Titelthema

Die Freiheit, zu geben

Romina Lani, die vor fünf Jahren aus Albanien nach Deutschland ­eingewandert ist, spricht mit
Oya-Redakteurin Maria König über die Qualität der Gastlichkeit hier und dort.
von Maria König, Romina Lani, erschienen in Ausgabe #65/2021
Photo
© privat

Maria König: Mit dem »Sommer des guten Lebens«, zu dem viele Oya-Hütende und -Lesende Gäste an ihre Orte eingeladen haben, ist die Frage nach einer nährenden Form von Gastlichkeit für uns sehr lebendig geworden. Das erinnerte mich an meine Reise durch Nordalbanien im Jahr 2016. Die Herzlichkeit und Offenheit der Menschen dort haben mich tief beeindruckt und mir ein Gefühl von Geborgenheit gegeben, das ich so nicht erwartet hatte. Selten habe ich mich so sicher gefühlt. Ich führe das darauf zurück, dass die Menschen im öffentlichen Raum viel aufmerksamer für ihre Umgebung waren, als ich es bislang kannte. In Shkodra beispielsweise war ich keine fünf Minuten aus dem Bus ausgestiegen, als mich schon jemand fragte, was ich suche und ob er helfen könne. Die Hilfsbereitschaft und Anteilnahme erlebte ich als einladend, dabei aber nicht aufdringlich. Diese Haltung empfinde ich als sehr wohltuend und sie scheint mir in Albanien weit verbreitet und tief verankert.  

Romina Lani: Ich habe auch schon von vielen anderen Freunden gehört, dass sie sich in Albanien sehr willkommen gefühlt haben. Ich komme selbst aus Shkodra, und auch für meine Familie war es selbstverständlich, Fremden auf der Straße zu helfen. Vielleicht, weil wir uns im Ausland selber schon verloren gefühlt haben.

Ist das auch eine Qualität, die Nachbarinnen und Nachbarn miteinander teilen?  

Ja, auch. Wenn beispielsweise meine Mama gekocht hat und etwas fehlte, konnte sie problemlos bei den Nachbarsleuten fragen. Auch wir Kinder haben uns bei den nebenan Wohnenden wie zu Hause gefühlt. Dasselbe galt für Begegnungen mit Menschen in anderen albanischen Orten. Wenn meine Familie in den Bergen Urlaub machte, haben uns die Menschen im Gasthaus immer frisches Essen mit nach Hause gegeben oder etwas, wofür das jeweilige Dorf bekannt ist. Das fand ich immer sehr schön. Ich würde auch sagen, dass diese Herzlichkeit etwas Typisches ist. Die Menschen besitzen meistens nicht viel, aber was sie haben, möchten sie gerne teilen.

Wie war es für dich, als du vor fünf Jahren nach Deutschland gekommen bist?

 Ich musste mich an die andere Kultur erst einmal gewöhnen. Wenn beispielsweise Freundinnen und Freunde von mir nach Albanien zu Besuch kamen, hat meine Mama für uns gekocht und meine Mitreisenden ermuntert zu essen. Sie sagte zu ihnen: »Vielleicht schämst du dich hier, aber du musst dich gar nicht schämen, du kannst dich wie zu Hause fühlen.« Und selbst, wenn alle bereits satt waren, ermunterte sie sie, noch etwas zu essen und auch etwas mitzunehmen. Es war immer intensiv. In Deutschland ist das anders. Wenn du möchtest, kannst du etwas essen, aber du musst nicht. Keiner wird dich zweimal fragen. Wenn ich in Deutschland bei Freunden war und sagte, ich wolle nur ein Wasser, bekam ich auch nur ein Wasser. In Albanien hätten mir befreundete Menschen mit Sicherheit dennoch etwas zu essen gebracht. 

Waren diese Unterschiede auch für deine Freundinnen und Freunde in Deutschland spürbar?

 Dass ich, wenn ich befreundete Menschen zu mir nach Hause einlud, immer sehr viel Essen vorbereitet hatte und auch nie Geld dafür wollte, fanden sie zwar super nett von mir, aber auch irritierend. Mittlerweile finde ich es sehr gut, dass alle etwas mitbringen und wir gemeinsam für das Essen sorgen. Und ich finde es inzwischen auch ganz schön, meine persönlichen Grenzen besser erkennen und anerkennen zu können.

Hast du das Gefühl, dass Menschen in Albanien eher über ihre Grenzen gehen? 

Das würde ich schon sagen. Es ist ein bisschen zu viel, aber es gibt dir ein schönes Gefühl. Beispielsweise ist es in Albanien üblich, die Schlüssel da zu lassen, wenn du in den Urlaub fährst, und Bekannte können jederzeit in deine Wohnung, wenn sie wollen. Ich finde es schön, frei zwischen unterschiedlichen kulturellen Einflüssen wählen zu können. Jetzt hängt es von meinem Gegenüber ab, ob ich sehr herzlich bin oder ob ich Grenzen ziehe. Auch fühle ich mich nicht schlecht, wenn etwas mit meiner kulturellen Sozialisation nicht zu passen scheint, weil mir viel bewusster geworden ist, dass nicht alle Menschen gleich sind und gleich denken. Auch mit vielen Themen, die mich beschäftigen, fühle ich mich in Deutschland viel freier.

Hast du ein Beispiel?  

