Titelthema

Die Schnitterin in unser Leben lassen

Wie können wir hier und heute den Beginn der Erntezeit feiern? Eine Spurensuche auf den Pfaden alter Göttinnen und neuer Rituale.von Maria König, Anja Marwege, Luisa Kleine, erschienen in Ausgabe #65/2021
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© Johanna Wolff

Christliche Feste, bei denen der Bezug zu den Jahreszeiten deutlich durchscheint – wie Weihnachten, Ostern oder Erntedank – sind vielen von uns wohlvertraut. Fremd erscheinen uns hingegen die Schnitterbräuche, die in Mitteleuropa als bäuerliche Jahreskreisfeste noch bis ins 20. Jahrhundert hinein einen wichtigen Platz hatten und die vor allem aufgrund der Maschinisierung der Landwirtschaft verschwunden sind. Heute finden wir im August, zu Beginn der Erntezeit, eine klaffende Lücke im Festkalender. Doch was hätte die Schnitterin uns zu sagen? Zu dritt begeben wir uns in diesem Text auf die Suche und landen bei der Frage: Wie können wir im Hier und Heute Jahreszeiten bewusst feiern, und wie können uns dabei als Göttinnen verkörperte Figuren aus der Vergangenheit zur Seite stehen?


Viele Jahre schon fährt die Frau ihre Kinder mit dem Lastenrad in den etwas westlich des Wendlands gelegenen Kindergarten. Links und rechts der Landstraße breiten sich zumeist große Äcker aus, mal mit Rüben, mal mit Korn, mal mit Raps bestellt. An einem Tag im September fällt ihr die gewaltige Zahl von Schwalben auf, die zwischen den Stoppeln auf dem abgedroschenen Feld warten. »Wie ungewöhnlich, sie direkt auf dem Boden zu sehen«, denkt sie bei sich. Da hebt sich mit einem Mal der ganze Schwarm und steigt in die Luft. Noch Jahre später ist ihren Augen anzusehen, wie beeindruckt sie von diesem Schauspiel war, als sie erzählt, wie die Vögel aufbrachen und sich auf den Weg in den wärmeren Süden machten. Die Frau hatte davon gelesen, dass am 8. September, zu Mariä Geburt, die Schwalben fortflögen. Zur Geburt der Muttergottes spürt sie keine Verbindung, aber nichts liegt näher, als ein Schwalbenabschiedsfest zu feiern, und zwar dann, wenn sie tatsächlich losfliegen. »Erstaunlicherweise ist es wirklich oft in den Tagen um den 8. September«, erinnert sie sich. Sie hat schon trockene Kekse in Form von Vögeln gebacken und sie an diesem Datum mit den Kindern unter die alte Eberesche gebröselt, damit die Schwalben sie aufpicken konnten. Den Rest verspeisten die Ritualgebenden und wünschten »Gute Reise – bis nächstes Jahr!«. Die Großmutter kam mit Kuchen zu Besuch. Das waren die benötigten Zutaten – und schon war das Schwalbenabschiedsfest in Holzen-Hof gefunden!

Eine genaue und verbundene Wahrnehmung der Umgebung half dabei, das Fest, das schon da war, zu finden und zu feiern. Bislang wurde es nur ein einziges Mal gefeiert – ob es wohl auch im nächsten Jahr wieder gefunden und gefeiert werden wird? Ein Ritual, ein Brauch, lebt davon, die zyklische Wiederkehr im Hier und Jetzt erfahrbar zu machen. Welchen Impuls wird im nächsten Jahr der Übergang vom Hochsommer zum beginnenden Herbst an diesem Ort setzen? Worin manifestiert sich der Wende-punkt von der Fülle, vom Überschwänglichen, vom Rausch des Sommers hin zum Absterben, zum Hinabsteigen, zum Vergehen?

Hermann Bausinger, einer der bekanntesten Volkskundler und Brauchtumsforscher im deutschsprachigen Raum, schrieb dazu: »Brauch ist sozial bestimmtes, bei bestimmten Anlässen regelmäßig geübtes, verbindliches Handeln, das die materielle Seite der Befriedigung von Bedürfnissen übersteigt und durch die Tradition geprägt ist.« In den 1970er Jahren hielt er es noch für eine »Karikatur«, einen Brauch neu kreieren zu wollen: Bräuche könne man nicht erfinden, man könne sie nur erhalten, verändern und gestalten. Doch genau das passiert tatsächlich heute – siehe das Schwalbenabschiedsfest –, vielleicht schlichtweg deshalb, weil wir derart aus der Einbettung in den Jahreskreis herausgefallen sind, dass es oft nichts mehr gibt, was erhalten werden könnte.


