Im ghanaischen Kumasi findet das Großstadtleben unter matriarchalen Vorzeichen statt.von Wilhelmina Donkoh, erschienen in Ausgabe #62/2020
Ich stamme von den Fante, einem Teil des Akan-Volks, ab. Meine Familie lebt seit über hundert Jahren in Kumasi, der zweitgrößten Stadt Ghanas und der Hauptstadt der Asante, die ebenfalls zu den Akan gehören. Dort lebe ich mit meinem Mann in einem schönen Stadthaus mit Garten. Meine Mutter, meine neun Geschwister und ich sowie mein Sohn wurden alle in Kumasi geboren. Ich wuchs in einer großen Familie auf, zu der meine Eltern, Geschwister und Cousins gehörten. Tanten, Onkel und andere Familienmitglieder besuchten uns häufig, und wir sie. Wenn ich einen Akan frage, woher er kommt, wird er den Ort nennen, aus dem seine Mutter stammt. Wir hatten zwar ein gutes Verhältnis zu den Verwandten meines Vaters, aber wir standen der Familie meiner Mutter viel näher und definierten uns, wie bei uns üblich, über die Abstammung unserer Mutter. Heute haben mein Mann und ich eine doppelte Verantwortung – die füreinander als Ehepartner und die gegenüber unseren matrilinearen Familien. In meiner Familie beziehen wir uns alle auf meine Tante. Bei den Akan gibt es kein gesondertes Wort für die Schwester der Mutter, wir bezeichnen sie als »Mutter«.
Soziales Sicherungssystem
Die mütterliche Abstammungslinie bietet ein soziales Sicherungssystem, bei dem für die gesundheitlichen Bedürfnisse jedes Mitglieds der Gruppe gesorgt wird. Ein Vorbehalt ist, wenn eine Ehefrau krank wird. Dann liegt es in der Verantwortung des Ehemanns, sich um sie zu kümmern – andersherum wird das jedoch nicht verlangt. Obwohl in Ghana ein staatliches Krankenversicherungssystem eingeführt wurde, springt in der Regel auch heute noch die Familie ein, um die Kosten für die Gesundheitsfürsorge zu übernehmen und bei Bedarf weitere Hilfe zu suchen.
Die Millionenstadt Kumasi ist deutlich durch die matriarchale Kultur der Akan geprägt. Sichtbar wird sie besonders bei sozialen Ereignissen wie Beerdigungen, Hochzeiten, Namensgebungen und der Einsetzung von traditionellen Clansprechern. Das urbane Leben zeugt auch von der langen Tradition der Familienhäuser (abusua fie). Ein Großonkel baute einst unser Familienhaus »Kate’s Paradise« in Kumasi zu Ehren meiner Urgroßmutter. In den letzten paar Monaten waren wir viel dort, weil eine meiner Schwestern gestorben ist.
In der Vergangenheit war es üblich, dass die Mitglieder einer Verwandtschaftslinie zusammen in einem Haus lebten. Wo das Familienhaus nicht groß genug war, um alle Mitglieder unterzubringen, wurden andere Häuser in unmittelbarer Nähe gebaut. Bis heute ist das Familienhaus für viele relevant, selbst für die, die ihre privaten Häuser haben. Es dient als Treffpunkt der Familie, um Entscheidungen zu treffen, und ist es der Ort, an dem Verstorbene aufgebahrt werden. Heiratszeremonien und Schlichtungen werden ebenfalls dort abgehalten. Mit dem Konzept des Familienhauses ist sichergestellt, dass die Grundbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft, Kleidung und Religion gemeinschaftlich organisiert werden. Wenn ich tot bin, werden unsere Kinder und Enkelkinder unser Familienhaus weiterführen.
Die kulturelle Praxis der Akan steht für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Niemand ist auf sich allein gestellt. Niemand ist ausgeschlossen. Selbst in der heutigen Zeit, in der die Familienmitglieder aufgrund der modernen Lebensweise verstreut leben, halten Besuche, Telefonate, regelmäßige Treffen, Beiträge zu sozialen Aktivitäten sowie die Teilnahme an Begräbnis- und Hochzeitsfeiern die Gemeinschaft aufrecht.
Fürsorgend Handel treiben
Handel und kommerzielle Aktivitäten stehen den -matriarchalen Werten und ihrer Kultur nicht grundlegend entgegen. Unser gemeinsamer Familienbesitz umfasst auch landwirtschaftliche Höfe sowie Geschäftshäuser und Büroräume, die wir vermieten. Die abusua (Abstammungslinie) ist in gewisser Weise eine wirtschaftliche Einheit, die durch gemeinsame Interessen miteinander verbunden ist. Das Eigentum der abusua wird treuhänderisch vom abusuapannin (Oberhaupt der mütterlichen Verwandtschaftslinie) gehalten, üblicherweise ist das der älteste Onkel. Er wird von den älteren Frauen in der Linie nominiert und unterliegt der Zustimmung aller Familienmitglieder. Nach der heutigen Praxis kann der Abusuapannin auch eine viel jüngere Person sein. Wichtig ist, dass er verantwortungsvoll mit Geld umgeht, ehrlich, fleißig,intelligent und vermittelnd ist.
Traditionell geht der selbsterworbene Besitz aller Akan-Männer nach dem Tod auf die Abstammungslinie über – außer dem, was sie zu Lebzeiten verschenkt haben. Dieser Reichtum wird für die Bedürfnisse der Verwandtschaftslinie verwendet. Mein Sohn kann zu seinen Lebzeiten die Vorteile des Eigentums genießen, das der Linie gehört, aber er kann diese Vorteile nicht an seine eigenen Nachkommen weitergeben.
