Die Kraft der Vision

Fragen statt Antworten

Unser Nichtwissen anzuerkennen, könnte unsere Rettung sein.von John Holloway, erschienen in Ausgabe #65/2021
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Wir leben in einem gescheiterten System. Tagtäglich wird deutlicher, dass die gegenwärtige gesellschaftliche Organisation ein Desaster ist und der Kapitalismus nicht in der Lage ist, uns ein menschenwürdiges Leben zu bescheren. Die Covid-Pandemie ist kein natürliches Phänomen, sondern Ergebnis der gesellschaftlichen Zerstörung der Biodiversität, und es ist wahrscheinlich, dass weitere Pandemien folgen werden. Die Erderwärmung, durch die menschliche und viele nicht-menschliche Lebensformen bedroht sind, ist Ergebnis der kapitalistischen Zerstörung zuvor erreichter Gleichgewichte. Die gesellschaftliche Akzeptanz von Geld als herrschendem Maß gesellschaftlichen Werts zwingt einen Großteil der Weltbevölkerung dazu, in elenden und prekären Verhältnissen zu leben.

Die durch den Kapitalismus hervorgerufene Zerstörung beschleunigt sich rasant. Steigende Ungleichheit, zunehmender Rassismus und Faschismus, wachsende Spannungen zwischen Staaten. Zudem hängt der Fortbestand des Kapitalismus von einer ständig wachsenden Schuldenblase ab, die früher oder später platzen wird.

Wir Menschen sind gegenwärtig mit der realen Möglichkeit unserer eigenen Auslöschung konfrontiert.

Wie kriegen wir die Kurve? Die übliche Antwort jener, die sich der durch das Kapital verursachten Zerstörung bewusst sind, lautet: durch den Staat. Staaten werden das Problem der Erderwärmung lösen, Staaten werden die Zerstörung der Biodiversität richten, Staaten werden die durch die gegenwärtige Krise hervorgerufene massive Not und Armut lindern. Gebt einfach den richtigen Anführern eure Stimme, und alles wird gut. Und wenn ihr ernstlich besorgt über das gegenwärtige Geschehen seid, dann stimmt einfach für radikalere Kandidaten – für Sanders oder Corbyn oder Die Linke oder Podemos oder Evo Morales oder Maduro oder López Obrador –, und alles wird gut.

Der Staat ist nicht die Lösung

Das Problem ist nur: Aus Erfahrung wissen wir, dass diese Argumentation nicht stimmt. Linke Parteien und Politiker haben ihre Versprechen nie erfüllt. Zwar mögen sie kleinere Veränderungen bewirken, tragen jedoch rein gar nichts dazu bei, die zerstörerische Dynamik des Kapitals aufzuhalten.

Doch nicht nur die Erfahrung zeigt uns, dass der Staat nicht das Gegengewicht zum Kapital ist, als das ihn manche ausgeben; theoretische Reflexion führt zu demselben Ergebnis: Der Staat, nur scheinbar eine vom Kapital getrennte Form, wird tatsächlich erst durch das Kapital hervorgebracht und von diesem ist sein Fortbestand abhängig. Zwar ist der Staat kein Kapitalist und seine Arbeiter generieren auch nicht die Erträge, die für seinen Fortbestand nötig sind. Diese werden durch die Ausbeutung von Arbeitern durch das Kapital generiert, so dass der Staat tatsächlich von dieser Ausbeutung – also von der Akkumulation des Kapitals – abhängig ist, um seine eigene Existenz zu reproduzieren.

Der Staat ist also schlichtweg durch seine Form dazu gezwungen, die Akkumulation des Kapitals zu befördern. Das Kapital ist ebenfalls abhängig von der Existenz einer Instanz, die nicht wie ein Kapitalist handelt und die als vom Kapital getrennt erscheint, um seine eigene Reproduktion sicherzustellen. Der Staat ist nur scheinbar das Zentrum der Macht, tatsächlich aber liegt die Macht bei den Kapitaleignern, also bei jenen, die sich der Ausweitung des Kapitals widmen. Anders ausgedrückt, stellt der Staat kein Gegengewicht zum Kapital dar: Er ist Teil ein und derselben unkontrollierbaren zerstörerischen Dynamik.

