiges Anliegen war uns auch die Stärkung und Einbeziehung engagierter Lehrender.


Was sind weitere Merkmale einer solchen Zukunfts-Schule? 
Für den Kreis, der den Bildungsstrang organisiert hat, gehören dazu selbstbestimmtes Lernen und möglichst wenige Hierarchien. Wir wünschen uns Schule als einen Ort, der offen, transparent und sensibel für Diskriminierung ist, wo alle Menschen hinkommen können, wo globaler Austausch auf gleicher Augenhöhe und solidarische Lebensweisen selbstverständlich sind. Das kann auch architektonisch unterstützt werden, indem die Schule stärker in die Lebenswelt und die Natur eingebettet ist.


Was wäre deiner Meinung nach eine zukunftsfähige Bildung, die sich auf unsere Beziehung zur Natur auswirkt?
Es gibt viele reformpädagogische Konzepte, die versuchen, das Lernen naturnäher und erfahrungsorientierter zu gestalten. Das halte ich für wichtig, weil der Aspekt des intrinsisch motivierten Lernens zentral ist. In der Hirnforschung wurde belegt, dass Lernen durch reine Wissensvermittlung nicht gut funktioniert, weil dabei nicht an eigene Erfahrungen und Fragen angeknüpft werden kann. Synapsenstrukturen bauen sich besser um, wenn wir mit dem ganzen Körper und mit positiven Emotionen lernen. Jedoch ist nicht vorausgesetzt, dass diese Ansätze auch machtkritisch sind und eine Auseinandersetzung mit den je eigenen Weltbildern ermöglichen. Ich glaube, kritische politische Bildung wird noch zu selten mit Erfahrungslernen verbunden. Ein gelungenes Beispiel wäre ein Theater-Workshop mit Methoden des »Theaters der Unterdrückten«, bei dem es darum ging, wie der Klimawandel mit den persönlichen Lebensweisen sowie mit globalen Ausbeutungsstrukturen und Rassismus zusammenhängt.


Welche Art von Auseinandersetzung hältst du persönlich für wichtig? 
Ich finde es wichtig, dass Menschen, die diesen Ansatz weitertragen, sich mit ihren eigenen Positionen, Prägungen und Haltungen auseinandersetzen. Kritische, erfahrungsbasierte und stärkende Bildungsräume zu öffnen, kann nur dann gelingen, wenn die daran Beteiligten sich fragen: »Wessen Wissen vermittele ich? Welche Ausschlüsse erzeuge ich? Wen behandele ich wie, und warum? Warum mache ich was?« Das sind Prozesse, die etwa auch bei Anti-Rassismus-Trainings oder bei der Auseinandersetzung mit Sexismus angestoßen werden. Im Konzeptwerk Neue Ökonomie versuchen wir, solche Prozesse aktiv zu fördern, und holen uns Hilfe bei erfahreneren Menschen. Bei der Organisation von diskriminierungssensibleren Veranstaltungen machen wir natürlich auch Fehler. Ich persönlich bin beispielsweise gerade verunsichert, ob es angemessen ist, dass ich in diesem öffentlichen Interview aus meiner Position heraus über diese Themen spreche. Sollte das nicht eigentlich eine Person tun, deren Per-spektive weniger Beachtung findet als jene eines jungen weißen Mannes? Auch frage ich mich oft, ob ich nicht mehr Zeit auf das Organisieren von Lernräumen, die andere – und nicht ich – konkret ausgestalten, verwenden sollte. Solche Verunsicherungen sind zwar unangenehm, aber auch wichtig!


Herzlichen Dank für das aufschlussreiche Gespräch! //


Christoph Sanders (35) organisiert, gestaltet und erprobt Lernräume, etwa bei den Konferenzen »Bildung, Macht, Zukunft« und »Zukunft für alle«. Seit 2004 arbeitet er im Bildungsteam des »Konzeptwerks Neue Ökonomie«
in Leipzig. 
konzeptwerk-neue-oekonomie.org


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