Titelthema

Nach der Ernte beginnt erst die Arbeit

Ein Besuch beim Waldgartenprojekt am Moldenhauer Hof drehte sich um Lust und Frust der Selbstversorgung.von Grit Fröhlich, erschienen in Ausgabe #65/2021
Photo

Wie weit tragen mich meine eigenen Beine? Beim Blick auf die Karte mit Orten des guten Lebens im Berliner Umland fiel mir der Moldenhauer Hof bei Kremmen im nordbrandenburgischen Rhinluch auf. Ein Waldgarten mitten in einem ehemaligen Moorgebiet? Auf der Satellitenkarte zeigt sich mir aus der Vogelperspektive eine von Bewässerungsgräben durchzogene baumarme Landschaft. Dieses Gartenprojekt möchte ich gern aus der Nähe kennenlernen, und so führt mein Weg an einem kühlen Augusttag nach Kremmen, wo mich Ulla und Uwe erwarten. Über Verlorenort komme ich zum Ruppiner Kanal. Als ich die Brücke überquere, liegt Abgasgestank in der Luft: Kähne mit Baggerschaufeln schneiden Schilf entlang der Ufer, um die Wasserstraße für Boote freizuhalten. »Die ernten Unkraut«, ruft mir ein älterer Mann mit Pfeife im Mundwinkel durch den Motorenlärm zu. Zwischen großflächigen Feldern verläuft der Döringsbrücker Weg: links zwei schwarze Raben vor einem abgeernteten gelben Stoppelfeld, rechts ein grünes Maisfeld, am Rand eine riesige Trommel mit aufgewickelten Bewässerungsschläuchen. Kurz darauf tauchen hinter Büschen die Holzhäuser des Moldenhauer Hofs auf.

Versuche in Subsistenz

Seit Ende der 1990er Jahre wohnen Uwe und Ulla dort. In den letzten zwanzig Jahren haben sie Schritt für Schritt einen Gemüsegarten und zwei Waldgärten zur Selbstversorgung angelegt. 2013 kam eine kleine Schafherde dazu. »›Selbstversorgung‹ ist natürlich ein großes Wort«, sagt Uwe. »Es geht eigentlich darum, dass wir einen möglichst großen Anteil von dem, was wir brauchen, selber herstellen möchten.« Ulla ergänzt: »Wir wollten der industriellen Nahrungsmittelproduktion entkommen: Pestizide, Dünger, was alles weggeschmissen wird – da wollten wir raus. Das ist natürlich sehr blauäugig gewesen.« Inspiriert durch Bücher des japanischen Permakultur-Denkers Masanobu Fukuoka oder Helen und Scott Nearings »Ein gutes Leben leben« bekamen sie Lust, sich in subsistenter Lebensweise zu versuchen. »Eigentlich ist es ein Probieren bis heute«, sagt Uwe. »Was geht, was geht nicht? Wie weit könnten wir uns selbst versorgen, wenn es mal darauf ankäme?«

Seine Bilanz ist ernüchternd. Die Gärten fruchten auf dem kargen Boden wenig. Die großen Maisfelder in der Nachbarschaft tragen nur dank massiver Düngung und Bewässerung. Die Luchlandschaft eignet sich nicht für Landwirtschaft im klassischen Sinn, höchstens für Weidewirtschaft. So kamen sie auf die Idee: Schafe wären was! In unserer Nähe grasen 13 kleine dunkelbraune Soayschafe, die an Mufflons erinnern. Die robuste, anspruchslose Rasse stammt von einer abgelegenen Felseninsel bei Schottland und hat sich seit den Anfängen der Viehhaltung in der Jungsteinzeit kaum verändert. »Sie bekommen alleine ihre Lämmer, verlieren alleine ihr Fell«, erklärt Uwe. »Für mich war es wichtig, dass ich auch selber schlachten kann – kann ich’s nicht, dann darf ich auch kein Fleisch essen«, meint er, der in den 1990er Jahren noch vegan lebte. Und so lernte der ausgebildete Lehrer das Schlachten. Beigebracht hat es ihm Rudi: »Ein begnadeter Schlachter, der seit seinem vierten Lebensjahr wusste, was er mal werden wollte! Wenn du früher auf dem Dorf großgeworden bist und der Schlachter kam, dann war das ein Festtag: Wurstsuppe wurde weitergereicht zu den Nachbarn, man hat sich getroffen, das war einfach eine tolle Atmosphäre!« Uwe hat für sich eher die Schattenseiten des Schlachtens erlebt: »Das Unangenehmste an der Schafhaltung ist die Entscheidung: ›Welches schlachte ich?‹ Manchmal habe ich bis morgens um vier wachgelegen und überlegt.« Das Schaffleisch bildet einen festen Grundstock der Selbstversorgung von Ulla und Uwe. Während die Gärten unter Trockenheit, Hagel und Wühlmäusen leiden, ist auf die Schafe Verlass: »Das einzige, was stabil bleibt, ist die Herde. Die kümmert sich um sich selbst.«

