Titelthema

Elternschaft als subversive Kraft

Die Haltung, die wir zur Überwindung des Kapitalismus brauchen, ist schon da.von Renate Börger, erschienen in Ausgabe #62/2020
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Unter der Fahne von »Parents for Future« demonstriere ich besonders gerne. »Eltern für Zukunft«, das ist ein schönes und einendes Motto.

Als Eltern – nicht nur als biologische – sind wir Anwältinnen und Anwälte des Lebendigen, in entgegengesetzter Haltung zur kapitalistischen Weltverwurstung und -verwüstung. Elterlichkeit ist eine Subversion, weil sie in der Alltagspraxis Werte verteidigt, die von unten den Widerstand nähren können; weil sie darauf besteht, ein liebevolles Weltverhältnis leben und üben zu wollen. Wenn Menschen sich auf das Leben mit Kindern -einlassen, tun sie dies allen Eigennutztheorien zum Trotz. Sie leitet die Ahnung, dass hier wesentliches Lebensglück geborgen liegt. Dieses Glück verkörpert ein Kontinuum, aber nicht als Innovation, die das Heutige rabiat verwirft, sondern als Werdendes, das an Gegebenes anknüpft. Kinder sind zudem Lehrmeister der Entschleunigung in zwingender, kleiner Person. Sie verteidigen Eigenzeiten im Schlafen und Wachen, im Lernen und Schauen, sie durchkreuzen jede »Effizienz«, indem sie andere Kriterien haben. Zwar ist die Kleinfamilie ein arg geschrumpfter Kosmos, von Selbstversorgung abgeschnitten und sozial keineswegs zu romantisieren, aber das Sorgen, Bangen und Blühen darin bilden ein schützenswertes Biotop.

Das Leben schult am besten

Elternschaft – auch in den Rollen von Paten-, Groß- und Leiheltern – ist eine Lebensschule, die selbstbewusst auf die Ökonomie ausgreifen sollte. Hier sind wir Kulturschaffende; hier geht es um das, was bejahenswert ist, was gerecht ist, wie Menschen streiten, welche Pflichten dazugehören und welche Freiheiten. Wir praktizieren suchend gutes Leben und balancieren Individualität und Gemeinsinn. 

Im Leben mit Kindern begleiten wir den Drang, sich zu verstehen, die eigenen Fähigkeiten zu bilden und an ernsthaften Aufgaben zu üben. Gelingen und Scheitern, geschwellte Brust und herabhängende Schultern, Übermut und bittere Tränen – das Leben schult hier höchstpersönlich. Elterlichkeit – auch uns selbst und unseren Projekten gegenüber – gelingt mit dem richtigen Maß an Zurückhaltung und Einflussnahme. Einerseits strickt das Lebensgewebe selbst, andererseits will der Faden mit Sinn für Begleitung geführt sein!

In Obhut nehmen, was berührt

Der Philosoph Hans Jonas nannte in »Das Prinzip Verantwortung« das elterliche Sorgen »die Keimform der Verantwortung«, er spricht von der Hegebedürftigkeit menschlichen Seins: Wir schauen in die Wiege, ergriffen von einer intuitiven Solidarität mit dem Lebensdrang an sich. Darin findet auch unser eigenes Gewordensein und Werdenwollen ein Echo.

Nach Hans Jonas entsteht Verantwortung, wenn uns etwas so berührt, dass wir es in unsere Obhut nehmen, dafür sorgen, darum bangen, uns daran freuen möchten. Das reicht über die Familie hinaus in ein Berührtsein von Lebewesen, die keine Menschen sind, in die Liebe zur Welt, in ein engagiertes Leben und in das sinn-erfüllte Tätigsein am Arbeitsplatz. Selbstverständlich haben auch Kinder Verantwortungsfreuden – gegenüber Kleineren, Tieren oder Aufgaben. 

Den »Fortsturz« beenden

Wir erwarten eine Wirtschaftspraxis, in der sich Verantwortung systemisch leben lässt, wo niemand eine schizophrene Rolle einnehmen muss, die der elterlichen Haltung in den Grundsätzen widerspricht, auch wenn die berufliche Rolle eine andere als die private ist. Wie schizophren ist es, wenn ich mein Kind in einen Tierqualjob entlassen soll, wenn es daheim einen Hasen geliebt hat! Wie schizophren, wenn ich beruflich an einem Zerstörungswerk teilnehmen soll, aber privat um ein Liebenswerk ringe! Handwerkerinnen und Pfleger wollen ihre Sache gut und in Ruhe machen dürfen, IT-Fachmenschen Anwendungen entwickeln, die sie ihren Kindern nicht verbieten würden. Ingenieurinnen würden wohl privat keinen Verschleiß bejahenswert finden, Gärtner keine Vergiftung. Es wäre zu lernen, dass Fortschritt kein Fortsturz sein kann, bei dem das Bestehende schnellstmöglich zu Müll gemacht wird, um das Regal für neue Produkte zu räumen. Es wäre zu üben, wie Kräfte geübt, aber nicht verschlissen werden; wie Lebensquellen genutzt, aber nicht ausgetrocknet werden; wie besondere Verdienste honoriert werden, ohne Ungerechtigkeit zu schaffen; wie Geld und Besitzrechte, Daten und Wissen kulturelle Werkzeuge sein können, ohne zu Machtmissbrauch, Privilegien und leistungsloser Anhäufung zu führen. Gewiss wäre auch zu üben, wie mit knappen Ressourcen klug gehaushaltet werden kann, aber nicht-knappe Güter wie Tugenden und Talente erblühen und wachsen können.

