Titelthema

Gesellschaft ohne Kinder?

Nicola Eschen ist Mutter und Mitherausgeberin des Buchs »Links leben mit Kindern«. Anja Marwege und Maria König sprachen mit ihr darüber, wie politisches Engagement und das Leben mit Kindern zusammenpassen.von Maria König, Anja Marwege, Nicola Eschen, erschienen in Ausgabe #61/2020
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Anja Marwege  Nicola, zusammen mit Almut Birken hast du in eurem Buch über 30 biografische Geschichten zusammengetragen, in denen Menschen aus dem linken Umfeld von ihrem Leben mit Kindern erzählen. Teilweise sind das frustrierende Erfahrungen, teilweise sind kreative, von festen Rollenzuschreibungen losgelöste Familienformen entstanden. Wie kam es dazu?

Nicola Eschen  Es gibt diese typischen Forderungen, die wir in linken Zusammenhängen oft hören: »Patriarchat auflösen!« »Kleinfamilie überwinden!« Wir waren uns sicher, dass solche Forderungen in die richtige Richtung weisen. Aber oft bleibt es bei leeren Worthülsen, die nicht ausbuchstabiert werden. Wir fragten uns: Wie kommt es zu dieser Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit? Warum scheitern einige wunderbare Versuche grandios? Wo liegt die Schwierigkeit: in unserem politischen Willen oder in der Ausformulierung unserer Ideale? Um das herauszufinden, mussten wir verstehen, was bislang oft noch falsch läuft, wenn wir unsere Vorstellungen von einer »Care Revolution«, einer Revolution der Sorgetätigkeit, im Alltag ausleben. Das Buch ist auch deshalb entstanden, weil Almut und ich krachen gegangen sind mit dem Versuch, uns in einem Hausprojekt mit anderen Erwachsenen und Kindern und miteinander enger zu verweben.

AM  Was hast du dabei erlebt? Was ist dein Eindruck, woran scheitern linke Familienprojekte?

NE  Sie scheitern am Mangel an Erfahrung, wie sich die Kluft zwischen Elterngesellschaft und Nicht-Eltern überbrücken lässt. Sie werden zermürbt von einer strukturell kinderfeindlichen Welt. Sie scheitern an der kapitalistischen Arbeitslogik, die selbst für linke politische Gruppen gilt.

Nach der Geburt meines ersten Kindes empörte es mich, wie sehr ich plötzlich an einen Ort und einen bestimmten Ablauf gebunden war und dass ich mich kaum mehr politisch einmischen konnte. Ich fühlte mich zwangsweise auf meine Herkunftsfamilie – die ich mag! – zurückgeworfen. Ich war von der Annahme ausgegangen, dass zu meinem schönen Leben nun noch Kinder dazukommen würden, und nicht, dass Kinder eine Alternative zu meinem bisherigen Leben sein würden. In dem Hausprojekt, in das ich dann mit meiner Partnerin zog, stellte sich heraus, dass auch dieser Weg, sich mit mehr Menschen zu verbinden, nicht leicht ist. Wir versuchten, das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen beziehungsreicher zu gestalten als nach dem Modell der eingeschworenen Eltern-Kind-Gemeinschaft. Wir wollten uns als Gruppe verbindlich umeinander kümmern. Doch der Wunsch nach einem solidarischen Leben allein reichte nicht, um alle Beteiligten im Alltag und über die Jahre zu tragen. Ein Streit führte dazu, dass eine größere Gruppe von Menschen das Projekt verließ. Auch ich bin am Ende mit den beiden Kindern und meiner Liebsten ausgezogen. 

Maria König  Bei mir war es ähnlich. Drei Jahre lang habe ich mit Menschen aus meinem Kiez versucht, im Alltag füreinander da zu sein. Wir haben nicht zusammengewohnt, aber uns oft getroffen und die Kinder dabei einbezogen. Das war alles ganz zart und völlig anders, als ich es gewohnt war, eine schöne und prägende Zeit. Aber 2016 ist dann das Projekt zerbrochen, vor allem wegen Konflikten und unterschiedlicher Vorstellungen vom Umgang mit Hierarchie. Ich stand dann von jetzt auf gleich allein da mit den drei Kindern, der Vater war da, aber darüber hinaus hatte ich plötzlich kein soziales Netz mehr.

AM  Was habt ihr dann getan?

NE  Heute wohne ich mit meinen beiden Kindern und meiner Partnerin in einer sehr zugewandten WG mit Freunden und Freundinnen, unter denen ein weiteres Kind ist, mit dem ich schon im Hausprojekt zusammengelebt habe. Anders als viele Hausprojekte ist die WG nicht gleichzeitig auch ein öffentlicher und politischer Ort. 

