Titelthema

Gast sein und Gastgeben

Vom Glück des Couchsurfings.von Mandy Rentsch, erschienen in Ausgabe #63/2021
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© privat

Bis ich Ende zwanzig war, hatte ich ein sehr sesshaftes Leben, war als Physiotherapeutin über zehn Jahre beim gleichen Arbeitgeber und zu Hause bei meiner Familie in der Oberlausitz. 2012 ging ich mit einer Freundin zwei Wochen auf dem portugiesischen Jakobsweg. Das hat mir die Augen geöffnet, mir gezeigt, worauf ich mich einlassen kann. Auf diesem Weg habe ich gelernt, wie weit ich an meine körperlichen und mentalen Grenzen gehen kann. Auch wenn mir nach Etappen von 25 bis 30 Kilometern alles weh tat, wusste ich, dass ich es bis zur nächsten Herberge schaffen würde. Das Wenige, das ich im Rucksack mit mir trug, war völlig ausreichend; ich konnte problemlos mit fremden Menschen in einem Raum schlafen und verlor nie die Lust, mich auf die Menschen, denen ich begegnete, einzulassen.

Ein Jahr darauf konnte ich ein Hemmnis überwinden, das mich zuvor vom Reisen abgehalten hatte: mein Gefühl, nicht gut genug Englisch zu können. Mit einer Freundin und ihrem Partner besuchte ich deren ausgewanderte Cousine Martina und ihren Mann Akbar in Indien. Gemeinsam bereisten wir vier Wochen lang das Land. Mit dem frischverliebten Paar an meiner Seite, das vor allem einander zugewandt war, lag die Kommunikation mit Akbar hauptsächlich bei mir. Als er fragte: »Are you hungry?«, traute ich mich nicht mal mit »yes« oder »no« zu antworten, aus Angst davor, in ein Gespräch verwickelt zu werden. Irgendwann platzte dann endlich der Knoten in meinem Kopf, und ich fing einfach an, Englisch zu sprechen.

Zwei Jahre später traute ich mich, die Sicherheitsleinen einer geregelten Erwerbsarbeit für längere Zeit zu lösen, und reiste ein Jahr lang durch Südostasien. Damals dachte ich noch, dass ich danach wohl oder übel zur Sesshaftigkeit mit geregelter Erwerbsarbeit zurückkehren würde. Doch in der Physio-Einrichtung, in welcher ich nach meiner Rückkehr die Arbeit wieder aufnahm, stand ich oft am Fenster, um Weite zu sehen und nicht nur Wände. Mir fehlte das Leben unter freiem Himmel. Seitdem war ich immer wieder für kürzere oder längere Zeiträume unterwegs, bereiste den Iran und durchquerte Kanada. Seit einiger Zeit lebe ich bei einem Freund in der Schweiz.

Die meisten Menschen in meiner Herkunftsregion werden solche Reisen, bei denen man auf Tuchfühlung mit Land und Leuten geht, nicht machen; daher ist es mir eine Herzensangelegenheit, Eindrücke und Erfahrungen mit in die Lausitz zu bringen. Besonders erinnerungswürdig ist unter anderem ein Vortrag über meine Iranreise 2017 für meine Arbeitskolleginnen und -kollegen, bei dem ich Erlebnisse teilen sowie Ängsten und Vorurteilen begegnen konnte.

Was mir ermöglichte, wirklich mit den Menschen einer Region in Kontakt zu kommen, war das »Couchsurfing«: angefangen bei einer Familie in Nepal, mit der ich ein hinduistisches Fest zu Ehren der Haustiere feierte, über einen engagierten Gastgeber in Singapur, der mir seine Heimat näherbrachte, bis hin zu einem großen Freundinnennetzwerk in Kanada. Eine der berührendsten Reiseerfahrungen habe ich jedoch als Gastgeberin gemacht: Ich war zunächst unsicher, ob überhaupt jemand in ein kleines sorbisches Dorf würde reisen wollen, bekam dann aber eine liebevoll geschriebene Anfrage aus Tatarstan. Alina ist die Ur-Enkelin eines Mannes, der im Zweiten Weltkrieg in der Schlacht bei Bautzen gefallen ist. Für ihren Großvater wollte sie nun das Grab finden, damit dieser Gewissheit über das Schicksal seines Vaters finden könnte. Gemeinsam suchten wir zwei Stunden auf dem alten Sowjetfriedhof in Bautzen, schoben Efeu beiseite und entzifferten verwitterte Namen in kyrillischer Schrift auf hunderten von Stelen. Als wir den Namen von Alinas Urgroßvater schließlich auf einem großen umgekippten Stein gefunden hatten, kniete sie am Grab nieder, verteilte die mitgebrachte Erde aus seinem Heimatdorf, sprach auf Tatarisch zu ihm und weinte. In einem Café zeigte sie mir nachher Fotos ihres Großvaters und erzählte mir Geschichten über ihn. 

Bekannte meinen manchmal, ich sei auf der Flucht und müsse doch endlich mal ankommen. Ich habe lange über dieses Ankommen nachgedacht: Bedeutet es tatsächlich, für immer einen festen Wohnsitz, Arbeitsplatz und Freundeskreis zu haben? Oder kann Ankommen auch bedeuten, mit sich und der Welt im Reinen zu sein? Mir ist es wichtig, jeden Tag meinen Horizont zu erweitern, Neues zu lernen und nach dem Sinn all dessen zu fragen. Am meisten lerne ich dabei von den Menschen, die ich unterwegs treffe  – diese Begegnungen sind es, die mich antreiben, weiterzureisen.  

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