Titelthema

Vom Nachtwandern

Eine besondere Form des Unterwegsseins ist das Wandern im Dunkeln.von Dennis Trendelberend, erschienen in Ausgabe #63/2021
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© noel siegenthaler

Mit anderen Menschen die Dunkelheit zu begehen, ist für mich etwas vom Schönsten, besonders an Orten, an denen die Eulen zu hören sind, die Wildschweine durch das Unterholz knacken oder ein Fuchs den Weg kreuzt. Noch immer gerate ich, ähnlich dem ersten Laternenumzug der Kindergartenzeit, in eine vorfreudige, aufgeregte Stimmung. Es liegt an der grundsätzlichen Faszination der Nacht und dem Gefühl, sie mit dem eigenen Körper zu durchwandeln, der Erleichterung, von etwas umschlossen zu werden, aber auch der schauervollen Anwesenheit des Unsichtbaren, Verdrängten und Unbewussten. Ich freue mich, mein sonstiges Leben für einige Zeit nicht fortführen zu müssen, und bekomme nach einer Weile des absichtslosen Gehens und der Nacht (dem zweierlei entrückten Alltag) sogar die Ahnung, dauerhaft anders leben zu können. Die Wohligkeit, dass dennoch jemand bei mir ist, und die stille Ausgelassenheit, wenn der oder die Vertraute, vielleicht bloß als Schatten zu erkennen, nach einigem Schweigen wieder etwas sagt. Das Zusammensein verändert sich durch das nächtliche Gehen, auf eine Weise sind die Worte wichtiger, auf eine andere verlieren sie ihr sonstiges Gewicht; ich höre auf damit, mich anderen Menschen gegenüber anzustrengen, und genieße es, zugleich anwesend wie abwesend zu sein.

Wenn ich allein bin, nehme ich mir das Nachtwandern kaum vor, es ergibt sich etwa, indem ich einen Bus verpasse oder nach einer Tageswanderung längere Zeit keinen Schlafplatz finde. Auch drängt es mich manchmal aus verschiedenen Gründen, am Abend meinen Rucksack zu schultern und ohne genaues Ziel die Wohnung, die Stadt zu verlassen, am liebsten für einen Weg, den ich bisher nicht gegangen bin, für einen Landstrich, den ich nicht kenne. Wo die Straßenbeleuchtung endet, ängstige ich mich ohne einen weiteren Menschen zunächst immer noch: Wie wichtig ich mich nehme, jedes Mal muss ich erneut akzeptieren, dass ich sterben werde, dass ich sterbe. Einmal bemerkte ich einen Dachs erst, als wir beinahe ineinandergelaufen sind, unser jähes Zurückschrecken voreinander in derselben Bewegung, demselben Gefühl. Für einen Moment war ich ganz Tier oder der Dachs ganz Mensch, stellte ich später fest. Als mein Herzrasen nachließ, war ich bereits ein solcher Nachtwanderer, dass ich zunächst aber weiterging, als gäbe es dem Erlebten nichts hinzuzufügen, als wäre nun schlicht ein neues, weiteres Jetzt angebrochen, das sich wenig um das vorige kümmerte. Ich erinnere mich, es war die Nacht, in der ich mich von einem Menschen freigehen konnte, dem ich hinterhergeträumt hatte. Die Nüchternheit des nächtlichen Gehens: von den Vorstellungen über mich selbst und andere umstandslos ablassen zu können, die Wirklichkeit anzuerkennen.

Die Lust auf den nächsten Schritt, am Weitergehen, die Lust an einem Schrittrhythmus, der das einzige Geräusch bilden kann. Die kühle Nachtluft im Gesicht und der Nase, sonstige Gerüche ebenfalls verschwunden, und wenn möglich, schalte ich vor der ohnehin verdunkelten Landschaft die Stirnlampe aus. Aufmerksam registriere ich die wenigen verbleibenden Reize und fühle mich lebendig, vollkommen gegenwärtig und zugleich zeitlos. Ich fühle mich frei. Ich bleibe nicht mehr stehen wie am Tag, sehe mich nicht mehr um, zögere nicht mehr, denke nicht mehr an ein Ziel und frage mich nicht mehr, wo ich in einer halben Stunde, in einer Stunde oder wenn es dunkel wird, sein werde. Dunkel ist es schon und noch, ich scheue mich höchstens ein wenig vor dem Licht. Meine Beine halten sich irgendwann in ihrer Trägheit scheinbar von selbst in Gang und ich komme mir in der sich ergebenden Erschöpfung auf eine Weise ganz wach vor, als würde ich gerade in der Müdigkeit und dem anhaltenden, gleichförmigen Gehen zu einer sonst verdeckten Schicht meines Bewusstseins vorstoßen. Die Erinnerungen und Gedanken haben sich längst ausgedünnt, sind mit den Stunden immer spärlicher geworden. Ich habe aufgehört zu denken, nehme nurmehr wahr, auch die ab und an sich ergebenden Gedanken selbst. Manche dieser Gedanken kehren mehrmals wieder, setzen sich in die Stille und werden zu deutlichen Sätzen. Zwei oder drei Sätze bleiben bis zur Dämmerung, bis zum nächsten Morgen übrig vielleicht, die ich, nach einem tiefen Schlaf, mitnehmen kann in die nächste Zeit.  

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