Auf solche Weise gäbe es mehr Leben in den Schulen, mehr Gelegenheiten zu ernsthaften Aufgaben: für Tiere sorgen, Essen anbauen, selber kochen, spülen, putzen, malern und Regale bauen. Wenn ich in einer Kaffeerösterei oder in einer Textilfirma arbeite, darf ich mich interessieren für Mitmenschen, die in der Ferne die Kaffeebohnen oder die Baumwolle anbauen, und wirke vielleicht am Branchen-kodex für fairen Handel mit. Wenn ich im Energiesektor arbeite, möchte ich gefragt sein, enkeltaugliche Wege für die Welt zu finden, anstatt den Standort gegen Konkurrenten abzuschotten. Wenn ich am Bau arbeite, kann ich mich auch für beste Baustoffe und gemeinnützigen Wohnungsbau interessieren. Als Wissenschaftlerin kann ich lebensfördernden Fragen nachgehen, als Landwirt Polykultur statt Monokultur schaffen. Wenn alle an der Stelle ihres Tuns ganzheitlich und gesetzlich abgestützt Verantwortung tragen können, wächst ein berechtigtes wechselseitiges Vertrauen und ein Verhältnis zur Welt, das die heutige, zur Lieblosigkeit verdammte »Weltverlassenheit« (Hannah Arendt) heilen kann. Es wäre Schluss mit all den Jobs, die Unkultur und Unfug hervorbringen.

Elterliches Sorgen bewahren

Gute Grundprinzipien, die wir alltäglich gegen den Sog der Verwertung und Verwurstung verteidigen, sind (noch) enthalten in Errungenschaften, die unsere Vorfahren erkämpft haben. Sie bilden einen reichen und lebensdienlichen Bestand, der – wenn auch gerupft – bewahrenswert ist, etwa unter dem Dach kommunaler Selbstbestimmung und öffentlich-rechtlicher Strukturen; in Genossenschaften und im berufsethischem Ehrenkodex wie dem »ehrbaren Kaufmann« oder dem hippokratischen Eid; im Amtseid »nach bestem Wissen und Gewissen«; und in so etwas wie dem »Besorgnisgrundsatz« im Wasserhaushaltsgesetz. Oder nehmen wir den schönen und tiefen Begriff der »Treuhänderschaft«, auch wenn er in der DDR-Abwicklung der Treuhandanstalt missbraucht wurde. Er bedeutet: anvertraut, zu treuen Händen, im Sinn des Gemeinwohls, fürsprechend insbesondere für die, die selbst nicht sprechen können: die Zukunft, die Erde, die Tiere.

Bewährte elterliche Elemente finden sich zudem im Prinzip der Subsistenz als Vorzug der Selbstversorgung, und im Prinzip der Subsidiarität als Vorzug überschaubarer Nahstrukturen. Wir sollten uns da als Bewahrerinnen des Bestehenden verstehen!

Grundrechte schützen

Auch in vielen Verfassungen ist die Gemeinwohlbindung des Eigentums und des Wirtschaftens verankert. Wir sollten sie schützen. Unter dem Dach der Vereinten Nationen wird um verfasste Menschenrechte gerungen, zum Beispiel um das Prinzip »Ernährungssouveränität«, das die Selbstversorgungsfähigkeit gegen ein überlebensnacktes »Recht auf Nahrung« verteidigt. Ernährungssouveränität umschließt den Zugang zu Land, Saatgut und fairen Märken, schützt vor Billigkonkurrenz, Billighühnern und Billigmilch. Das bloße Recht auf Nahrungssicherheit kann darauf reduziert werden, dass Nestlé, Aldi, BASF & Co per Drohnen staatlich bezahlte 1000-Kalorien-Pakete auf die Menschen abwerfen, deren Land sie für Agrarspekulationen aufgekauft haben. Hier die Notversorgung, die zur passiven Abhängigkeit verdammt – dort das Recht, für sich selbst zu sorgen. Mit einer elterlichen Haltung haben wir eine bewährte Leitidee für den Widerstand gegen das tödliche Plündern. Ich erlebe diese in den Bewegungen des Commonismus, der Gemeinwohlökonomie, in einem die planetaren Grenzen achtenden Ökosozialismus und im Weiterdenken von Wirtschaftsdemokratie.

Parents for Future! //


Renate Börger (66) ist Radiojournalistin im Unruhestand. Politisch ist sie bei Attac sowie der Ernst-Friedrich-Schumacher-Gesellschaft aktiv, elterlich in einem Mehrgenerationenhaus in München und bei den Tieren auf einem Biobauernhof.

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