Frauen als unbedeutende Randfiguren, gemarterte Hexen und begaffte Lustobjekte: Wie können wir mit unserem patriarchalen Erbe umgehen – oder müssen wir alle Bilder und Geschichten über Bord werfen?von Andrea Vetter, erschienen in Ausgabe #62/2020
Mein Lieblingsbuch war lange »Die Unendliche Geschichte« von Michael Ende. Im ersten Teil besteht Atréju, der junge Held, unzählige Abenteuer, um Bastian, den Leser der Geschichte, in das Buch, das dieser gerade liest, hineinzuziehen, damit Bastian der Kindlichen Kaiserin einen neuen Namen gibt. Im zweiten Teil sucht Bastian mit vielen Irrungen und Wirrungen seinen wahren Willen, den er schließlich findet – den Willen, zu lieben, und zwar seinen Vater. Es ist eine Geschichte von der Freundschaft (und Konkurrenz) zwischen Jungs, Männern, männlichen Fabelwesen und von der Liebe zwischen Vater und Sohn.
Ein weiterer Schriftsteller, den ich in meiner Jugend geliebt habe, war Herrmann Hesse. »Narziss und Goldmund« elektrisierte mich. Ich überlegte immerzu, ob ich Narziss oder Goldmund sei, und war mir ziemlich sicher, Goldmund sein zu wollen. Nach erneuter Lektüre konnte ich es jedoch nicht mehr leugnen: Ich würde niemals Goldmund sein können – denn ich bin eine Frau! Und die Frauen werden von Goldmund nur besucht. Sie sind ortsgebunden, schenken ihm ihre Liebe und ihr Begehren, sind Erfahrungen, die mitgenommen werden – letztlich eigenschaftslose Nebenfiguren, obwohl Goldmund ihnen sein Leben widmet, wenn auch auf ziemlich unpersönliche Weise. Diese Frauen stehen für verschiedene Aspekte der Göttin, des Mütterlichen, sind Ausdruck eines archetypisch Weiblichen – sie sind keine handelnden Personen, keine Protagonistinnen, keine Akteurinnen der Geschichte. Mit Wucht traf mich daraufhin die Erkenntnis, dass auch in der »Unendlichen Geschichte« die Frauenfiguren auf dieselbe unpersönliche Weise Rand-figuren sind: die fürsorgliche, bedingungslos liebende Mutter, die angstbesetzte Mutter als dominante Hexe, die asexuelle, mädchenhafte Heilige. Als ich anfing, zu erkennen, dass diese Bücher gar nicht von mir und meinen Erfahrungen handelten, dass es eine Selbsttäuschung gewesen war, mich mit ihren Protagonisten zu identifizieren und zu denken, auch ich könnte Akteurin einer Geschichte sein, war ich heimatlos geworden – herausgeworfen aus einer Tradition von Bildern, Mythen, Büchern, Texten, in denen ich gelebt, die ich geliebt und an denen sich mein Denken ausgerichtet hatte.
