Wir fragen, warum Menschen unterwegs sind, und suchen nach Gemeinsamkeiten verschiedener nomadischer und halbnomadischer Lebensweisen.von Lara Mallien, Matthias Fersterer, Maria König, erschienen in Ausgabe #63/2021
Fangen wir mit einer Geschichte an. Jede Geschichte hat einen Anfang, und jeder Anfang ist willkürlich, weil er eine Vorgeschichte hat, die einen Anfang mit wiederum einer Vorgeschichte hat usw. Zu jeder guten Geschichte gehören eine einführende Floskel wie »Es war einmal …« und der Verweis, von wem die Erzählerin, der Erzähler sie erstmals gehört hatte: »Die Mutter meiner Mutter erzählte mir diese Geschichte, die sie wiederum von ihrer Mutter erzählt bekommen hatte …«
Die wirklich wichtigen Geschichten, die niemand vergessen sollte, hatten die Form von Liedern. Noch heute fangen manche mit »Es war einmal …« an. In Irland beginnen viele Geschichten so oder so ähnlich: »Es war einmal ein Schmied und er spielte die Fiddel und ging auf Wanderschaft …«, darauf folgt, was der Reisende erlebt hat – und ein Lied, wenn der erzählende Mensch eine Geige in der Hand hält.
Manche sehen in den fiedelnden irischen Schmieden die Nachfahren der Barden – viele werden dabei gleich an Troubadix aus dem kleinen gallischen Dorf denken: »Nein, du wirst nicht singen!« Falsch gedacht. Die Barden waren das, was wir mit den Druiden verbinden: Sie galten als zauberkundig und überlieferten die gesamte Kulturgeschichte – in Liedern. Und gleichzeitig erzählten sie sich die neuesten lustigen Geschichten oder Gerüchte von überall her. Selbst in der Zeit der englischen Besatzung hatten sie das Recht, frei durchs ganze Land von County zu County zu ziehen – das war den Sesshaften nicht gestattet. Das heißt jedoch nicht, dass die Fiddler kein Zuhause gehabt hätten. Sie waren Halbnomaden, gleich vielen anderen Menschen in der europäischen Vergangenheit, wie archäologische Funde belegen.
Die Idee von der Neolithischen Revolution bröckelt, niemand wurde hier von null auf hundert Ackerbauer, sondern halbnomadische Jägerinnen und Sammlerinnen fingen ganz selbstverständlich mit der Gemüse- und Waldgärtnerei an – das taten sie auch schon im Mesolithikum. Eigentlich manifestiert sich das Neolithikum durch das Erbauen und Bespielen von Megalithbauten, also durch eine Kulturtechnik, nicht durch eine wirtschaftliche Methode wie den Ackerbau, so der britische Archäologe Julian Thomas (siehe Seite 66).
Jede gute Geschichte stellt Fragen, die größer sind als wir selbst: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Oder auch: Wann und wo begann die Geschichte des menschlichen Unterwegsseins? Eine mögliche Antwort auf letztere lautet seit dem 6. November 2019: in einer Tongrube im Ostallgäu! – Wie das? In der Tongrube »Hammerschmiede« in der Gemeinde Pforzen nämlich wurden fossilierte Überreste der neuen Gattung -Danuvius guggenmosi, dem mit 11,6 Millionen Jahren bislang ältesten bekannten Fund eines Menschenaffen – möglicherweise sogar eines Frühmenschen – ausgegraben. Der Grabungsleiterin Madeleine Böhme zufolge zeichnen sich die gefundenen Skelette durch einen für den aufrechten Gang ausgelegten Knochenbau aus. Somit könnte es – in aller oben genannter Willkür – einen neuen Anfangspunkt für das Unterwegssein von sich durch die Landschaft futternden, später dann auch sammelnd, jagend und irgendwann Weidewirtschaft betreibenden Zweibeinern. Am Anfang waren wir Nomaden (von altgriechisch nomás, »weidend«, »herum-schweifend«), und sind es – genetisch und anthropologisch betrachtet – noch heute.
Die nomadische Alternative
Mit dem Aufkommen des Ackerbaus im »fruchtbaren Halbmond« Kleinasiens vor 13 000 Jahren begann die Sesshaftwerdung der Menschen. Zwar sind heute 99,9 Prozent der Weltbevölkerung sesshaft, doch lebten wir während 99 Prozent unserer Menschheitsgeschichte nomadisch oder halbnomadisch, und wohl noch über lange Zeiträume hinweg hielten sich beide Formen die Waage. Und obwohl die allermeisten Menschen heute sesshaft sind, ist – wie der englische Schriftsteller Bruce Chatwin (1940–1989) in seinen Arbeiten zur »nomadischen Alternative« darlegte – die hirtennomadische, pastorale Lebensweise keine Vorstufe zur Sesshaftigkeit, sondern eine mindestens ebenbürtige Alternative dazu (Seite 61).
