Commonie

Wir alle sind »Endlagersuchende«

Mit dem Standortauswahlgesetz könnten Staatsbürgerinnen und Staatsbürger
einen Atommüll-Konsens schließen.
von Anja Marwege, erschienen in Ausgabe #62/2020
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© Andreas Conradt

Jahrzehntelanger Protest bei Castor-Transporten, vor Zwischenlagern und an potenziellen Langzeitlagerstätten hat gezeigt, dass eine »Endlagersuche« für radioaktiven Müll nicht ohne die Beteiligung der Zivilgesellschaft funktioniert. Das 2017 in Kraft getretene Standortauswahlgesetz sieht einen zivilgesellschaftlichen Beteiligungsprozess vor. Diverse Wissenschaftlerinnen, Bürgerinitiativen und Umweltorganisationen bekunden seither ihren Willen, sich an dem gemeinsamen Suchprozess zu beteiligen; einige von ihnen waren auch auf den dafür vorgesehenen digitalen Beratungskonferenzen des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung, kurz BASE, im Oktober 2020 und Februar 2021 präsent.

Ich lebe selbst in der Nähe von Gorleben, das lange als Endlager vorgesehen war, aber nun offenbar aus der Auswahl entfernt wurde. Zahlreiche etwa von Forschenden oder Aktivisten organisierte Veranstaltungen in der Region geben aktuelle Einblicke in den Suchprozess. 

Ein dauerhaftes Lager für den Atommüll mehrerer Generationen zu finden, könnte ein beeindruckender gesellschaftlicher Konsensfindungsprozess sein. In Frage kommende Orte könnten eine Allmende, ein Commons sein, deren Regeln gemeinsam gefunden und immer wieder überprüft werden müssen, so wie es für Commons üblich ist. 

Einen Konsensprozess mit -potenziell mehreren Millionen Menschen hat es wohl noch nie gegeben; auch mit weniger Beteiligten wäre es eine äußerst anspruchsvolle Sache: Expertinnen halten zwei- bis drei-, vielleicht auch zehntausend Menschen für eine maximal überschaubare Gruppengröße, auf die sich jede und jeder einzelne in einem Netzwerk beziehen kann. Scheitert das Verfahren also der Größe wegen? Gute, solide, von der Bevölkerung getragene Entscheidungsprozesse gab es durchaus schon einige, etwa Volksinitiativen oder -entscheide mit ökologischen Anliegen. Nicht zuletzt gab der Anti-Atom-Widerstand Anstoß zu einer Debatte, die schließlich in das Standortauswahlgesetz mündete.

Aus der langjährigen Arbeit der Commons-Forscherin Silke Helfrich lassen sich einige grundlegende Muster ableiten, die zum Gelingen eines derartigen Suchprozesses beitragen könnten. Commoning zeichnet sich durch »Selbstorganisation von Gleichrangigen« aus. In der Oktober-Konferenz des BASE war es aber so, dass sich zivilgesellschaftliche Akteure nur zu den bestehenden Standortauswahlkriterien äußern, nicht aber weitere Kriterien vorschlagen oder etwas zum Ablauf des Verfahrens sagen durften; in der digitalen Konferenz wurden derartige Beiträge schlicht herausgefiltert. »Gemeinsame Absichten und Werte zu kultivieren«, wird auf diese Weise im Keim erstickt. 

Commoning zeichnet sich auch dadurch aus, »im Vertrauensraum transparent zu sein«. Die Verhärtung und das Misstrauen, die über Jahrzehnte in Bezug  auf die Atom-Frage entstanden sind, müssten dazu durch vertrauensbildende, verzeihende Prozesse geheilt werden. Die bloße Beteiligung der Bevölkerung am Suchprozess erfüllt diese Aufgabe nicht. 

In einem Vertrauensraum wäre es leicht, »Wissen großzügig weiterzugeben«, was als weiteres Merkmal guten Commonings gilt. Bislang wissen die Beteiligten aus der Zivil-gesellschaft nicht, wie ihre Kritik in das Verfahren einfließen wird, geschweige denn, ob sie bis zum Ende des Prozesses angehört werden. Dieses seitens des Bundesamts zu garantieren, würde bedeuten, über die gesetzlich festgelegten Mindestanforderungen hinauszugehen – ein Vertrauensbeweis! Es ist ein in gemeinschaffenden Prozessen seit Jahrtausenden bewährtes Verfahren, sich in Kreisen so lange austauschen, bis eine »gemeinstimmige Entscheidung« erzielt wird. 

Diese Überlegungen verstehe ich im Sinn des »lernenden Verfahrens«, das sich das Standortauswahlgesetz auferlegt hat. Festzulegen, wo der gefährlichste menschenproduzierte Müll die kommenden 300 000 bis 1 Million Jahre »sicher« zu lagern ist, ist nichts weniger als ein Vertrag mit den kommenden 10 000 Generationen.  

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