Wir stehen auf einem Kartoffelacker, sammeln die Feldfrüchte, die die Maschine aus der staubigen Erde geholt hat. Die Kinder schwirren um uns herum. Irgendwo werden Kartoffelpuffer gebacken, es riecht nach Bratfett. Beim Ernten spreche ich mit den Menschen aus anderen Gemeinschaften. Immer wieder unterbrochen von einem »Kannste mal kurz?« oder »Warte, ich hol’ mal kurz ’nen leeren Korb« erzählen wir uns von Aus- und Einstiegen, von neuen, angesagten Theorietexten und der letzten Demo in der Stadt. Es ist anstrengend, lustig und heiß, dort miteinander in der Erde zu wühlen – und die heutige »Kampagne« ist eine meiner wenigen Ernteerfahrungen auf einem Feld.

Wo es früher die sensenschwingenden Schnitter und die Garben schnürenden Binderinnen gab und hunderte, tausende von Dorf zu Dorf verschiedene Bindelieder, bestimmte Gerichte, die von bestimmten Menschen zu bestimmten Zeiten des Kornschneidens aufgetischt wurden, drehen heute nur noch die Mähdrescher zweier globaler Nutzfahrzeugmarken ihre dröhnenden Runden. Wie könnte da eine stimmige Verbindung mit dem Jahreskreis aussehen? Wie lassen sich überhaupt wieder tastende Verbindungen zur Ernte selbst, zur »materiellen Seite« der eigentlichen Tätigkeit, wie Bausinger schrieb, herstellen – um dann, vielleicht in einem zweiten Schritt, zu einem darüber hinausgehenden, sich wiederholenden Handeln zu finden, zu Liedern, Gedichten, Gängen, Gerichten?

Wir suchen Spuren, die uns zu Dorffesten und in Museumsdörfer führen: Bis heute werden im Hochsommer und frühen Herbst an vielen Orten Erntefeste gefeiert, bei denen Heideköniginnen, Ernteköniginnen, Apfel-, Wein- und Weizenköniginnen gekürt werden. In der katholischen Kirche gibt es den Brauch der »Kroutwigge«, dem Sammeln von Kräuterweihsträußen, die meist Mitte August getrocknet, in der Kirche gesegnet und manchmal noch heute in den Viehställen als Schutz vor Krankheiten aufgehängt werden. Wahrscheinlich gehen viele der uns noch bekannten Feste und Bräuche auf weit zurückliegende Riten zurück; die geschichtlichen Fährten sind uns jedoch verlorengegangen.

Wir suchten in den Schriften der Archäologin Marija Gimbutas über die matriarchalen Anfänge des »Alten Europa « (siehe Oya 61, Die Kraft der Vision) und in alten irischen Geschichten nach Erntefesten: Lughnasadh ist ein irisch-keltisches Fest, das in der Nacht auf den 1. August gefeiert wird, eines der vier großen irischen Jahreskreisfeste. – Was, der Herbstanfang soll am 1. August gefeiert werden? Das ist doch mitten im Sommer! Nein, die Kelten zählten das anders, was auch zur heute noch vielerorts als »Mittsommer« begangenen Sommersonnwende passt. Diese Zählung begann im Frühjahr, am 1. Februar, mit der Geburt der weißen Göttin zu Imbolg. Zu Beltane, am 1. Mai, hat sie sich vermählt. Wenn alles reift und sich Früchte bilden, wandelt sich die Göttin von ihrer Jugendgestalt zur Mutter. In römischer Zeit wurde sie in Mitteleuropa beispielsweise als Caiva verehrt, die Große Mutter, die für uns sorgt und uns bedingungslose Liebe schenkt, als nordische Göttin Sif, die goldene Kornmutter der Ernte, und in keltischer und gallo-römischer Zeit in Mitteleuropa als Rosmerta, die Göttin der Fülle und des Überflusses. Ihre Tiere sind die gehörnten Wesen: das Reh, der Hirsch, das Schaf, die Ziege und die Kuh. Am 1. August entthront sie ihren Jahreskönig und nimmt ihn in Gestalt der schwarzen Göttin mit in die Unterwelt. Von dort aus schenkt sie weiter reiche Gaben … Oder wie geht die Geschichte genau? Sie ist verloren – ein wenig noch im Mythos der Persephone, der griechischen Toten-, Unterwelts- und zugleich Fruchtbarkeitsgöttin, der Tochter des Zeus und der Demeter, überliefert. Aber können uns diese halbverlorenen Geschichten und nebeligen Gestalten von Göttinnen heute helfen, Rituale der Wiederverbindung zu finden?

