Vorurteile gegenüber matriarchalem Leben sind weitverbreitet. Sie lassen sich mit wenigen Worten entkräften.von Dagmar Margotsdotter, Uscha Madeisky, erschienen in Ausgabe #61/2020
Seit über zwanzig Jahren reisen wir für unsere Filme zu Matriarchaten auf der ganzen Welt. Mit manchen Frauen haben sich über die Jahre liebevolle Freundschaften gebildet. Wir besuchen sie immer wieder oder laden sie zu uns ein. Oft erleben wir, wie Menschen mit Vorbehalten und Missverständnissen auf matriarchale Lebensweisen reagieren, was bis zur Diffamierung ganzer Ethnien geht. Wir merken, dass die patriarchale Lebensweise, die uns seit Jahrtausenden prägt, im Weg steht, das matriarchale Leben wirklich zu verstehen, und sogar die existierenden matriarchalen Kulturen weiterer Unterwanderung und Zerstörung durch Herrschafts- und Machtgebaren aussetzt.
In einer matriarchalen Ehe, in der der Ehemann in das Haus seiner Frau zieht, ist der Mann den Schikanen seiner Schwiegermutter ausgesetzt.
Die Vorstellung, als Mann bei den Khasi in Nordindien oder den Minangkabau in Indonesien von einer Schwiegermutter schikaniert zu werden, ist eine Projektion patriarchaler Realitäten. Der Schwiegersohn kommt freiwillig ins Haus der Frau. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeiten und Verantwortlichkeiten liegt weiterhin bei seinem eigenen matrilinearen Clan. Im Haus seiner Frau wird er wie ein König behandelt, damit er bleibt und seinen angeheirateten Clan unterstützt. Selbstverständlich wird erwartet, dass er liebevoll und hilfsbereit ist. Die Clanmütter leiten ihre Familien nicht durch Schikane, sondern durch kompetenten Rat. Sie behalten den Überblick darüber, was zu tun ist, und schlagen vor, was zu tun ist, zwingen also niemanden zu ungeliebter Arbeit.
Mädchen erhalten zu früh und zu viel Verantwortung, das überfordert sie.
Dafür, wer die Nachfolgerin der »Matri-arche« – der verantwortungsvollsten Frau im Clan – wird, sind Freiwilligkeit und Eignung entscheidend. Bei den Khasi ist es üblich, dass die jüngste Tochter der »Khadduh«, wie dort die Hauptverantwortliche der Familie heißt, diese Aufgabe übernimmt; sie kann sie aber auch ablehnen. Bei den Mosuo in Südchina kristallisiert sich im Lauf eines Lebens heraus, welche Tochter besonders geeignet und gewillt ist, die zukünftige »Stempelträgerin« zu sein. Da die Verantwortung für Alle generell auf allen Schultern liegt, verteilt sie sich je nach Begabung und persönlichen Veranlagungen auf Mehrere. Daher ist die Vorstellung, eine einzelne Person könne »zu viel« Verantwortung haben, matriarchalen Gesellschaften fremd. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass ständig miteinander kommuniziert wird und Sorgen und Freuden geteilt werden, also nennen wir sie -»Ausgleichsgesellschaften«.
In Matriarchaten könnte ich meine Individualität nicht ausleben! Ich will nicht ewig am Rockzipfel meiner Mutter hängen.
Jedes Kind wird als ein aus dem Feld der Ahnen wiedergeborenes Wesen erlebt, das freiwillig und mit Talenten – im Sinn von Gaben –, die gerade für den Clan nötig sind, dorthin zurückkehrt. Als Kind und jugendliches Wesen wird es geschützt, damit sich diese Gaben entfalten können. Erziehung und Pädagogik in unserem Sinn sind in Matriarchaten unbekannt. Es wird angenommen, das Kind wisse, was es hier auf der Erde möchte, und es gilt zu verhindern, dass es dies vergisst. Jeder Wunsch – sei es ins Ausland zu gehen oder Zahnärztin zu werden – gilt als Ausdruck dieser Intention. Die Clanmitglieder hoffen, dass die Erfahrungen und Schätze, die ein Mensch außerhalb des Geburtsorts sammelt, diesen bereichern. Davon erzählt bei uns die matriarchale Mär »Hans im Glück«: Die Hauptsache ist, der junge Mann kommt irgendwann wieder zurück in den Schoß des matrilinearen Clans. Selbstentfaltung ist in matrilinearen Gesellschaften üblich, Einsamkeit dagegen nicht.
Der Mann hat in Matriarchaten keine oder nur marginale Rechte.