Ich bin mit einer Frau zusammen und hier in Deutschland kann ich frei über meine Sexualität sprechen, ohne Ablehnung zu erfahren. Ich wusste lange nicht, dass Frauen auch mit Frauen Liebesbeziehungen haben können. In meiner Familie wurde kaum über solche Themen gesprochen – und wenn, dann schlecht. Ich hatte auch Angst, mit befreundeten Menschen darüber zu sprechen. Hier in Deutschland erlebe ich viel Offenheit und ich bin sehr glücklich, dass die Menschen in meiner Umgebunge mich unterstützen. 

Als meine Schwester im Familienkreis teilte, dass sie mit einer Frau in einer Liebesbeziehung ist, war das für meine Eltern und meine Oma durchaus herausfordernd, aber tatsächlich war es kein unmögliches oder gar verbotenes Thema. Ich habe allerdings auch in Deutschland immer wieder das Gefühl, dass ich nicht über jedes Thema frei sprechen kann. Mir wird nicht immer mit Offenheit begegnet. Aber durch unser Gespräch ist mir gerade nochmal bewusst geworden, dass hier in den letzten Jahrzehnten viele Freiräume erkämpft worden sind. 

Auf jeden Fall – auch was die Entfaltungsmöglichkeiten von Frauen generell betrifft. In Albanien habe ich oft gedacht: »Oh, wäre ich nur ein Mann, dann könnte ich dies und das tun.« Nun mache ich als Frau, wovon ich in Albanien immer geträumt habe: Ich lebe selbstbestimmt und ich spiele Fußball.

War der Wunsch nach Selbstbestimmung auch der Grund, warum du sechzehnjährig nach Deutschland gegangen bist? 

Ja, ich bin mit 16 Jahren nach Deutschland geflüchtet. Es war eine Zeit, in der ich die Welt kennenlernen wollte. Meine Familie war gegen meine Entscheidungen und letztlich dagegen, was für ein Mensch ich bin. Das war der Punkt, an dem ich sagte: »Ich muss einfach gehen!« Ich hatte meine Schwester an meiner Seite, sie hat mir geholfen, hat mich finanziell unterstützt und die Leute gefunden, die mich mit einem Minibus nach Deutschland fuhren.

Danke, dass du diese Geschichte mit uns teilst.  

Der Anfang war auf jeden Fall sehr schwer. Es gab aber hier viele Menschen, die mir geholfen haben, und ich habe mich keinen Moment alleingelassen gefühlt. Als ich nach Deutschland kam, habe ich erst einmal in einer Wohngruppe in Braunschweig gewohnt, und die Betreuerinnen und Betreuer sowie die anderen Jugendlichen haben mir Mut zugesprochen, und wir haben viel zusammen unternommen, waren einkaufen oder zum Eisessen. Diese Ablenkung tat zwischen all den organisatorischen Dingen und herausfordernden inneren Prozessen sehr gut und war sehr wichtig für mich. Die Betreuer haben auch dafür gesorgt, dass ich in einer Frauenfußballmannschaft spielen konnte. Später in der Schule war mein Klassenlehrer mein Ansprechpartner, der mir zugehört und mir Tipps gegeben hat, an wen ich mich mit bestimmten Anliegen wenden kann. Meine Mitschülerinnen und Mitschüler haben mir bei den Hausaufgaben und mit der Sprache sehr geholfen. Als ich noch kein Deutsch konnte, haben sie Texte für mich ins Englische oder mit einem Übersetzungstool ins Albanische übersetzt. Für all diese Hilfe bin ich wirklich dankbar – ohne sie hätte ich es nicht geschafft!

Wie geht es dir jetzt?

 Hättest du mich vor zwei oder drei Jahren gefragt, hätte ich dir Romane davon erzählen können, wie sehr ich meine alte Heimat vermisse. Inzwischen fühle ich mich hier in der Nähe von Hannover so gut wie zu Hause, und meine Freundinnen und Freunde sind meine Familie geworden. Ich habe über die Schule und den Fußball neue Freundinnen kennengelernt, und ich engagiere mich ehrenamtlich bei den Fußballmädels als Trainerin und beim Verein »Prismaqueer«, um Menschen, die queer und »People of Color« sind, zu einem selbstbestimmten Leben zu ermutigen. 

Vielen Dank für deine Geschichte und die Erinnerung daran, dass jede Form von Freigiebigkeit auch Freiheit erfordert! //


Rassismuskritische queere Selbstermächtigung 

www.prismaqueer.de


weitere Artikel aus Ausgabe #65

Photo
von Maria König

Gemeinschaffende Gastlichkeit

Maria König  Als wir letztes Jahr zum ersten Mal bei unserer Oya-Kollegin Anja Marwege in Holzen zur Redaktionskonferenz zu Gast waren, fühlten wir anderen aus dem Redaktionskreis uns gleich heimisch, und Johannes Heimrath kam der Buchtitel »Always Coming Home« von

Photo
von Jochen Schilk

Lasst uns Paradiese pflanzen! (Buchbesprechung)

Als einen Glücksfall empfinde ich das neu erschienene Buch »Lasst uns Paradiese pflanzen! Reich werden mit der Vielfalt der Natur – statt arm durch ihre Zerstörung«. Autor Timm Koch schlägt damit in dieselbe Kerbe, die bereits mit der Oya-Ausgabe 51 (»Garten

Photo
von Maria König

Die Schnitterin in unser Leben lassen

Christliche Feste, bei denen der Bezug zu den Jahreszeiten deutlich durchscheint – wie Weihnachten, Ostern oder Erntedank – sind vielen von uns wohlvertraut. Fremd erscheinen uns hingegen die Schnitterbräuche, die in Mitteleuropa als bäuerliche Jahreskreisfeste noch bis

Ausgabe #65
Vom Ernten

Cover OYA-Ausgabe 65
Neuigkeiten aus der Redaktion