MK  Ich lebe seit drei Jahren in einem Nestmodell, das heißt, meine drei Kinder leben kontinuierlich in einer Wohnung, während ich mich mit dem Vater beim Wohnen und Leben mit den Kindern abwechsele. Wenn er bei ihnen ist, wohne ich in einer WG mit drei weiteren Frauen. Bin ich bei den Kindern, zieht er in die Wohnung, die er mit seiner Lebensgefährtin teilt. Zwei Wohnorte zu haben, bedeutet, dass ich zeitweise komplett raus bin aus der Fürsorgearbeit und dann wieder allein mit den Kindern. Es ist, als lebte ich zwei unterschiedliche Leben. Der Traum, in einer Gemeinschaft meine Kleinfamilie zu erweitern, ist gescheitert. In vielerlei Hinsicht ist das Leben, das ich jetzt führe, nicht das, was ich mir erträumt habe, aber es ermöglicht mir immerhin Freiräume jenseits der Kleinfamilie.

AM  Co-Eltern, »Care Community« oder Patchwork – Kinder wachsen heute in vielfältigen Familienformen auf, viele davon tauchen in eurem Buch auf. Familien jenseits der Kleinfamilie stoßen aber auch an Grenzen, sei es im rechtlichen Sinne oder im Zusammensein mit anderen, in existierenden Institutionen wie Schule, Kindergarten, Job, der Krankenkasse oder dem Finanzamt. Welche Geschichte hat dich besonders berührt?

NE  Mir fällt als erstes Sophie ein. Sie hatte sich mit drei anderen Menschen entschieden, gemeinsam Eltern zu werden. Als sie mir erzählte, wie sie zu diesem werdenden Menschen »ja« gesagt hat, dachte ich: Genau diese endgültige Entscheidung macht Elternschaft aus. Das Beispiel der vier Erwachsenen zeigt: Verwandtschaft oder Liebesbeziehung sind keine Voraussetzungen fürs Elternsein, sondern die Entscheidung, für ein Kind zu sorgen. Jedoch ist dies eine tragische Geschichte, denn im Lauf der Schwangerschaft haben die leiblichen Eltern entschieden, das Kind doch allein, ohne die Co-Eltern, großzuziehen. Sophie litt lange und tief unter dieser Entscheidung. Aber kaum jemand zeigte Verständnis für sie. Dadurch, dass sie kein leibliches Kind verloren hatte, behielt ihr Verlust etwas Unwirkliches, Unerklärbares. Obwohl sie die gleiche Entscheidung getroffen hatte wie die anderen drei beteiligten Erwachsenen, konnten Dritte diese Entscheidung spontan in Frage stellen.

Die Erwartungen von außen an mögliche Eltern sind so ungleich verteilt: Eine leibliche Mutter bekommt viel Widerstand zu spüren, wenn sie »Nein« zu einem Kind sagt. Sie muss in der Regel davon ausgehen, dass an ihr alles hängenbleibt, was neben ihr kein anderer Mensch tun will. So sehr wie leibliche Mütter müssen sich leibliche Väter nicht erklären, wenn sie die Fürsorge-Rolle nicht annehmen. Sie dürfen scheinbar respektablerweise nein zu einem Kind sagen. Andererseits kann es ihnen passieren, dass sie gegen ihren Willen aus der Verantwortung herausgedrängt werden, obwohl sie hatten »Ja« sagen wollen. Zumindest aber haben die Kinder und Väter ein Recht darauf, einander zu sehen, auch wenn es unter den Erwachsenen Streit gibt. Aber wie steht es mit einer Co-Mutter? Die Rechtslage ist so, dass sie keinerlei Ansprüche hat. Sophies Umfeld hat nicht verstanden, dass sie ein Kind verloren hat. 

MK  Als mein Gemeinschaftsprojekt scheiterte, haben meine Kinder die anderen Erwachsenen als Bezugsmenschen verloren. Seitdem bin ich unsicher, wenn es darum geht, meinen Kindern Beziehungen zu Menschen zuzumuten, die nicht bis ans Ende ihres Lebens da sein werden. Wie können verbindliche Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen entstehen? Jenseits biologischer Verwandtschaft hat auch unser Rechtssystem keine Sensibilität für die Qualität, dass sich jemand bereiterklärt, verlässlich für einen anderen Menschen dazusein. Wie können Orte als Gravitationszentrum für gemeinsame Fürsorge entstehen und gestaltet werden? 

NE  Ja, wenn ich in manchen Momenten sage: »Was mir geblieben ist, das ist die Kleinfamilie«, liegt das zu einem großen Teil daran, dass sie so gut abgesichert und anerkannt ist. Können wir uns von dieser Absicherung nicht etwas abgucken für die ganzen anderen Lebensformen mit Kindern? – Vor allem, weil wir mit diesen neuen Formen noch so viel herumexperimentieren und ausprobieren müssen. Als unsere enge Kinder-Connection zerbrach, habe ich bedauert, dass es keine »Paarberatung« für unsere Gemeinschaft gab, also für diejenigen, die sich bereiterklärt haben, für ein Kind zu sorgen, ohne dass dieses Beziehungsverhältnis einen rechtlich anerkannten Status hat. Was wäre, wenn es eine betreute Übergabe auch für erwachsene Freunde und Freundinnen gäbe? Bei verkrachten, eingetragenen Eltern habe ich es als Überbrückung in der Zeit der Trennung als sehr -hilfreich -wahrgenommen, dass sich die Kinder mit einem Elternteil in Familienzentren treffen konnten, ohne dem anderen Elternteil zu begegnen. Damit so etwas, als Beispiel, auch für uns entstehen kann, sollten wir einander viel mehr von unseren Experimenten erzählen und davon, wie wir es geschafft haben, Absicherungen aufzubauen. 