Die moderne Familie berücksichtigt hauptsächlich Vater, Mutter und Kinder und betrachtet andere Familienmitglieder als Außenstehende. Manchmal, wenn eine Person mit westlicher Denkweise zum abusuapannin wird, setzt sie die Ressourcen der abusua für ihre eigene Kernfamilie ein. Dies führt zu Konflikten. Auf diese Weise unterwandert der Individualismus der Moderne die matrilinearen inklusiven Werte der Akan.
Zwischen Moderne und Tradition
Heute steht Ghana zwischen zwei Kulturen: dem indigenen traditionellen System und modernen, westlichen Praktiken. Väter geben ihren Kindern Namen als Zeichen, dass sie der biologische Vater sind, aber die Kinder gehören zur Abstammungslinie ihrer Mütter, von der sie automatisch Eigentum erben. Die Akan glauben, dass ein Kind, so wie es das Blut von seiner Mutter erbt, seinen Geist und seine Charaktereigenschaften hauptsächlich von seinem Vater erbt. Die Moderne – ausgedrückt durch die Autorität des modernen Staats, das westliche Bildungswesen und das Christentum – hat Systeme wie die Testamenterstellung eingeführt, die einem Menschen das Recht gibt, selbst und beliebig zu bestimmen, wie sein persönlich erworbenes Eigentum nach seinem Tod verwaltet wird. Dafür wurde in den 1980er Jahren das »PNDC-Gesetz 111« verabschiedet. Im Unterschied zu diesem Gesetz kann ein Mensch der Akan nach dem Brauch den selbst erworbenen Besitz zu Lebzeiten an eine Person seiner Wahl (Kinder, Freunde, bestimmte Familienmitglieder) vererben, solange alle Mitglieder der Abstammungslinie davon wissen und die Empfänger eine aseda (Danksagung) vorlegen. Ohne aseda ist der Prozess nicht gültig. Das traditionelle Erbe ist in der Akan-Sprache als nsamansew (Schwur des Geistes) bekannt. Einige Treuhänder unterscheiden heute nicht zwischen individuell erworbenem Eigentum und Familienbesitz. Meiner Ansicht nach haben sowohl das moderne Testament als auch das traditionelle nsamansew ihre Vorzüge. Wenn es nach mir ginge, würde ich beide Systeme haben wollen. Mit dem nsamansew wird zum Zeitpunkt meines Ablebens klar sein, wer was von mir bekommt. Da es jedoch ein mündlicher Prozess ist, kann der Tod oder die Entmündigung von Zeugen zu Komplikationen führen. Das Testamentsystem ist schriftlich und kann die Zeugen überleben.
In meiner Familie gibt es Kinder, die ihre Mutter verloren haben und die dann von Menschen aus der mütterlichen Linie betreut werden, wie es traditionell üblich ist. Der moderne Staat Ghana hat hingegen Gesetze eingeführt, die einem Vater das Sorgerecht für seine Nachkommen zusprechen – besonders wenn er die Mittel hat, sich um sie zu kümmern. Das hat den großen Nachteil, dass, wenn der Vater wieder heiratet, die Stiefmutter die Stiefkinder möglicherweise nicht gut behandelt. Deshalb sind Kinder bei der Familie der Mutter besser aufgehoben.
Unverstandene indigene Werte
Die traditionelle Akan-Gesellschaft definiert die Beziehung des Menschen zur Natur als grundlegend für die menschliche Existenz. Sie betrachtet den Menschen als Teil der Natur, schließlich kehrt er nach dem Tod dorthin zurück. Die Geister oder Gottheiten, die in der traditionellen Religion verehrt werden, wohnen in Felsen, Bergen oder Gewässern. Die Schändung dieser Lebensräume hat schwerwiegende Auswirkungen auf den einzelnen Übeltäter, dessen Linie und die Gemeinschaft. Die westliche Lebensauffassung hat es versäumt, das indigene Glaubenssystem zu verstehen. Ein wesentliches Ergebnis ist, dass indigene Praktiken und Werte, die den Schutz der Mitwelt gewährleisten, verlorengehen. Die meisten haben heute keine Angst davor, dass sie für Verstöße sanktioniert werden. Ironischerweise fürchten sich gleichzeitig viele vor den Auswirkungen von Beschwörungen.
Bei meiner Forschung zu den Asante in der späten Kolonialzeit faszinierte mich, wie sie sich gegen den kolonialen Einfluss gewehrt haben. Ihre Kraft kam dabei von innen. Die Menschen der Asante wissen, wer sie sind. 1921 wurde das Symbol des Asante-Volks, der goldene Schemel, von dem man glaubt, dass er den Geist des Asante-Staats (asanteman) trägt, durch die britischen Kolonialherren zerstört. Aber das Asante-Volk ließt sich dadurch nicht davon abhalten, weiterhin ein geeintes Volk zu bleiben. In der Folge wurden die britischen Kolonialherren vorsichtig und ließen kulturelle Praktiken der Asante zu. Diese starke Idee, zu wissen, wer man ist, und zu wissen, wie man bewahren kann, wer man ist, hält die Kultur der Asante bis heute lebendig. //
Wilhelmina Donkoh ist Kulturhistorikerin, studierte an den Universitäten Cape Coast in Ghana und Birmingham in England. Sie arbeitet seit 37 Jahren, mittlerweile aus dem Ruhestand, an der Kwame Nkrumah Universität in Kumasi zur Geschichte der Sklaverei und zu matrilinearen Gesellschaften.