Titelthema

Das Rad nicht immerzu neu erfinden

Oya-Redakteurin Andrea ­Vetter sprach mit der Sozialwissen­schaftlerin Gisela Notz über viel­fältige Lebensformen jenseits der staatlich geförderten Kleinfamilie.von Andrea Vetter, Gisela Notz, erschienen in Ausgabe #62/2020
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© Luca Abbiento

Andrea Vetter: Wie schön, dass ich mit dir über den Dächern Berlins in deiner Wohnung im Frauenwohnprojekt »Beginenhof« Kaffee trinken darf! Wir kennen uns schon länger aus alternativökonomischen Netzwerken, haben aber noch nie für Oya miteinander gesprochen. Du hast neben vielen anderen das Buch »Kritik des Familismus« geschrieben, in dem du dich mit der Wirkmächtigkeit der Form der Kleinfamilie auseinandersetzt. Wie ist diese entstanden? 
Gisela Notz: Die Kleinfamilie ist etwa 300 Jahre alt und hat sich mit Beginn der Industrialisierung herausgebildet. Sie ist hauptsächlich entstanden, weil sie gut für das kapitalistische System funktioniert hat. Es gibt eine Rede des Großindustriellen Alfred Krupp an seine männlichen Arbeiter, in der er ihnen empfiehlt, sich aus der großen Politik rauszuhalten und stattdessen nach der Arbeit nach Hause zu gehen, zu Frau und Kindern, um sich zu erholen. So sollte das funktionieren: Vater ist der Ernährer, Mutter kümmert sich um die Kinder, ist Hausfrau und später Zuverdienerin; sie haben ein oder zwei Kinder, früher waren es auch mehr. Doch das hat so für Arbeiter nie funktioniert. Entweder mussten die Frauen auch in die Fabrik gehen, oder in den Siedlungen im Ruhrgebiet – wie es auch bei meinen Großeltern in einer fränkischen Industriestadt war – -haben die Frauen sich um die Subsistenzarbeit gekümmert: Garten und Kleintierhaltung. Für die Ernährung der Familie war das ganz entscheidend. Die Idealfamilie ist heute noch in Illustrierten oder im Fernsehen sehr präsent, selbst alte Leute sieht man dort immer nur paarweise, oft kümmern sie sich um ihre Enkel – und dies, obwohl die Vater-Mutter-Kind-Familie überhaupt nicht die häufigste Lebensform ist. Mittlerweile bildet nur noch jeder fünfte Haushalt in Deutschland eine solche Kleinfamilie. Die anderen Haushalte bestehen aus anderen Konstellationen, die verbreitetste Haushaltsform ist der Single-Haushalt.


Aber die Kleinfamilie ist nicht nur ein ideelles Konstrukt, sondern wird von staatlicher Seite auch stark gefördert. 
 Mich hat interessiert, wie es zur Wirkmächtigkeit dieser Ideologie kommt, wo doch die Menschen heute in so vielfältigen Lebensformen leben. Es gab auch früher schon in jedem Dorf Alleinerziehende und Menschen, die anders gelebt haben. Seit 1949 steht »der Schutz von Ehe und Familie« jedoch im Grundgesetz. Dafür sorgten vor allem konservative Politiker und die christlichen Kirchen. Die im Parlamentarischen Rat vertretenen Sozialdemokratinnen waren angesichts der vielen »Mutterfamilien« nach dem Krieg der Meinung, der Schutz der Familie stelle eine Begrenzung der individuellen Grundrechte dar, sie wollten vor allem die Gleichstellung von »unehelichen« und »ehelichen« Kindern absichern. Durchgesetzt hat sich das christliche Familienbild mit dem »Letztentscheidungsrecht« des Mannes. 1953 hat Konrad Adenauer dann das Familienministerium erfunden, um das Bild von der Idealfamilie mit der Hausfrauenmutter wieder hochzuhalten. Damals gab es 2,5 Millionen Kriegerwitwen mit Kindern. Franz-Josef Wuermeling, der erste Familienminister, war ein katholischer Familienvater mit fünf Kindern. Er setzte auf Bevölkerungswachstum durch Wiederherstellung der »gottgewollten« »Normalfamilie«, auch »als Sicherung gegen die drohende kommunistische Gefahr der kinderfreudigen Völker des Ostens«. So wurden Alleinerziehenden als »Halbfamilien« oder »unvollständige Familien« alle möglichen Mängel zugeschrieben. 

