Erzählen im Anthropozän.von Joachim Borner, erschienen in Ausgabe #63/2021
Ich bin Wissenschaftler. Zwangsläufig habe ich – gerade auch, was die Transformation oder Metamorphose der menschlichen Kultur anbelangt – ein spezifisches Gefühl für Wissen (und ebenso für das, was wir nicht wissen) hinsichtlich dessen, wo wir wie und wann handeln sollten. In den hochkomplexen Systemen, in denen wir leben und von denen wir abhängen, ist das gar nicht so viele Wissen, das wir über sie haben, die sachliche Stütze für fehlerärmere Entscheidungen zum Überleben. Dazu gehört auch, zu wissen, was wir nicht wissen – also in etwa die Unsicherheiten zu ahnen, in denen wir uns im Anthropozän bewegen und handeln und Veränderungen bewirken.
Warum beschäftige ich mich mit dem -Geschichtenerzählen? Wissenschaftliche Aussagen sind abstrakt. 1,5 Grad Celsius ertragbarer Temperaturanstieg ist eine statistische Größe. Was kann sie auslösen, was veranlassen? Nicht viel. Erzählungen können, wenn sie gut sind, Abstraktes in alltagskulturelles Verstehen übersetzen – und dieses ist emotional, es führt zu Betroffenheit. Geschichten erinnern an schon Erlebtes, an Erfahrungen, an Konflikte und verbinden Erinnerungen an Vertrautes mit der neuen, jetzigen Situation. Indem sie Metaphern nutzen, können Erzählungen deutlich leichter Komplexität (Vernetzungen, Prozesse, Kipppunkte etc.) erahnen lassen.
Durch das Erzählen bin ich leichter in der Lage, das, was ich über die Welt – und mich mittendrin – denke, auszudrücken, und vor allem auch sichtbar zu machen, wie ich denke. Die Verbindung mit meinem Narrativ (meinem Verständnis über die Welt – wie sie tickt, wie sie sich organisiert und funktioniert – und welches mir Orientierung gibt) wird darüber ermöglicht, und dieses ermöglicht wiederum die Kontaktaufnahme zu den Narrativen der Anderen um mich herum. Diese Narrative (oder »Denkbilder« oder »Diskurse«) sind der Schlüssel für das gegenseitige Verstehen (wollen) und für das Wahrnehmen, das Annehmen von Veränderungen der Mitwelt.