AM  Auf dem Hof, auf dem ich mit meiner Kleinfamilie und einer anderen Großfamilie lebe, verbinden sich zwei Familien zu etwas Clanartigem. In unzähligen Momenten im Alltag lösen sich die inneren Grenzen einfach auf, die Kinder fließen mal hier, mal dort mit. Das heißt aber nicht, dass wir mit den Zwängen, denen allein lebende Kleinfamilien ausgesetzt sind, nicht konfrontiert wären. Zum Beispiel kennen wir die Überforderung bei zu viel Zeit allein mit den Kindern; und das Gefühl von gesellschaftlicher Isolation bleiben mitunter auch dort präsent. 

NE  Zu einem vollständigen Leben gehört für mich dazu, auch nach außen treten zu können. Aber das ist schwer, solange Eltern – und oft Mütter – fast alleine für ihre Kinder zuständig sind. Umgekehrt gibt es viele Menschen, denen im Alltag gar keine Kinder begegnen. Kinder sind so gut wegorganisiert, dass viele in ihrer Lohnarbeit oder Freizeitgestaltung niemals auf Kinder treffen. Das Resultat ist, dass Menschen, die dreißig oder sogar fünfzig Jahre alt sind, selbst noch nie mit einem Kind zusammengelebt haben und gar nicht wissen, wie ein Tagesablauf mit Kind aussieht. Das macht hilflos im Kontakt. Aber zum Menschsein gehört es dazu, Verantwortung für Kinder zu tragen, weil diese ein Teil unserer Gesellschaft sind – unabhängig davon, ob ich nun selbst Kinder bekomme oder nicht. Fürsorge muss zum Leben einfach dazugehören. Wir alle brauchen Fürsorge durch andere; und solange man vom Umfang nicht überfahren wird, tut es gut, fürsorglich zu sein.

AM  Wir sprechen hier über viel mehr als über den Alltag mit Kindern, es geht um das Zusammenleben von uns allen in dieser Gesellschaft.

NE  Ja, es ist der Versuch, die Logik der menschlichen Zuwendung als Prinzip auf alle anderen gesellschaftlichen Bereiche auszudehnen. Kinder sind in der Lage, ganz verschiedene Arten von Beziehungen zu knüpfen. Nicht jede Beziehung zu einem Kind muss von Beständigkeit und Innigkeit zeugen. Nicht alle müssen Eltern oder enge Bezugspersonen sein. Einige Menschen reagieren toll auf Kinder, wenn sie ihnen auf der Straße begegnen. Die meisten aber reagieren gar nicht. Warum sollten Kinder nicht den ganzen Tag in Sichtweite von Erwachsenen sein dürfen, auch zu solchen, die nicht ihre engen Bezugsmenschen sind? Zwar ist die Frage, wer sich um ein Kind kümmert, mitunter dramatisch. Aber die Frage, wer ein Kind treffen, mit ihm in Kontakt stehen und es kennenlernen kann, ist eine ganz einfache. 

AM  Da fehlt uns jahrhundertlange Praxis, wir haben es über die Zeit verlernt. 

NE  Aber es gibt Anknüpfungsmöglichkeiten. Als Jugendliche war ich viel als Babysitterin unterwegs. Aus dieser Zeit gibt es zwei Kinder, die ich in meinem Herzen trage. Dann bin ich als junge Erwachsene in eine andere Stadt gezogen und der Kontakt verlief. Nach langer Zeit traf ich das eine Kind wieder und spürte: Wir kennen uns. Die Normalität mit diesem Kind, wie ich sie damals als Jugendliche hatte, hätte ich gerne fortgeführt. 

AM  Der Ausdruck »selbstgewählte Bezogenheit« – eine Abwandlung der selbstgewählten Abhängigkeit – die in linken Zusammenhängen verwendet wird, gefällt mir, um das zu beschreiben, was ihr in den zart wurzelnden Versuchen schildert. Habt tausend Dank für das Gespräch!


Wir halten inne und lassen diese Momente des verbindenden
Erinnerns, des Bedauerns und der Freude sacken, bevor wir uns
verabschieden. //



Nicola Eschen (35) ist Trainerin für Social Justice und Radical
Diversity und setzt als solche Diskriminierung eine hoffnungsvolle Haltung entgegen: die Vorstellung, allein das radikale Vertrauen in Verschiedenheit versetze uns in die Lage, Probleme in annehmbarer Weise zu lösen. Sie brennt für Unternehmungen, die ohne Tauschlogik auskommen.

Aus der Rolle fallen?

Almut Birken und Nicola Eschen: Links leben mit Kindern,
Unrast-Verlag, 2020

www.linkslebenmitkindern.org


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