Der Umstand, dass der Staat an das Kapital gebunden ist, bedeutet, dass er uns ausschließt. Die staatliche Demokratie ist ein ausschließender Prozess, der sagt, »Komm’ und stimme alle vier oder fünf Jahre für uns, geh’ dann nach Hause und akzeptiere, was wir beschließen«. Der Staat ist die Existenz eines Gebildes von Funktionsträgern, die die Verantwortung dafür übernehmen, die Reproduktion der Gesellschaft sicherzustellen – freilich auf eine mit der Reproduktion des Kapitals kompatible Weise. Indem diese Verantwortung übernehmen, berauben sie uns dieser. Doch was auch immer ihre Absichten sein mögen, es ist ihnen nicht möglich, dieser Verantwortung gerecht zu werden, weil sie gar nicht über die Gegenmacht verfügen, die ihnen zugeschrieben wird: Was sie und wie sie es tun, wird von der Notwendigkeit, die Reproduktion des Kapitals sicherzustellen, bestimmt.

Gegenwärtig sprechen Politikerinnen und Politiker von der Notwendigkeit eines radikalen Kurswechsels, sobald die Welt die Pandemie überwunden hat, doch kein Politiker oder Regierungsvertreter sagt, dass die Abschaffung eines auf Profitstreben begründeten Systems Teil dieses Kurswechsels sein muss.

Wir haben keine Antworten

Wenn der Staat nicht die Antwort auf die kapitalistische Zerstörung ist, dann folgt daraus, dass die Antwort auch nicht sein kann, unsere Anliegen in politische Parteien zu kanalisieren, denn Parteien sind Organisationen, die Veränderung mittels des Staats herbeizuführen suchen. Versuche, eine radikale Veränderung durch Parteien und die Übernahme der Staatsmacht zu schaffen, haben meist selbst autoritäre Regimes hervorgebracht, die mindestens so verheerend waren, wie jene, gegen die sie angekämpft hatten.

Wenn der Staat also nicht die Antwort ist, wo liegt sie dann?

Vielleicht müssen wir auch die Vorstellung von Antworten aufgeben. Wir haben keine Antworten. Es kann nicht darum gehen, den staatlichen Antworten anarchistische Antworten entgegenzusetzen. Der Staat gibt Antworten, falsche Antworten. Wir haben Fragen, drängende Fragen, neue Fragen, denn nie zuvor waren wir derart durch unsere Auslöschung bedroht. Wie können wir die zerstörerische Dynamik des Kapitals aufhalten? Die einzige Antwort, die wir darauf haben, heißt: Wir wissen es nicht.

Aus zweierlei Gründen ist es wichtig, das zu sagen: Erstens, weil es wahr ist. Wir wissen nicht, wie wir die gegenwärtige Katastrophe beenden können; wir mögen Ideen haben, wissen es aber schlichtweg nicht. Und zweitens, weil eine Politik der Fragen sich sehr von einer Politik der Antworten unterscheidet. Wenn wir Antworten haben, ist es unsere Pflicht, sie anderen nahezubringen. Das tut der Staat, das tun progressive Parteien. Wenn wir jedoch Fragen statt Antworten haben, dann müssen wir diese gemeinsam diskutieren, um uns zu gangbaren Wegen vorzutasten. Preguntando caminamos – »Fragend gehen wir voran«, wie die Zapatistas sagen. Der Prozess fragenden Zuhörens führt nicht zu einer anderen Gesellschaft, sondern erschafft bereits eine andere Gesellschaft. Fragendes Zuhören ist das gegenseitige Anerkennen unserer je eigenen Würde. Wir hören dir aus einer fragenden Haltung zu, weil wir deine Würde anerkennen. Das ist das Gegenteil von Staatspolitik. Der Staat spricht. Er gibt vor, zu fragen und zuzuhören, tut es jedoch nicht und kann es nicht, denn seine Existenz hängt von der Reproduktion einer Form gesellschaftlicher Organisation ab, die auf der Herrschaft des Geldes gründet.

Unser fragendes Zuhören ist eine anti-identitäre Bewegung. Wir erkennen deine Würde nicht deshalb an, weil du Anarchist oder Kommunist bist, Deutscher oder Österreicher, Mexikaner oder Ire, eine Frau, eine Schwarze oder eine Indigene. Etiketten sind hochgefährlich – selbst wenn sie »nett« gemeint sind –, denn sie erzeugen identitäre Unterscheidungen. Zu sagen »Wir sind Anarchisten«, ist ein Widerspruch in sich, denn es reproduziert die identitäre Logik des Staats: Wir sind Anarchisten – ihr nicht; wir sind Deutsche – ihr nicht. Wenn wir gegen den Staat sind, dann sind wir auch gegen seine Logik, gegen seine Grammatik.