In den vergangenen Jahrzehnten ist das Nomadische zum Modewort geworden, doch Unterwegssein ist nicht gleich Unterwegssein. Es versteht sich von selbst, dass all das nichts mit der neoliberalen Forderung nach Flexibilität und Mobilität oder gar sogenanntem digitalen Nomadentum zu tun hat, bei dem Menschen, ausgestattet mit Laptop und WLAN-Zugang, von jedem Ort der Welt aus ihrer Erwerbsarbeit nachgehen können, ohne eine tiefere Verbindung mit einem Ort einzugehen. Freiheit, die in nichts eingebettet ist, wird zur Beliebigkeit und -Haltlosigkeit.
Uns hingegen interessierte, auf welche Weisen, die nicht Entfremdung, sondern Einbettung zur Folge haben, Menschen unterwegs sind. Wie kann das Unterwegssein die Fähigkeit zum Gemeinschaffen, zum Pflegnutzen und zur Einbettung in landschaftliche, soziale und historische Bezüge nähren? Welche gemeinsamen Merkmale von nomadischen, halbnomadischen, Weidewirtschaft betreibenden Gruppen in ganz unterschiedlichen klimatischen, landschaftlichen und sozialen Umgebungen gibt es – und was können wir daraus für eine enkeltaugliche Lebenspraxis hier und jetzt lernen? Diesen Fragen auf der Spur, suchten wir den Kontakt zu Menschen aus noch heute oder ehemals nomadischen Kulturen. Dank der engagierten Vermittlung durch Mitarbeitende der »Gesellschaft für bedrohte Völker« fanden wir auch einige Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, die bereit waren, sich mit uns in eine Telefon- oder Video-konferenz zu begeben – ganz herzlichen Dank!
Zudem haben wir mit Menschen gesprochen, die sich vor ganz verschiedenen Hintergründen künstlerisch mit dem Unterwegssein, dem Nomadischen oder dem Erzählerischen befassen. Einen bemerkenswerten künstlerischen Beitrag stellen die von Lothar Schiffler angefertigten großformatigen Bilder der Flugspuren von Zugvögeln, die zurecht landläufig als »Nomaden der Lüfte« bezeichnet werden, dar. Und wir haben Menschen, die früher oder aktuell, länger oder kürzer unterwegs waren oder sind, eingeladen, in einem »Mosaik des Unterwegsseins« ihre persön-lichen Erfahrungen in kurzen Textbeiträge mit uns zu teilen.
Freie und egalitäre Strukturen
Wie der Anthropologe Philip Carl Salzman in seiner Forschung zeigte, gelingt es nomadisch und halbnomadisch lebenden Gemeinschaften in besonderem Maß, Freiheit und Gleichheit zu integrieren. Staaten mit wenig ausgeprägten demokratischen Strukturen könnten von der nomadischen Lebenspraxis lernen: »[D]er politische Prozess in pastoralistischen Gesellschaften ist tendenziell in hohem Maß demokratisch und gründet auf im Konsens getroffenen Entscheidungen.« Unsere Gespräche mit noch heute in (teil-)nomadischen Gesellschaften lebenden Menschen bestätigten diese Einschätzung und ließen ausgeprägt egalitäre Sozialstrukturen und flache Hierarchien als gemeinsames Merkmal erkennen. Interessanterweise gilt dies sowohl für Gruppen, die vornehmlich patriarchal geprägt sind, als auch für solche mit eher matriarchalen Zügen.
Doch leider wird das Beispiel, das nomadische Gruppen abgeben, von Nationalstaaten in aller Regel nicht etwa dankbar aufgegriffen, sondern als gefährlich empfunden. Viele unserer Gesprächspartner berichteten von Erfahrungen mit Ausgrenzung und Bedrohung durch die sesshafte Mehrheitsgesellschaft. Nomadisch lebende Menschen werden oft schlichtweg ignoriert, unsichtbar gemacht oder gar verfolgt und in die Sesshaftigkeit gezwungen: »Nomadenland ist Niemandsland«, wie uns der Same Andrey Danilov im Interview (siehe Seite 46) erzählte.
