Titelthema

»Wir Frauen haben gelernt, uns nährend zu verhalten«

Seit ihrer Schulzeit in Costa Rica suchen drei junge Erwachsene einen gemeinsamen Ort um zu halten und gehalten zu werden.von Nina Negi, erschienen in Ausgabe #62/2020
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© Karl Reuter / Charles-Olivier Levesque

Mir war schon immer klar, dass ich auch später in einem »Matriarchat« leben würde. Meine Familie war von Anfang an matriarchal geprägt; sie bestand aus meiner alleinerziehenden Mutter, meinen zwei Großmüttern und meiner Schwester. Obwohl diese Menschen überall in der Welt verteilt waren, war das meine Kernfamilie. In meinem Umfeld hatten immer die Frauen das Sagen – stark und gleichzeitig gefühlvoll, ein stabiles und liebevolles Netz, das immer für mich da war. Als ich älter wurde, setzte ich mich gründlicher mit der Idee von Matriarchaten auseinander und fragte mich mehr und mehr, was dieser Begriff eigentlich bedeute. Heute setze ich nach und nach Bausteine dafür zusammen.

In meiner Oberstufenzeit prägten mich die Sororidad-Frauenkreise – »Sororidad« bedeutet »Schwesternschaft«. Ich besuchte damals eine internationale Schule in Costa Rica, an der Menschen aus über 70 Ländern lernten und lebten. Ich hatte mich für dieses Internat beworben, weil mich dessen Fokus auf Eigeninitiative, proaktives Mitgestalten und kritisches Denken sehr ansprach. Eine Mitarbeitende namens Yuré, die mir bald zu einer Seelen-schwester und Lebensmentorin wurde, hielt dort Sororidad-Frauenkreise ab. Diese Treffen, die ungefähr einmal im Monat in einer locker und sicher gehaltenen Atmosphäre stattfanden, waren jeweils einem Bereich des Frauseins gewidmet. 

Schwesternschaft in der Schule

»Jedes Mal, wenn Frauen sich in einem Kreis versammeln, heilt die Welt ein Stückchen mehr«, sprach Yuré im ersten Kreis: »Ein Kreis von Frauen mag die mächtigste Kraft in der Welt sein.« Wir sprachen über unseren Blick auf andere Frauen und darüber, wie dieser so oft von Konkurrenzgedanken getrübt ist. Ich war überrascht, diese Konditionierung auch in mir wiederzufinden. Am stärksten bleiben mir von diesen Kreisen Gefühle der Geborgenheit, des Gehaltenwerdens und des Haltens: füreinander da zu sein, einander Fürsorge und Verständnis zu schenken – auf tiefer körperlicher Verbundenheit und Gleichheit basierend. 

Auch später, beim Mitorganisieren von Frauentag-Demos und in meiner jetzigen Ausbildung zur Hebamme in Berlin, setze ich mich weiter mit dem Frausein, dem Beisammensein und dem Einander-Halten auseinander. Wie relevant oder korrekt ist es aber heutzutage überhaupt noch, binäre, die Welt in Männer und Frauen einteilende Gender-Begriffe zu nutzen? Haben Matri-archate überhaupt mit dieser binären Logik zu tun oder basieren sie auf etwas ganz anderem? Ich spüre einen Zwiespalt zwischen den beiden Impulsen »Nein, wir brauchen solche heteronormativen Begriffe nicht mehr!« und »Aber ich spüre da etwas! Wenn Frauen bewusst zusammenkommen, gibt es etwas, das mich nährt und sich wichtig anfühlt!«.

Bei Frauenkreisen sowie in meiner Ausbildung zur Begleitung von Schwangeren und Gebärenden stoße ich oft auf diesen Zwiespalt. Ich frage mich: Wie können wir Hebammen es schaffen, diese unglaublichen Körper, die Leben zur Welt bringen, zu feiern, ohne andere Geschlechter auszuschließen oder geringzuschätzen? Auf der Suche nach Antworten stoße ich auf Fragen, die nur wieder in weiteren Fragen münden.

Unbehagen gemeinsam erforschen

So habe ich beschlossen, mich mit meinen beiden Seelenschwestern Paloma und Sophia, die ich in der Schule in Costa Rica kennengelernt hatte, zu diesen Fragen auszutauschen. Wir drei leben derzeit verstreut – Paloma studiert in den Vereinigten Staaten und Sophia in England. Während der Schulzeit hatten wir uns vorgenommen, später wieder zusammenzukommen und ein Matriarchat zu gründen. 


Nina Negi  Wir drei denken in letzter Zeit immer mehr und ernsthafter darüber nach, in ein, zwei Jahren zusammenzuziehen und in einem Zusammenhang, den ich »matriarchal« nennen würde, zu leben. Würdet ihr das auch so benennen, und was genau würde das bedeuten?

Sophia Goard  Als du uns zu diesem Gespräch eingeladen hast, Nina, fühlte ich ein Unbehagen: Viele meiner Einstellungen gegenüber Matriarchaten und Gemeinschaften haben sich verändert. Inzwischen will ich weder die binäre Logik bedienen, noch »aus dem System« aussteigen. Im letzten Jahr habe ich zu schätzen und zu respektieren gelernt, was unsere Gesellschaft auch alles an Funktionierendem geschaffen hat. Nehmt allein die Tatsache, dass Verkehrsnetzwerke funktionieren, und dass es beheizbare Häuser gibt! Die Idee einer Gemeinschaft, in der es ein Innen und ein Außen, ein Dazugehören und ein Nicht-Dazugehören gibt, stellt mich gerade vor Konflikte.