Gemeinschaft ernten

Das Gärtnern kennt Ulla noch aus ihrer Kindheit in den 1950er und 1960er Jahren. »Wenn ich von unserer kleinen Landwirtschaft von damals erzähle, komme ich mir manchmal vor wie meine Oma, die vom Krieg erzählt.« Es ist ein Leben, das sich heute viele nicht mehr vorstellen können. »Die meisten sagen: ›Das ist mir viel zu viel Arbeit.‹ Und so ist es auch.« Ulla erinnert sich: »Ich hab das damals als Kind nicht als Anstrengung empfunden. Ich fand es nur doof, dass ich es mir nicht aussuchen konnte – ich musste. Eigentlich hatten meine Eltern recht. Denn es muss ja jemand machen. Wenn nicht du, dann macht es jemand anderes für dich. Ich hab’ heute eher Erinnerungen an die wunderbaren Kaffeepausen. Da haben wir am Feldrain Leberwurstbrote und Stollen mit Marmelade gegessen, und das hat geschmeckt wie sonst nie!« Sie selbst musste damals im Garten zwar mit anpacken, richtig gelernt hat sie das Gärtnern dabei aber nicht: »Ich wusste noch, als wir hier angefangen haben, dass es verdammt viel Arbeit ist, aber ich habe dann erst gemerkt, wie viel Wissen damals an mir vorbeigegangen ist, was ich mir dann mühsam wieder aneignen musste.« 

Viel Arbeit steckt nicht nur im Anlegen und Pflegen der Gärten. Die eigentliche Arbeit beginnt oft erst nach der Ernte. Wenn Uwe mit einer Schubkarre voller Melde aus dem Waldgarten kommt, ist Ulla nicht immer begeistert. Blatt für Blatt muss alles geputzt werden und bis zum Mittagessen ist es kaum zu schaffen. Selbstgeerntetes will anders bewertet werden als Gekauftes. Die Diskrepanz erlebt Ulla bei sich selbst: »Wenn ich Gemüse einkaufe, dann gucke ich auch, dass ich möglichst schönes kriege. Es ist ja verlockend: Du gehst durch die Gemüseabteilung und packst dir die tollen, sauberen Sachen ein. Aber wenn du in den Garten gehst, dann hast du erstmal Dreck an den Fingern und Schuhen, das Gemüse sieht auch nicht so toll aus wie im Regal. Da gelten ganz andere Kriterien.« Darum verstehe sie auch die Städter: »Wenn du mit Geld bezahlst und nicht die Arbeit mit dem Garten kennst, dann willst du eben auch das Beste für das Geld haben. Wenn du im Garten arbeitest, dann nimmst du hingegen das, was dabei rausgekommen ist. Geld macht viel aus, so ein objektives Äquivalent, was aber gar nicht zur Natur passt, die nicht so einheitlich ist.«

Warum ist es heute so schwer, sich selbst zu versorgen? Uwe versucht eine Erklärung: »Wenn du neu anfängst, gibt es keine eingespielten Strukturen. Wenn es schon über Generationen läuft und du wächst da rein, dann übernimmst du das und dann gibts die Räume und Geräte dafür. Das haben wir ja alles überhaupt nicht, wir erfinden alles neu. Du fängst an zu lesen, und was du da liest, ist so widersprüchlich, das hängt auch von den landschaftlichen Gegebenheiten ab, vom Boden.«

Welches Potenzial hat Selbstversorgung für eine enkeltaugliche Lebensweise? Ulla sieht es abgeklärt: »Wenn du versuchst, so weit wie möglich Selbstversorgung zu machen, tut das dem persönlichen Gefühl zwar gut, aber es verändert noch nicht die gesellschaftlichen Struk-turen. Du kommst ums politische Handeln nicht herum.« Eine Sache fällt ihr dann aber doch ein, die das Gärtnern verändert: »Du erhältst das Wissen darum oder schaffst es erstmal wieder neu, weil es schon vergessen ist. Du schaffst die Möglichkeit, dass andere sich erinnern.«

Unterwegs an Orte des guten Lebens

Ich bin die zweite Besucherin bei Ulla und Uwe in diesem Sommer des guten Lebens. Ein wenig bedauern sie, dass sich nur wenige Menschen gemeldet haben. Dafür sind sie selbst kurzentschlossen für eine Woche zu verschiedenen Gastgebenden auf der Oya-Karte gefahren: zu Teresa in die Gemeinschaft Pfarrkeßlar (siehe Seite 54), zu Ulli und Wolfgang auf ihren Biobauernhof am Vogelsberg, zu Lehmbauer Michael nach Putlitz und zu Janina und Niels mit ihrer selbstgebauten Wanderjurte in den Heimwärts-Gärten bei Jever. An einem Nachmittag machten sie spontan einen Abstecher zu Annette Schlemm und ihrer Bibliothek bei Jena und philosophierten bei Kaffee darüber, wie sich Individuen und Gemeinschaft verbinden können, ohne dass eins davon zu kurz kommt. »Für uns war dieser Sommer richtig schön – es ist eine ganz andere Form zu reisen«, sagte Ulla. »Es war eine gute Gelegenheit, um Knotenpunkte zu finden. Alle waren total unterschiedlich, aber es gab auch viel Übereinstimmung.« Mindestens drei Kontakte möchten sie auch weiter pflegen. Und beide hoffen auf eine Fortsetzung des Sommers des guten Lebens im nächsten Jahr.