Nomaden sind »Staatsfeinde«
Der Anthropologe James C. Scott schrieb in seinem Klassiker »Seeing like a State«: »[D]er Staat scheint seit jeher der Feind der ›ziehenden Leute‹ zu sein. […] Nomaden und Wanderweidewirtschaft Betreibende (wie Berber und Beduinen), Jäger und Sammlerinnen, Sinti und Roma, Vagabundinnen, Obdachlose, Wanderarbeiterinnen und Wanderprediger, entlaufene Sklavinnen und Leibeigene sind seit jeher ein Dorn im Auge des Staats. Die Versuche, solche wandernden Leute dauerhaft anzusiedeln (Sesshaftmachung), sind ein immerwährendes Projekt der Staatsgewalt – immerwährend auch deshalb, weil es so selten erfolgreich ist.«
Dies ist ein weiteres Merkmal, das nomadisch lebende Menschen in aller Welt verbindet: Sie sind, ob sie es wollen oder nicht, insofern Staatsfeinde, als dass ihre Lebensweisen konträr zum Prinzip territorialer Staatsgewalt sind. Und diese Staatsgewalt trifft nicht nur Menschen, die freiwillig unterwegs sind, sondern auch solche, die sich gezwungenermaßen auf den Weg machen mussten, und sie hindert auch Milliarden Menschen an ihrem Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit. Wie lässt sich also über das Unterwegssein, das Nomadische schreiben in einer Welt, die so voller Grenzzäune ist? In einer Welt, in der sich diese Zäune für Menschen mit europäischen Pässen wie von Zauberhand jederzeit öffnen und in der so viele Menschen mit einem anderen Pass jahrelang an diesen Zäunen abgewiesen werden und schließlich beim Versuch, sie zu überschreiten, sterben? Wie schreiben über das Unterwegssein in einer Welt, in der die Entbettung zur Normalität erhoben wird, in der von Menschen mit einem Pass, der dies erlaubt, erwartet wird, der Arbeit hinterherzuziehen – bindungslos, bedingungslos? In einer Welt, in der Menschen, die Grenzzäune überwunden haben, jahrelang in Lagern zusammengepfercht werden, teilweise ohne Möglichkeit, auch nur die Grenze des Landkreises legal zu überqueren (Seite 54)?
Sesshaftigkeit ist die Norm, und gleichzeitig gibt es davon erwartete und verbotene Abweichungen. Erstaunlich Anstrengendes geht mit dem Sesshaftwerden einher: Nimmermüdes Kümmern um Haus und Hof, bei Gefahr des ständig drohenden Zerfalls (siehe Oya 58, »Altlasten lieben lernen«), das Kümmern um Acker und Land – ist vielleicht die Sesshaftigkeit gar eine Wurzel der gegenwärtigen Weltvernutzung mit ihrem Ressourcenraubbau im Namen von Haus, Hof und Acker? Was aber wäre die Alternative dazu? Sicher nicht, dass alle nun immerzu unterwegs sein sollen. Wir wollen nichts verklären und romantisieren, wie es aus einem eurozentrischen Blick auf »das Nomadentum« oder »das fahrende Volk« (Seite 42) oft geschehen ist und noch geschieht. Es wäre außerdem ein Irrtum, eine starre Unterscheidungslinie zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit ziehen zu wollen – es gibt weder das eine noch das andere in Reinform. Vielmehr geht es darum, die sesshaften und die nomadisierenden Aspekte unserer vielfältigen Geschichten gleichermaßen zu würdigen: die traditionelle Walz, unzählige Lieder und Geschichten von Seemanns-, Fernfahrer-, Landstreicher-, Hirten- und Auswandererromantik, von einsamen Cowboys oder Wayfaring Strangers; Romane wie Olga Tokarczuks »Unrast« oder Jack Kerouacs »On the Road«, die von Gilles Deleuze und Félix Guattari entwickelte Philosophie der »Nomadologie«.
Allerdings sind diese durch Abenteuer- und Wanderlust motivierten Formen des Unterwegsseins Phänomene sesshafter Gesellschaften, die etwas völlig anderes als nomadische, in den Rhythmus der Jahreszeiten eingebundene Wanderbewegungen sind. Sind diese Formen zivilisatorischen Unterwegsseins vielleicht Ventile, durch die sich unser nomadisches Erbe Bahn bricht? Oder, anders gefragt: Gibt es die Wanderlust, die Sehnsucht danach, den Horizont zu erreichen, auch unter nomadisch lebenden Menschen?
Auf jeden Fall können die Gründe, warum Menschen sich auf den Weg machen, so unterschiedlich wie Tag uns Nacht sein. Vielleicht geht es den einen darum, sich einer Landschaft, einem Ort hinzugeben, nach innen und nach außen zu lauschen, um den Impuls für den nächsten Schritt, die nächste Richtung, die nächste Begegnung zu erspüren. Manchen geht es nur ums Geld, anderen um den Abenteuerkitzel. Sie laufen dann nicht, sondern fahren mit einem Jeep, vielleicht durch die Wüste, und den Geländewagen mieten sie vielleicht von ehemaligen Tuareg-Rebellen; diese hatten ihn früher von der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit geklaut (mehr zu »Raubzügen« auf Seite 50). »Es war eine gute Idee, Barbar zu sein«, schrieb James C. Scott in »Die Mühlen der Zivilisation« über Nomaden, die regelmäßig in eine neolithische Stadt einfielen und dort »einklaufen« [sic!] gingen. Das war eine Form von »Schenkökonomie«, die nur niemand als solche verstand.