Alle Geschichten erzählen
»Die Gefahr der einzigen Geschichte«, heißt ein Vortrag der Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie, in dem sie unter anderem davon erzählt, wie ihr im Lauf ihres Lebens bewusst wurde, dass die Kinderbücher, mit denen sie in Nigeria aufgewachsen war, alle von weißen Menschen handelten, die in europäischem Klima leben – Erfahrungen, die ihrer Lebenswirklichkeit so fremd waren, dass sie als kleines Mädchen dachte, Geschichten könnten immer nur von anderen anderswo handeln. Wenn wir uns wirklich als ganze Menschen begegnen wollen, so Adichie, müssen wir auch unsere vielfältigen Geschichten erzählen – nicht nur die eine Geschichte vom weißen, männlichen Helden, der auf dem Gipfel eines europäischen Bergs wieder und wieder den Drachen besiegt. Die Schriftstellerin Ursula K. Le Guin schrieb dazu: »Solange mir Kultur als etwas vermittelt wurde, das sich aus der Verwendung langer, harter Objekte, mit denen sich stechen, hauen und töten lässt, begründete und weiterentwickelte, hatte ich nie das Gefühl, dass ich besonders viel damit zu tun hätte oder haben wollte. […] Da ich auch ein Mensch sein wollte, suchte ich nach Belegen für meine Menschlichkeit; doch wenn eine dadurch zum Menschen wird, dass sie eine Waffe baut, um damit zu töten, dann war ich entweder ein nachweislich völlig mangelhaftes Menschenwesen oder aber überhaupt kein Mensch. Ja, genau, wurde darauf erwidert. Du bist eben eine Frau.« Le Guin schlägt daher ebenfalls vor, die anderen Geschichten zu erzählen: nicht die vom Helden auf der Mammutjagd, sondern jene von den Sammlerinnen und vom Beutel. Doch damit nicht genug: Nicht nur erzählten mir die meisten Geschichten, die ich als junger Mensch gelesen hatte, dass Frauen nicht die Akteurinnen ihrer eigenen Geschichte sein können, oder, wenn sie es denn sind, dann geht es entweder schlecht aus oder aber mit Happy End – sprich: Hochzeit, womit die patriarchale Ordnung wieder hergestellt ist –, sondern viele Geschichten und Bilder der europä-ischen Traditionen sind auch offen frauenfeindlich und frauenverachtend.
Mir wurde geradezu körperlich elend, als ich vor zwei Jahren die »Uffizien« in Florenz besuchte. Dort werden nicht nur fast ausschließlich alte »Meister« ausgestellt (die von Frauen geschaffenen Exponate lassen sich an einer Hand abzählen), sondern die Art, wie Menschenfrauen und andere weiblich gezeichnete Wesen in diesen Werken dargestellt wurden, fühlte sich übergriffig und beschämend an: Sie werden als nackte Lustobjekte oder Dienerinnen dargestellt, werden vergewaltigt (wie die Lucretia) oder enthauptet (wie die Medusa). Eine Ausnahme war das Gemälde -»Judith enthauptet Holofernes« der Malerin -Artemisia Gentileschi (1593 – 1652 / 53), das auf mich wie ein brachialer Vergeltungsschlag gegen patriarchale Unter-jochung wirkte. Die »Sternstunden« europäischer Kunstgeschichte stellten sich mir bei diesem Museumsbesuch als eine große Orgie chauvinistischen Imponiergehabes, maskulinistischer Gewaltausübung und patriarchaler Herrschaftsmacht dar!
Aber was bedeutet das? Bedeutet es, dass die ganze westliche Kunst- und Literaturgeschichte nichts als patriarchaler Plunder ist? Müssen wir eine gleichwürdige, herrschaftsfreie Kultur ganz neu erfinden? Welchen Platz nehmen diese Geschichten von Frauen als passiven Erleiderinnen selbst heute noch als halb-sedimentierte Muster in meinem Inneren ein? Welche Ängste sind gar nicht meine, sondern jene meiner Vorfahrinnen? Alle Menschen um mich herum sind mit eben solchen Erzählungen und Bildern aufgewachsen. Welche Möglichkeiten, matriarchale, queere, sinnliche, friedliche, egalitäre Perspektiven zu entwickeln – theoretisch und auch lebenspraktisch –, sind uns dadurch verstellt?