Als ich den kleinen Platz im Wald betrete, sind viele Frauen schon dabei, das Fest vorzubereiten. Ein Altar wird geschmückt, ein Feuer entzündet, Kräuter werden geräuchert und Stroh und Garn, welche wir fürs Schnitterinritual brauchen, bereitgelegt. Wir bilden einen großen Kreis. Frauen aus verschiedenen Generationen und Hintergründen: Professorinnen, Krankenpflegerinnen, Hausfrauen in Regenjacken und Wanderschuhen stehen da mitten im Wald beieinander. Wir singen Lieder über die Holle und werden von Claudia mit einer angenehmen Mischung aus Pragmatismus, Humor und Ernsthaftigkeit durchs Ritual geleitet. Mal wird gelacht, mal geschwiegen, mal ist jede für sich, mal mehr im Kreis verbunden. Dann machen wir in einen Faden, den wir uns um den Bauch binden, Knoten, stellvertretend für Dinge, die uns in unserem Leben nicht (mehr) dienen. Jede schneidet dann den Faden mit einem Messer durch. Auch ich schneide den Faden begeistert mit dem Küchenmesser ab, schaue in die Runde und blicke in lachende Gesichter. Dann basteln wir Frauendarstellungen, Kränze und andere Figuren aus Stroh, die uns das Jahr über stärken sollen. Auf dem Heimweg trage ich eine kleine Strohschnitterin in der Hand und freue mich über dieses außergewöhnliche Zusammenkommen.

Gefährliche Getreideernte

Die Archivarin Undine Stiwich kennt allerhand Sagen und Bräuche des Wendlands, doch für die Erntezeit seien nur wenige überliefert, »vermutlich, weil die Leute von früh bis spät arbeiteten und hundemüde ins Bett fielen«. Gefeiert wurde der Beginn der wendländischen Erntezeit einst als Groutaust, und dessen Ende ist vielen Museumsdörfern der Region noch als Vergodendeel bekannt. Die Sensen wurden mit bunten Blumen geschmückt und die letzten Halme feierlich und gemeinsam mit den anderen Leuten aus dem Dorf abgemäht. Gemeint ist die Getreide-, meist die Roggenernte. Selbst mit dem Mähbinder, den zwei oder drei Pferde zogen, war die Kornernte eine Riesenarbeit. Und sie dauerte sehr viel länger als heute: Beginn der Mahd war in Norddeutschland der Jakobustag am 25. Juli, das kirchliche Erntedankfest, das oft auch das Ende der Getreideernte markierte, wurde seit der Reformationszeit am Michaelitag, dem 29. September, gefeiert. Ausgeführt wurde diese Arbeit ab dem 19. Jahrhundert im preußischen Norddeutschland von der großen Schicht der besitzlosen Landarbeiter und -arbeiterinnen, die sich zur Ernte- und Druschzeit (die den ganzen Winter andauerte) auf den durch die Einhegung der Allmenden und den Aufkauf kleiner Bauerngüter immer größer gewordenen Gutshöfen verdingten. Die Erntebräuche dieser Arbeitenden zu Beginn der Getreideernte waren auch eine Erinnerung an die Rechtsansprüche gegenüber dem Gutsherrn. Dazu gehörte auch das Festbinden der Gutsherren mit Getreidehalmen auf den Feldern, wovon diese sich mit Schnaps und anderen Geschenken »freikaufen« mussten.

Während um die Wende zum 20. Jahrhundert rund 40 Prozent der Menschen in Deutschland in der Landwirtschaft tätig waren, sind es heute weniger als 2 Prozent der Lohnarbeitenden.


Was jetzt wenige Menschen mit großen Maschinen leisten, erforderte früher die Mitarbeit der meisten Menschen einer Dorfgemeinschaft: Für meinen Vater war es noch selbstverständlich, in den Sommerferien auf dem Feld mitzuhelfen. Doch selbst die hochtechnisierte Getreideernte ist heikel und eine Art Höhepunkt des landwirtschaftlichen Jahres, verbunden mit vielen Gefahren. Fast jedes Jahr habe ich erlebt, dass ein Mähdrescher in der Umgebung in Flammen aufging. Immer wieder habe ich auf meinen Wegen zum Acker gesehen, dass auf ganzen Feldern die Ähren und Halme von Regen, Hagel und Sturm platt auf die Erde gedrückt wurden.


Wie nun könnte die Praktik des Getreideanbaus und des daraus hervorgehenden Dankens in einer Postkollaps-Gesellschaft aussehen? Was bedeuten diese Rückschau und diese Beobachtungen für eine enkeltaugliche Erntekultur? Freilich lässt sich diese nur erahnen. Vermutlich wird hochgezüchtetes Einheitsgetreide, wie wir es heute vorwiegend kennen, angesichts der Erdüberhitzung höchstens noch eine Nebenrolle spielen. Roter Emmer und Einkorn wären vielleicht zwei unter hunderten regional angepassten Sorten. Wie könnte eine postindustrielle Erntepraxis aussehen? Auf jeden Fall ganz anders als die gegenwärtige: Allein um weiterhin einen Mähbinder – eines der komplexesten nicht-motorisierten Erntegeräte – und die entsprechenden Zugmaschinen konstruieren und warten zu können, wäre es erforderlich, den gegenwärtigen Industrie-komplex zumindest teilweise aufrechtzuerhalten. Das Anlernen von Zugpferden bedarf hingegen viel Erfahrung und langer, ineinandergreifender Studienbögen.