Recht, so wie wir es kennen, ist ein römi-sches Phänomen. Bis heute herrscht bei uns die Auffassung des »Römischen Rechts«: Nur das, was geschrieben steht, gilt als Gesetz. Traditionelle Kulturen pflegen hingegen Gewohnheitsrechte, die sich über Jahrhunderte hinweg bewährt haben und beständig in Weiterentwicklung begriffen sind. Mütterliche Gesellschaften haben in der Regel zwar das jeweils gültige Landesrecht zu befolgen. Nach innen hinein funktionieren sie jedoch gänzlich anders: nämlich nach dem Prinzip der Fürsorge und des Ausgleichs. Mütterlichkeit – das Wesen von Mutter Natur – ist hier das Vorbild. Einem Menschen, der gern andere versorgt und gern selbst versorgt wird – das entspricht dem matriarchalen Bewusstsein –, mangelt es nicht an -Rechten.
Der Mann erbt nichts und hat nichts zu vererben.
In Matriarchaten gibt es meist großes und kleines Erbe. Das große Erbe können Immobilien, Schmuck als Geldanlage, Autos und andere für das Leben zentrale Ressourcen sein. Als kleines Erbe bezeichnen die Khasi etwa Taschengeld für den täg-lichen Bedarf. Etwas zu erben, bedeutet in Matriarchaten etwas anderes als bei uns, nämlich: kollektives Vermögen zu mehren. Haus, Hof und Land werden dort gar nicht in unserem Sinn vererbt, sondern die gemeinschaftliche Verantwortung dafür wird weitergegeben. Haus, Hof und Land werden mit Frauen und Müttern assoziiert, Mobilität eher mit Männern. Durch ihre Sorge für die Kinder sind Frauen fester an eine Heimat gebunden und identifizieren sich mehr mit ihrem Lebensort; manche sagen: »Wir sind der Ort.«
Die Jüngeren müssen die Alten bedienen.
Die Vorstellung, den Alten »dienen« zu müssen, stammt aus hier-archischem Denken, in dem Herrschaft eine Rolle spielt. »Hierarchie« bedeutet ursprünglich aber »heilige Ordnung« (griechisch hieros archein) und hatte nichts mit Herrschaft zu tun. Alte Menschen erhalten die Hochachtung jüngerer durch gewachsene Autorität und eine gewachsene Ordnung – nicht zu verwechseln mit einer »Herrschaft der Alten«! Herrschaft ist in Matriarchaten unbekannt. Die Jüngeren möchten für die Alten sorgen. Dass sie Sonne und Mond vor mir selbst gesehen hat, gilt als ein Grund, dass ich eine Person achte. Solange es den Alten gutgeht, so lange geht es uns gut. Stirbt eine weise, alte Person, stirbt eine Bibliothek. Wer Leben geschenkt hat, ob durch Fürsorge oder Geburt, verdient also, verwöhnt zu werden. Wurden nicht auch die jungen Menschen als Babys und Kleinkinder verwöhnt? Während viele hierzulande sich nicht von Älteren dreinreden lassen wollen, hören matriarchale Menschen gerne auf Ältere, wobei diese allerdings keine Ratschläge geben. Sie kommunizieren mit Jüngeren, indem sie Geschichten aus ihrem Leben erzählen und damit Erfahrungen weitergeben.
Matriarchale Gesellschaften sind primitiv. Mädchen werden von der Bildung -abgehalten, weil sie Verantwortung für Haus und Hof tragen.
Die Khasi gehören der Bildungsschicht an: Sie legen Wert auf gute Ausbildung und leben in Frieden und Wohlstand, wie der deutsche Botschafter in Neu-Delhi am Telefon betonte: »… denn sie sind schlau, sie lassen sich von Frauen ›regieren‹.« Die Minangkabau gelten als »Schwaben« des Landes, was den allgemeinen Wohlstand betrifft, und haben die erste Universität in Indonesien gegründet. Der Lieblingsberuf der Frauen ist Lehrerin, sei es an Schulen oder Hochschulen.
Gerade, weil sich Mädchen und Frauen verantwortlich für Haus und Hof und besonders für die Menschen darin – die Alten und die Nachkommen – fühlen, wird Wert auf ihre Ausbildung gelegt. Kaddhus, die künftigen Matriarchen und Stempelträgerinnen, genießen eine besondere Ausbildung sowohl schulisch als auch in jeder anderen Hinsicht. Auch die -Mosuo, die zum größten Teil nicht lesen und -schreiben, sind äußert gebildet, nur nicht nach westlichen Maßstäben, sondern nach ihrer mündlichen Tradition: Sie erinnern in zahllosen Erzählungen an ihre Mythologie und Geschichte. Sie verfügen über ein umfassendes Subsistenzwissen, das ungleich komplexer ist als das einer europäischen Stadtbewohnerin. Auch ihr therapeutisches Wissen in ihrer traditionellen Heilkunde ist immens.