Das hat sich mittlerweile geändert, alleinerziehende Frauen in meinem Alter haben den Verband der Alleinerziehenden gegründet und da auch wirklich ein Selbstbewusstsein entwickelt. Viele Frauen haben es geschafft, ihren Kindern eine gute Kindheit zu ermöglichen, auch ohne Vater. Und wer weiß, wie es gewesen wäre, wenn alle Väter zurückgekehrt wären und wieder die alten Patriarchen hätten sein wollen?


Dann kam die 68er-Bewegung. Welche neuen Familienformen wurden damals diskutiert?  
Die 68er Frauen kämpften dafür, politisch tätig sein zu können, obwohl sie Kinder, Familie und einen Haushalt hatten. Die damalige neue Frauenbewegung war keine Jammerbewegung. Die Frauen wollten die kapitalistisch-patriarchalen Verhältnisse verändern und übten Kritik an Ehe und Kleinfamilie. Wohngemeinschaft sahen sie als geeignete Lebensform, die sehr viel kinderfreundlicher war. Oft haben sich mehrere Kleinfamilien oder Frauen mit Kindern zusammengetan. Ich hatte damals eine sechsjährige Tochter und habe auch eine Wohngemeinschaft mitgegründet. Ich hätte nicht mit lauter Kleinfamilien oder Paaren wohnen wollen – Männer wie Frauen waren bei uns eigenständige Menschen. Ich bedauere heute, dass wir so wenig über unsere Erfahrungen aufgeschrieben haben. Neulich sagte ein junger Mensch bei einem Vortrag, dass es so wenige Vorbilder für andere Lebensformen gebe. Die gibt es jedoch – sie wurden damals gelebt. Aber als Vorbild wird auch heute immer noch in erster Linie auf die Kleinfamilien verwiesen – selbst für Patchworkfamilien ist das Vorbild die Ideologie der Kleinfamilie.


Hast du einen Vorschlag für eine bessere Familienform?  
Ich will keine andere Ideologie entwickeln, bewusst nicht. Aber ich hab mal ein Büchlein geschrieben: »Familien – Lebensformen zwischen Tradition und Utopie«. Da hab ich einfach um mich herum geschaut, was es gibt: Alleinerziehende, Patchworkfamilien, Singles, Wohngemeinschaften, Kinder mit zwei Müttern oder zwei Vätern, Kommunen und vieles andere. Ich möchte, dass diese Realität zur Kenntnis genommen wird. Ich wünsche mir, dass Menschen zusammenleben können, wie sie wollen: alleine, mit vielen – auch als Kleinfamilie, wenn sie das wollen. Doch aus einer bestimmten Lebensformentscheidung sollten weder steuerliche noch andere Vorteile erwachsen. In den letzten Jahren wurden homosexuelle Paare in die Begünstigungen der bürgerlichen Kleinfamilie mit einbezogen, das löst aber nicht das Grundproblem. Ich wünsche mir, dass die Bevorzugung der bürgerlichen Kleinfamilie wegfällt, dass Menschen nicht für eine bestimmte Lebensform belohnt werden. Familie wird unter anderem auch staatlich gefördert, um die familiäre Pflege für Ältere sicherzustellen. Damit ist sie jedoch oft überfordert. Wir brauchen keine Politik für Familien, finde ich, sondern Politik für Menschen. Kinder sollten unterstützt werden, ganz klar! Ich arbeite auch im »Bündnis Kindergrundsicherung« mit; dort wird die Förderung von Kindern nicht an eine bestimmte Lebensform geknüpft.


Du lebst selbst in einem Frauenwohnprojekt in Berlin-Kreuzberg. Was ist der »Beginenhof« genau?
 Das ist ein Wohnkomplex nur für Frauen, mit 53 Wohnungen. Es ist eine Wohnungseigentümerinnengemeinschaft. Die Philosophie ist »Eigentum in Frauenhand«, denn weltweit gehört ja immer noch etwa 90 Prozent des Eigentums Männern. Es wurde gebaut von einer Gruppe, die die Idee hatte, dass Frauen gemeinsam leben und alt werden können. Die Hälfte der Frauen war schon nicht mehr berufstätig, als wir zusammengezogen sind. Ich kam dazu, als ich verrentet wurde. Gemeinschaftlich zu leben, ist allerdings nicht so einfach in dieser Eigentumsform. Das Haus wurde von einem niederländischen Investor gebaut, der verschiedene Frauen-wohnprojekte realisiert hat, nach unserem noch zwei weitere Beginenhöfe in Berlin. Das ist kein »sozialer Unternehmer«, wie er manchmal dargestellt wird, es ist ein internationaler Konzern, der in eine Lücke gestoßen ist und einfach ein gutes Geschäft mit Eigentumswohnungen für Frauen gemacht hat. Die Eigen-tumsform führt aber dazu, dass jede vor allem ihre eigene Wohnung sieht, und jede kann damit auch machen, was sie will – so sind Wohnungen zum etwa doppelten Preis verkauft worden, zu dem sie vor dreizehn Jahren gekauft wurden. Das ist Teil der Gentrifizierung – in so einem Haus wollte ich eigentlich nicht leben.