Wir haben keine Antworten, aber unser fragendes Vorangehen beginnt nicht bei Null. Es ist Teil einer langen Geschichte. Gerade feierten wir den 150. Jahrestag der Pariser Kommune und den 100. Jahrestag des Kronstädter Aufstands. Gegenwärtig inspiriert uns die Erfahrung der Zapatistas. Und natürlich beobachten wir die tief verankerte Praxis von Räten in der kurdischen Bewegung unter den furchtbar schwierigen Bedingungen ihres Kampfs. Hinzu kommen die Millionen von Rissen, in denen Menschen sich auf einer anti-hierarchischen Grundlage gegenseitiger Anerkennung zu organisieren versuchen. Es ist schlichtweg nicht wahr, dass der staatliche der einzige Weg wäre. Wir müssen von den Dächern rufen, dass es einen anderen, langerprobten Weg gibt: die Sachen selbst in die Hand zu nehmen, kollektiv.

Die, die da sind, sind die Richtigen

Die Organisation in der Tradition von Kommunen oder Räten gründet nicht auf Auswahl und Ausschluss, sondern auf der Zusammenkunft derjenigen, die da sind – ganz gleich, ob im Dorf, in der Nachbarschaft oder der Fabrik, mit all ihren Unterschiedlichkeiten, all ihren Streitereien, all ihren Verrücktheiten, all ihren Gemeinheiten, all ihren gemeinsamen Interessen und Anliegen.

Räte oder Kommunen sind Bewegungen hin zur Selbstbestimmung: Indem wir miteinander fragend-zuhörend denken, entscheiden wir, wie wir leben wollen – nicht, indem wir dem blinden Diktat des Profits folgen. Und, was wohl zunehmend wichtiger wird: Es bedeutet, uns unserer Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft menschlichen Lebens zu stellen. Es hilft wenig, am Vorabend unserer Auslöschung zu proklamieren: »Das ist alles die Schuld der Kapitalisten und ihrer Staaten!« Nein. Es ist unsere Schuld, wenn wir nicht die Macht des Geldes brechen und unsere Eigenverantwortung für die Zukunft menschlichen Lebens vom Staat zurückfordern. //


Gekürzte und redaktionell veränderte Fassung der erstmals in »Graswurzelrevolution« erschienenen Übersetzung (von Lars Stubbe) einer Rede, gehalten bei der Online-Tagung »Krise der Nationalstaaten – anarchistische Antworten?«, veranstaltet
vom 19. bis 21. März an der Pädagogischen Hochschule Freiburg.


John Holloway (74) wurde in Dublin geboren und promovierte nach einem abgebrochenen Jurastudium im Fach Politikwissenschaft an der Universität Edinburgh. 1991 ging Holloway nach Mexiko, zwei Jahre darauf trat er dort seine bis heute betriebene Lehrtätigkeit an der Benemérita Universidad Autónoma de Puebla (BUAP) an. Als Wahl-Mexikaner ist er den aufständischen Zapatistas besonders verbunden. Seit 1974 gehört Holloway der »Conference of Socialist Economists« an; er zählt zu den wichtigsten Akteuren des offenen Marxismus. Er wirft einen kritischen Blick auf das Phänomen »Macht«, so etwa in dem 2002 auf Deutsch erschienenen Buch »Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen«. Holloway unterscheidet zwischen »kreativer« und »instrumenteller« Macht; die Veränderung der Welt bedinge die Schöpfung einer »Anti-Macht«. So müssten dem Fetisch des Eigentums Freundschaft, Liebe, Solidarität und Gemeinschaft entgegengesetzt werden. Er schlägt keinen dogmatisch festgelegten Weg der Veränderung vor, sondern besteht auf der Dialektik zwischen Analyse und Vision innerhalb einer fragmentierten Bewegung, welche die Gesellschaftlichkeit des Tuns flickenartig zusammenfügt. Im Verlag »Westfälisches Dampfboot« erschienen auch sein Buch zur »Regionalisierung der Weltgesellschaft« (1993) sowie ein Band mit Vorträgen Holloways  (2017).

www.johnholloway.com.mx



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