Paloma Tejero Caballo  In den letzten Jahren habe ich auch gelernt, immer mehr das zu sehen, was zwischen dem »Wir« und »den Anderen« ist. Es kann so viel dynamischer sein. Wir alle haben Beispiele von Gemeinschaften gesehen, die auf Absonderung basieren.

Wenn ich an Gemeinschaften denke, in denen ich künftig leben möchte, fallen mir nur Frauen ein. Das ist sicher rein zufällig, aber die meisten Menschen, mit denen ich über dieses Thema spreche und mit denen ich gemeinschaftlich inter-agiere, sind nun einmal Frauen. Oft haben sie eine gewisse Stärke, kombiniert mit Sanftheit und der Fähigkeit, zuhören zu können. Selbstverständlich ist es nicht nur Frauen vorbehalten, diese Fähigkeiten in sich zu vereinen, doch scheinen sie beim weiblichen Geschlecht präsenter zu sein.

Wir Frauen wurden sozialisiert, uns fürsorglich und nährend zu verhalten. Nach einem Semester der queeren Philosophie finde ich, dass bereits die Kategorie »Frauen« ohne weitere Verdeutlichung und Klarstellung problematisch ist! 

SG  Ich habe mir gerade das Werk »Black Elk Speaks«, in dem der amerikanische Autor die Rede eines Lakota-Medizinmanns wiedergibt, als Hörbuch angehört. Hier findet sich das Konzept vom »Hoop«, dem »Reif« oder »Kreis«. Demnach drückt sich nicht nur die nicht-menschliche Natur, sondern auch menschliche Macht in Kreisen aus. Solche Kreise werden laut Black Elk von Frauen geprägt und einberufen. Hierbei meine ich selbstverständlich nie »die Frau«, sondern beziehe mich auf das weibliche und männliche Prinzip. Das männliche Prinzip trägt den Hoop dorthin, wo er sein muss, sammelt das Feuerholz, bringt Nahrung herbei, um den Hoop in Schwung zu bringen – das ist selbstverständlich alles metaphorisch gemeint.

Als ich dich, Nina, im Februar besuchte, befand ich mich in einer Art »Dysphorie«. Mein Körper fühlte sich so an, als hätte ich männliche Körperteile, und ich beschäftigte mich viel mit männlicher Psychologie und dem männlichen Prinzip in uns Frauen. »Matriarchal« bedeutet für mich, dass Menschen die verschiedenen Kräfte und Prinzipen, die es in uns allen gibt, in sich selbst ausgleichen. Mir geht es ähnlich wie dir, Paloma, dass ich in Sachen Gemeinschaft hauptsächlich mit Frauen zu tun habe, doch führe ich mehr romantische Beziehungen mit Männern. Darin habe ich die fürsorgliche Männlichkeit kennengelernt – wie wirkungsvoll und beeindruckend sie sein kann! Während es uns also leichtfällt, mit Frauen gemeinschaftliche Dinge zu teilen, können wir zugleich üben, die Männer, das männliche Prinzip, zu lieben und einzubeziehen! 

PTG  Als ich dir gerade zugehört habe, Sophia, ist mir klar geworden, dass es bei Matriarchaten nicht so sehr darum geht, dass vor allem Frauen zusammenkommen, sondern dass weibliche Eigenschaften gelebt werden – etwa aktives Zuhören, Fürsorge, Sanftheit und Gemeinschaftlichkeit. Ich will diese Eigenschaften nicht nur mit Frauen verbinden, denn aus feministischer Perspektive ist es entscheidend, dass mehr Männer diese Qualitäten in sich bilden. Ich konnte das hier, wo ich gerade wohne und studiere, schon bei einigen Männern beobachten – wie wunderschön und ermächtigend!

Matriarchal Wurzeln schlagen

Im Austausch mit Paloma und Sophia wurde mir bewusst, dass wir alle ein gewisses Unbehagen gegenüber dem Begriff »Matriarchat« spüren und das Bedürfnis haben, ihn auf eine für uns passende Weise zu interpretieren. Das ist wohl eine Voraussetzung für jedes keimende Matriarchat – diesen Begriff für sich selbst zu definieren und ihn relevant werden zu lassen. Gemeinsam mit den beiden Seelen-schwestern werde ich dies im übernächsten Jahr, wenn wir unsere jetzigen Studien abgeschlossen haben werden, aktiv angehen. Davor wird Paloma in diesem Sommer bem ökofeministischen Gemeinschaftsprojekt (»Somos Garaldea« in der Nähe von Madrid) ein Praktikum absolvieren, um dort viele Ideen, auch zur Interpretation von Matriarchaten, zu sammeln. Dann wollen wir uns zusammentun, um unsere ganz eigene Interpretation eines Matriarchats auszuleben. Momentan sieht es danach aus, dass dies auf dem Hof von Sophias Familie in Wales geschehen wird. Dorthin wird Sophia diesen Sommer zurückkehren und schon einmal eine Basis vorbereiten. Ich freue mich darüber, immer mehr über das Frausein und über Versuche des matriarchalen Zusammenlebens lernen zu können – und immer weiter Fragen zu Matriarchaten der Moderne zu stellen. //


Nina Negi (22), halb Japanerin, halb Berlinerin, hat in vielen bunten Konstellationen den Wert von Gemeinschaften und die Pluralität der Menschen zu schätzen gelernt. Zur Zeit macht sie eine Ausbildung zur Hebamme in Berlin.

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