Landschaften pflegnutzen
Weiters haben unsere Gespräche die Ahnung bestätigt, dass nomadisch und halbnomadisch lebende Gruppen – oft über Jahrzehntausende hinweg – im Wechselspiel mit bestimmten Landschaften ökologisch verantwortungsvolle Lebensstile ausgeprägt haben, die jene Landschaften nicht übernutzen, sondern pflegnutzen und auf eine Weise kultivieren, dass sie potenziell für nachfolgende Generationen auf dieselbe Weise bewohnbar bleiben: Nichts anderes bedeutet »enkeltauglich«! Umso tragischer ist es, dass nomadische Gruppen zu den ersten zählen, die unter Klimanotstand und räuberischer Weltvernutzung leiden.
Mündliches Erzählen
So wie die Schriftkultur eine Voraussetzung für das Staatswesen war, so ist die mündliche Erzähltradition ein weiteres Merkmal nomadischer Lebensweisen. Geschichten sind Wissensspeicher, sie stiften Einbettung in Landschaften und Zugehörigkeit zu Traditionslinien. Wie der Kulturanthropologe David Abram in seinem Buch »Im Bann der sinnlichen Natur« beschrieb, bedeutet der Begriff »erzählen« in der Sprache der Westlichen Apachen wörtlich »reiten im Geiste«. Und ein wesentlicher Teil solcher Erzählungen sind wiederum ausführliche Aufzählungen von Ortsnamen, durch die sich die Erzählenden wie die Zuhörenden buchstäblich an diese Orte versetzt fühlen. Auf ähnliche Weise beschrieb Abram die mit den Songlines australischer Aborigines verbundenen Lieder als »eine Art akustische Landkarte«: »Wenn Aborigines am nächtlichen Lagerfeuer einen längeren Teil eines Songzyklus einstudieren, so reisen sie wohl in ihrer kollektiven Vorstellung durchs Land – ebenso wie der Apache, der sich selbst ›Namen erzählt‹, um ›im Geiste zu reiten‹.«
Diese Praktik ist nicht Angehörigen indigener Gemeinschaften vorbehalten, sondern ist auch bei Menschen, die in Gesellschaften westlicher Prägung sozialisiert worden sind, anzutreffen. Folgendermaßen beschrieb der australische Lyriker Les Murray (1938–2019) jenen Moment, in dem ihn die Nachricht erreichte, dass bei einem seiner Söhne Autismus diagnostiziert worden war: »Inzwischen weiß ich, dass das, was ich dann getan habe, weit verbreitet unter Aborigines ist: Ich suchte Trost im Land, ging vor meinem inneren Auge jede Biegung und jeden Trampelpfad auf dem Weg unserer Farm in Bunyah in die nahegelegene Kleinstadt Gloucester. Danach hatte ich mein inneres Gleichgewicht wiedergefunden.«
Kann ich so sensibel lauschen und wahrnehmen, dass ich spüre, dass nicht nur ich die Landschaft spüre und verinnerliche und zu einem Teil von mir mache, sondern diese vielleicht auch mich als ihren untrennbaren Teil, vielleicht gar als ein Organ der Erde erkennt? Was aber heißt es dann, sich während eines Großteils der eigenen Lebenszeit in künstlichen, verbauten Strukturen aufzuhalten? Wie kann ich Landschaft auf verbundene Weise gestalten, wie sie wieder sprechen lassen, um eine andere Beziehung zur mehr-als-menschlichen Welt zu kultivieren?
Dabei können wir einsinken in die Bewegung des Lebendigen, wie es die Schriftstellerin Olga Tokarczuk in »Unrast« aus einer Kindheitserinnerung beschreibt: »Als ich so in den Anblick der Strömung versunken auf dem Flutwall stand, wurde mir klar, dass allen Gefahren zum Trotz das, was in Bewegung ist, immer besser sein wird, als das, was ruht, dass der Wandel edler ist als die Stetigkeit, dass das Unbewegliche Zerfall und Auflösung anheimfallen muss und zu Schutt und Asche wird, während das Bewegliche sogar ewig währen kann.«
Geschichten erleben
Wer sich nun gerne selbst auf den Weg machen, die Welt erwandern, erzählen und erlauschen will, ist herzlich zu unserer Sommer-Ausgabe eingeladen: einfach dieses Heft umdrehen und wenden, von hinten aufblättern, reinlesen – und loslaufen! //