Mira Klepfer besuchte das vorpommersche Dorf Hohenbüssow, dessen Leute zu
verbundenem, engagiertem Sein einladen.von Mira Klepfer, erschienen in Ausgabe #65/2021
Ich sitze auf dem »Hagrid-Klo« in Hohenbüssow und denke darüber nach, wie ich hier gelandet bin und wie sich alles fügt. Hagrid ist ein Halbriese aus den Harry-Potter-Romanen, und das nach ihm benannte Klo die Wenn-schon-denn-schon-Variante eines wirklich geräumigen Kompostklos mit eingebautem Buntglasfenster, das sogar vermag, ein wenig kirchlichen Charme mit auf die Toilette zu bringen. Ich mag’s! Micha Mai wollte keine halben Sachen machen, als er es baute. Und er war es auch, den ich besuchen wollte. Oft hat er mir gegenüber vom »Ausatmen« in Mecklenburg-Vorpommern gesprochen, und ein Grund für meine Reise war, diese Qualität einmal selbst zu erleben. Wo sollte das besser gelingen als auf dem Klo des lieben Hagrid?
So plante ich auf dem Weg von Klein Jasedow nach Kassel einen Zwischenstopp in Hohenbüssow ein und erfuhr einen Tag zuvor, dass Jule, die als eine langjährige Gefährtin Michas auch an diesem Ort des Ausatmens lebt, zu »Oya findet statt« eingeladen hatte. Eins kam zum anderen – und ich an einen Ort, der dazu inspiriert, Pause zu machen. Lassenskraft walten zu lassen. Aufzuhören.
Micha hatte ich ein Jahr zuvor im Rahmen des Orientierungscamps für junge Menschen in der Gemeinschaft Schloss Tempelhof kennengelernt. Dies ist ein Forschungsraum, der die jüngere und die ältere Generation zusammenbringt und jungen Menschen Orientierung in einer komplexen Welt des Wandels schenken möchte. Ich war damals Teilnehmende, Micha raumhaltend. Seitdem sind wir in Kontakt und erzählen einander von unseren Prozessen. Micha ist etwa doppelt so alt wie ich, stellt sich aber die gleichen Fragen: Was braucht die Welt von uns? Was von mir persönlich? Wie gelingt generationenübergreifendes Miteinander?
Während eines langen ausschweifenden Spaziergangs rund um Hohenbüssow stellte ich fest, wie sehr sich unsere Ansätze und Werte gleichen. Während wir über das Gelände einer ehemaligen Kiesgrube liefen und Micha in leuchtenden Farben beschrieb, wie dort das »Freiland-Festival« und diverse andere Feste gefeiert werden, sprachen wir auch über die Bedeutung des Dialogs zwischen Jung und Alt. Uns ist es beiden wichtig, dass alle Menschen, unabhängig vom Alter, mitein-ander auf gleicher Augenhöhe in Verbindung treten können, um Neues und Gutes für die Welt zu kreieren. Dafür halte ich Offenheit sowie die Bereitschaft, gemeinsam in den Raum des Nichtwissens einzutreten, für zentral. In diesem Moment des lauen Abendsonnenspaziergangs erkannte ich, warum Micha Hohenbüssow als Basis nutzt, von der aus er immer wieder losfährt, um in Räume einzutauchen, die ihn rufen. Ich spürte die Weite und atmete die Freiheit. Schon seit der Wende versuchen sich hier Künstlerinnen und Künstler in verbundenem, ausatmendem, engagiertem Sein. Plötzlich kommen mir manche Gegenden in Süddeutschland mit ihrer aufgeräumten Ansehnlichkeit ziemlich langweilig vor. Hier gibt es noch viel zu tun und vieles davon fühlte sich nach unzähmbarer Lebendigkeit an – so wie diese einstige Kiesgrube im Nirgendwo, in der nun langsam wieder Bäume wachsen und Teiche entstehen und in der Holzwegweiser noch und wieder auf sommerliche Festivitäten hindeuten. Kurz vor Hohenbüssow entdeckten wir eine Raupe, die so haarig war, dass sie mich an ein Stachelschwein erinnerte. Auch Rehe und ein Fuchs liefen uns über den Weg, und wir freuten uns an der Be-wegung, tauschten uns über unsere Projekte aus und darüber, was uns an den Texten Charles Eisensteins begeistert.
Einen Tag darauf lernte ich Jule besser kennen, die mich einlud, ein besonderes Feuer zur Sommersonnwende zu entzünden und zu hüten. Ich gab mich mit Ehrfurcht und Konzentration dieser Aufgabe hin und erkannte, wie mir dieser Ort mit all seinen Aktivitäten einen bewussten Übergang ermöglichte, nachdem ich einen Monat unterwegs gewesen war und bald zu meiner vorübergehenden Basis zurückkehren würde. Micha verabschiedete mich mit den Worten: »Vernetze weiter die Orte!« – »Du auch!«, entgegnete ich.
Und so nahm ich aus Vorpommern tatsächlich einen nährenden Atemzug, den Geruch eines besonderen Feuers in meinen Haaren und die Vorfreude auf Pause und Integration nach vier Wochen des Reisens im Wandel mit. Jetzt kann ich voll und ganz ausatmen. //