Früher wurden wir dafür verbrannt
Die Heilpraktikerin Isabel Knauf (siehe Oya 60) erzählte in ihrem Podcast davon, wie sie erkannte, warum es ihr so schwer fiel, ihre Angebote im Schaufenster ihrer ersten Praxis öffentlich sichtbar zu machen: »Und dann ist mir aufgefallen, dass alles, was ich mache – Frauenkreise, Ritualarbeit und Kräuter-kunde – Tätigkeiten sind, für die ich früher auf dem Scheiterhaufen gelandet wäre.« Die europäische Hexenverfolgung ist ein noch immer wirkendes Trauma eines generalisierten Femizids und als solches ein essenzieller Grundbaustein der heutigen Geschlechterordnung und damit auch der modernen Wirtschaftsweisen und Gesellschaftsformen. Sie war in ihren Anfängen, als Michelangelo um das Jahr 1500 seinen David aus einem Marmorblock heraushaute, und erreichte rund 100 Jahre später ihren Höhe-punkt. Aktuelle Schätzungen besagen, dass es vor allem in Mitteleuropa ungefähr drei Millionen Hexenprozesse gab, in deren Folge etwa 50 000 Menschen ermordert wurden, wovon etwa 80 Prozent Frauen waren.
Die französische Autorin Mona -Chollet schrieb in ihrem vielbeachteten Essay »Hexen oder die ungebrochene Macht der Frauen« davon, wie sehr innere Muster, die auch heute noch Frauen beschäftigen und kleinhalten, mit den Grunderfahrungen aus dieser Zeit verknüpft sind: Muster des Sich-selbst-Kleinmachens; der manipulativen und strategischen Umgangsweise mit einem männlichen Partner statt Ehrlichkeit; eigene Bedürfnisse weder wahrnehmen noch ausdrücken zu können; die Angst, die eigene Sexualität könnte zuviel sei. Alle diese Muster, die ein freies, verbundenes Leben behindern, haben eine lange Tradition und wurden heutigen Frauen von ihren Ururur-… Großmüttern als Überlebenstaktiken mitgegeben. Frauen, die stark und mutig, mächtig und weise, kraftvoll und lustvoll, sinnlich und frei und mit sich selbst und anderen verbunden waren, liefen Gefahr, durch Folter erst psychisch und körperlich misshandelt und gebrochen und anschließend verbrannt, gevierteilt, aufs Rad -geflochten oder ertränkt – sprich: ermordet – zu werden. Ebenso erging es Frauen, die es wagten, aus welchem Grund auch immer, aus einer Ehe auszubrechen. Ein Grund für diese Gewalt lag sicherlich in der Traumatisierung der Männer: die Jahrhunderte, Jahrtausende an Gewalt und Kriegen, die sie ausgeübt haben, denen sie ausgesetzt waren, für die sie erzogen, konditioniert wurden, und die sie taub werden ließen – für sich selbst, für ihre eigenen Empfindungen und Ängste, taub für die Liebe wie für den Trost der Göttin. Ein Hauptanklagepunkt gegen Hexen war deren nicht stillbare Wollust: Wie sehr daraus die hetero-normative Angst der anklagenden Männer spricht, nicht genügen zu können, nicht ausreichend zu sein, in Angst und Scham festzustecken vor ihren eigenen inneren Dämoninnen!
Mona Chollet zog aus diesen Überlegungen den Schluss, dass es notwendig sei, als Frau heute selbstbewusst, unabhängig, vereinzelt und kinderlos zu sein. Die feministische Autorin bell hooks hingegen beschäftigte sich in »Men, Masculinity and Love« damit, wie Männer sich ihren eigenen Gefühlen zuwenden können, und inwiefern ein Ausweg aus patriarchalen Mustern für alle Geschlechter eine entscheidende Frage ist. bell hooks plädiert für eine vertiefte, bedingungslose Liebe zwischen Menschen, die nicht an Leistung oder Funktionserwartungen geknüpft ist. Das Weben vielfältiger, tragfähiger Beziehungsnetze zwischen einander auf ganz verschiedene Weise liebender Menschen, das »Sich-miteinander-verwandt-Machen« (Donna Haraway, Oya 53), mag vielleicht eine tragendere – im Sinn des »Beutels« – Antwort auf die Traumata misogyner, frauenfeindlicher Geschichte(n) sein. Ist dies vielleicht auch ein Weg, der uns hier und heute trotz aller Verletzungen und Musterängste einer matriarchalen Perspektive näherbringen kann? //