Entstehende Baumfeldwirtschaft

Nach unserem langen Gespräch zeigt Uwe mir die zwei Waldgärten, auf die ich neugierig bin. Vor 15 Jahren war hier Wiese. »Wenn am Anfang Leute kamen, um sich den Waldgarten anzugucken, dann konnten sie vor lauter Gras gar nicht die Bäume sehen«, erzählt Ulla mit einem Schmunzeln. Heute stehen hier Walnussbäume und Esskastanien, Linden, Apfel- und Pflaumenbäume, sogar eine Pecannuss. Ein kahles Aprikosenbäumchen hat es nicht geschafft. Ich bestaune eine Nashi-Birne, und Ulla und Uwe laden mich für den Herbst zur Ernte ein. Angepflanzt sind die Gärten von Süden her flach ansteigend, damit sich die Sonne im Wäldchen fangen kann. In den unteren Etagen wachsen viel rote Melde, Johannisbeersträucher, Hagebutten – und Brennnesseln zum Ansatz der düngenden Brennnesseljauche. »Was immer gut kommt, sind Zucchini und Hokkaido-Kürbis«, sagt Uwe. Er kennt jeden seiner Bäume, erzählt, welchen er selbst herangezogen hat, wer ihm diesen Walnussbaum geschenkt hat. Die Zitterpappeln hat er gepflanzt, weil er das Geräusch der Blätter mag, das wie Regen klingt. Ein Wolfsmilchgewächs soll gegen Wühlmäuse helfen, die Brombeerhecke als natürlicher Schutz der Schafe gegen den Wolf, der in der Nähe lebt. Hier und da sind Waschmaschinentrommeln als Mieten in die Erde eingegraben. In ihnen bringt Ulla die Ernte aus dem Gemüsegarten wie Kartoffeln, Möhren und Rote Beete durch den Winter. 

Zu ernten gibt es im Waldgarten fast immer etwas: im Frühling beginnt es mit Bärlauch, heute kosten wir verschiedene Pflaumensorten. Uwe zeigt auf einen Baumstumpf: »Hier habe ich letzten Winter einen Weihnachtsbaum geerntet. Einen stehengebliebenen Fichtenzweig am Stamm hat er nach oben gebogen, so dass sich eine neue Spitze und damit ein neuer Baum bilden kann. »Das braucht seine Zeit.«

Vieles ernten die Tiere. »Bei Kirschen und Nüssen kann ich nie schnell genug sein: Vorher haben Vögel und Mäuse schon alles geholt.« Hie und da stehen im Wäldchen Ruheplätze – überdachte Liegeflächen aus Holz. »Ruhe ist ja auch eine Art von Ernte«, sagt Uwe. Allerdings ergibt es sich immer wieder, dass die Liegen anders genutzt werden, etwa für Äste oder Werkzeug. Dann schafft Uwe neue Ruheorte für sich. Er denkt aber schon weiter: »Wenn wir den Waldgarten nicht mehr nutzen, werden hier einmal Vögel und Insekten leben.« //


Mehr erfahren?

ugartenreich–ÄT–aol.com


Grit Fröhlich (46) ist Autorin, Übersetzerin und Mitglied im Oya-Hütekreis. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.


weitere Artikel aus Ausgabe #65

Photo
von Jochen Schilk

Von jenischen Kesslern und Korbern… (Buchbesprechung)

Just nach der Produktion der letzten Ausgabe zum Schwerpunktthema »nomadische Kulturen« fiel mir im Oya-Büro ein Buch des Schweizer Mythenforschers Sergius Golowin (1930–2006) in die Hände, das dort womöglich schon seit seinem Erscheinen im Jahr 1999 der Entdeckung

Photo
von Jochen Schilk

Feg' den Käfer

Gerade im Garten- und im Landbau wird hier und da mit innovativen selbstkonstruierten bzw. einfach selbstkonstruierbaren Gerätschaften experimentiert. So fand sich in Oya 36 ein Plan zur simplen Transformation eines halben Fahrrads in eine prima Radhacke. Zwei Räder mehr und vermutlich

Photo
von Lola Franke

Etwas gegen die Angst

Wie lassen sich rassistische Strukturen im Alltag eines einzelnen Menschen und in der Gesellschaft verändern? Diese Frage beschäftigt mich immer wieder und ist für mich ein wichtiger Teil von Bildungsarbeit (siehe »Abschied vom Zentrum«, Oya 60). Durch den Anschlag von

Ausgabe #65
Vom Ernten

Cover OYA-Ausgabe 65
Neuigkeiten aus der Redaktion