Der Autor Ricardo Coler benennt in seinem Buch »Das Paradies ist weiblich« die Fantasie vieler Männer, dass sie im Matriarchat Sexsklaven zu sein hätten.
Falls das wirklich jemand befürchtet, ist das reine Fantasie und Übertragung: Sex spielt in matriarchalen Gesellschaften eine völlig andere Rolle als in unserer Kultur – bzw. in der argentinischen des Autors. Solche Aussagen stellen die Diffamierung eines Volks (hier der Mosuo), das eigene geheime Traumdenken oder die eigenen kulturellen Traumatisierungen des Besorgten dar.
Matriarche sind schüchtern und reagieren nicht auf Flirtversuche.
Die Mosuo flirten anders, kein Mann flirtet dort mit einer Frau. Sie würde dies als unverschämt und respektlos erleben. Wir haben dies mit der Khasi Ileen Massar nach einem Kongress in Luxemburg erlebt. Ein Reporter, der ein Interview mit uns machen wollte, überschüttete sie mit »Komplimenten«: wie entzückend sie sei, und wenn er nicht schon verheiratet wäre, würde er sie sofort zur Frau nehmen wollen. Ileen verstummte augenblicklich. Im Interview brachte sie kein Wort heraus vor Zorn. Sie schwieg auch noch im Zug fast den halben Weg von Luxemburg nach Hamburg, bis es endlich aus ihr herausplatzte: Noch nie sei sie so respektlos von einem Mann angesprochen worden, wie von diesem! Niemals würde ein Mann der Khasi einer Frau ins Gesicht sagen, wie hübsch sie sei, dazu hätte er viel zu viel Respekt vor jeder Frau, vor Frauen im Allgemeinen.
Ich will mir nicht vorschreiben lassen, wie ich mein Familienleben gestalte.
Matriarchale Familienstrukturen überdauern seit Jahrtausenden, sie haben sich aus dem Naheliegenden herausgebildet. Es sind Familienformen, die dafür sorgen, dass niemand leidet, unter Druck steht oder etwas tun muss, was sie oder er nicht möchte. Möchte eine Frau, dass ihr Mann den ganzen Tag bei ihr bleibt, ist das möglich. So ist das Leben sehr frei. Jeder Familienclan findet für sich und immer wieder neu Formen der Aufgabenteilung, die am besten dazu geeignet sind, ganz dem Wohl der Familie zu dienen.
Ich will nicht in einer Familie leben, in der es ein Familienoberhaupt gibt, und mich dann von dieser Person maßregeln lassen.
Die Bezeichnung »Familienoberhaupt« ist irreführend. Nicht eine Person trägt die alleinige Verantwortung, sie liegt bei allen. Die Matriarche sammelt und verteilt Informationen zum Wohl aller und hält den Clan oder das Mutterhaus zusammen, indem sie die Traditionen pflegt. Jedes Familienmitglied ist gleichrangig und für das Familienleben wesentlich.
Wenn ich mich mit meiner Mutter gestritten habe, will ich auch gehen können.
Der Familienzusammenhalt ist so stark, dass Konflikte als etwas völlig Normales angesehen werden und stets gemeinsam nach einer Lösung gesucht wird. Es geht nicht darum, etwas möglichst perfekt zu machen, sondern darum, Fehlern und Unstimmigkeiten offen zu begegnen. Matri-linearität ist keine Wahlverwandtschaft, die durch äußere Lebensereignisse zu Trennung führt. Matrilinearität ist die jahrhunderttausendelange Verbindung durch die Geburt, eine Verbindung durch eine ewige Nabelschnur. Sie ist gewachsen und daher unerschütterlich. //
Dagmar Lilly Margotsdotter ist als Forschende in vielen Matriarchaten unterwegs. Sie schreibt und lehrt im Rahmen der »matria-Oase« und der Schule »MatriaCon«. www.matria.de
Uscha Madeisky, Filmproduzentin, Publizistin und Lehrende, arbeitet seit den 1990er Jahren über »untergegangene und lebende Matriarchate«, seit 2000 in enger Zusammenarbeit mit Dagmar Margotsdotter. www.tomult.de