Dürfen die Wohnungen denn nur wieder an Frauen verkauft werden?
Es gibt eine Sollbestimmung, die besagt, dass die Wohnungen nur an Frauen zu verkaufen oder zu vermieten sind. Das heißt nicht, dass hier nicht auch Männer als Partner mitleben können, aber die Wohnungen sollen in Frauenhand bleiben. Es ist dennoch ein sehr soziales Projekt, keine muss alleine sein. Wir hatten einige Corona-Fälle. Kaum hatte eine geschrieben: »Kann jemand für mich einkaufen?«, gingen schon fünf los! Wir engagieren uns etwa auch in der Schule oder beim Obdachlosen-projekt nebenan, als Lesepatinnen oder bei der Suppenausgabe.


Und wie organisiert ihr euch?  
Es gibt eine jährliche Eigentümerinnenversammlung, das müssen wir machen. Und dann gibt es einen monatlichen Jour fixe, bei dem wir Organisatorisches besprechen. Aber das machen mehr die älteren Frauen. Die Jüngeren haben eine andere Gruppe: »U-55«, dort treffen sie sich und tauschen sich aus. Es leben schon viele ältere Frauen hier, gefühlt die Hälfte sind ehemalige Lehrerinnen. Die jüngste Mieterin ist 29. In letzter Zeit haben wir einige Mieterinnen oder Untermieterinnen, die nicht weiße Deutsche sind, wie die Mehrheit sonst, das finde ich bereichernd. Aber es ist eben schon relativ teuer, das können sich nur bestimmte Frauen leisten. Ich hätte es gut gefunden, wenn das Mietshäusersyndikat hier zu Beginn Wohnungen gekauft hätte, was möglich gewesen wäre. Aber das passte den Akteurinnen nicht zum Motto »Eigentum in Frauenhand« – als ob nicht auch Gemeinschaftseigentum in Frauenhand sein könnte.


Dazu fallen mir Frauenbetriebe und -kollektive ein, von denen es hier in Kreuzberg ja auch einige gibt.
 Ja, in den 1970er Jahren haben sich etliche Frauenbetriebe gegründet – von Frauen, die Selbstverwaltung wollten, aber keine Lust auf das übliche patriarchale Gehabe hatten. Ich finde es wichtig, an solchen kollektiven Formen weiterzuarbeiten. Hier in Kreuzberg gibt es noch alte Selbstverwaltungsbetriebe wie die »Regenbogenfabrik« oder die »Schokofabrik«. Wenn ich möchte, kann ich hier in Kollektiven mein Fahrrad reparieren lassen, ins Kino gehen oder beim Frauenkollektiv »Kraut & Rüben« einkaufen, und es gibt auch Gaststätten, die Kollektive sind. Auch werden neue gegründet. Ich finde nach wie vor, dass Frauenprojekte etwas sehr Sinnvolles sind. Es gab ja auch schon in den 1920er Jahren solche Frauenbetriebe, es gab sie verstärkt in den 1970er Jahren und es gibt sie immer noch. Gerade hat ein neuer Frauenbuchladen eröffnet, der an diese Tradition anknüpfen will. Viele denken ja, sie sind die ersten, die Alternativen entwickeln. Aber es gibt so viele, die vieles schon vorher ausprobiert haben. Das Rad muss gar nicht neu erfunden werden! 


Und es ist ja auch eine wichtige Qualität, vergessene Dinge wieder ans Licht zu holen und sichtbar zu machen. Vielen Dank für das interessante Gespräch! //


Gisela Notz (79) schreibt und hält Vorträge zu alternativem Wirtschaften, anderen Lebensformen und der Geschichte von Frauenbewegungen. Sie lebt im Frauenwohnprojekt »Beginenhof« in Berlin-Kreuzberg, ist Autorin zahlreicher Bücher und Herausgeberin des Frauenkalenders »Wegbereiterinnen«. www.gisela-notz.de


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