Kultiviertes Getreide und wilde Jagd

»Landwirtschaft, Weberei, Töpferei, Schrift, Bauten und Stadtleben – all die Künste und Wissenschaften, aus denen spätere Zivilisationen sich entwickelten – begannen in Kulturen der Göttin«, schrieb die Ökofeministin Starhawk. Auch die Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth bringt die matriarchale Zeit mit Sesshaftigkeit und der Entstehung von Garten- und Feldbau in der Jungsteinzeit vor 10 000 bis 15 000 Jahren in Verbindung. So sind viele Göttinnen wie Sif oder Caiva vor allem Kornmütter, deren goldenes Haar bei der Getreideernte geschnitten wird, um im nächsten Jahr aus der Saat des Vorjahrs neu zu wachsen.


Wann machen wir wieder »Corndollies«? Die Kinder liegen uns seit Tagen in den Ohren. Wir gehen aufs Feld und ernten den Roggen, der von der Gründüngung im Frühling stehengeblieben ist. Dann wässern wir die Halme und beginnen unser Werk: Corndollies, eine englisch-irische Tradition. Herzen, Figuren jeder Art, Kränze – alles, was uns einfällt und was zur Ernte passt, wird geflochten. Bea bastelt meist eine große Gestalt mit einer Mohnkapsel als Kopf. Dazu bäckt sie Brötchen in Form einer Kornähre. Wir packen noch Butter und Salz ein, wählen eine Kornpuppe aus, die nicht nur unser Haus, sondern die gesamte umliegende Landschaft beschützen und auf den Herbst einstimmen soll. Dann wandern wir los auf den Hügel vor dem Bullenwiesensee. Wir stehen oben auf einem zum ebenmäßigen Halbrund geformten Hügel und singen: »Ein Schnitt, um zu geben, ein Schnitt, um zu nehmen, ein Schnitt um zu leben – einen Winter lang.« Ute kann das Lied und leitet dazu Schritte und Bewegungen an. Wir sind die Schnitterin und laufen rund um den Hügel. Wir singen für die Schnitterin. Im kargen Dornbusch in unserer Mitte hängt eine Corndolly. Danach baden wir im See; es ist noch warm.


Aber nicht erst der Ackerbau und damit der großflächige Anbau von Getreide veranlasste Menschen dazu, für die Ernte zu danken. Marija Gimbutas schrieb über die große Göttin: »Bevor sie die Mutter der Ackerfrüchte wurde, war sie die Mutter der wildwachsenden Pflanzen. […] Jahrtausende alt ist der Glaube an die heilige Erde als Mutter, die im Frühjahr schwanger wird, zur Ernte heranreift – und die gefeiert wird, wenn im Herbst ihre frucht-tragenden Zweige, Nabelschnüren gleich, abgeschnitten werden.« Es ist nicht schwer, sich die Göttin der Fülle auch vor der Kultivierung von Getreide vorzustellen, da auch Beeren, Pilze, Nüsse und Wurzeln im Hochsommer und Herbst reifen und die Fülle lange vor dem herannahenden Winter sichtbar machen. In der griechischen Göttin Artemis, Herrin der wilden Tiere und Schützerin der Wälder, blitzt eine solche mit der Jagd verbundene Muttergöttin auf. Im deutschsprachigen Raum ist die Göttin des Walds Lohra, die gehörnte Göttin. Legenden aus Thüringen zufolge kann sie Hirschgestalt annehmen oder erscheint den Menschen als Reh. An verschiedenen Orten im deutschsprachigen Raum wurden Hirschgeweihmasken aus dem Mesolithikum gefunden, die vielleicht – so eine Deutung – in Zeremonien von Schamaninnen und Schamanen getragen wurden. Heide Göttner-Abendroth schreibt, dass in matriarchalen Gesellschaften bekanntermaßen oft »Frauen die Jagd der Männer beaufsichtigt haben und dafür sorgten, dass die Tier-Ahninnen beim Tod ihrer Nachkommen besänftigt und gebeten wurden, wieder junge Tiere in die Welt zu senden«.

Die Schnitterin als Sterbebegleiterin

Der Beginn der Ernte steht symbolisch für viele, ja, unzählige Momente des Ernteeintragens. »Ernte ist eigentlich immer«, sagte eine von uns zu Recht. Das Auflösen eines bestimmten Erntezeitpunkts und das rituelle Feiern des Wendepunkts vom Werden zum Vergehen widersprechen sich nicht. 


Mitten hier, in meinem blühenden Gemüsegarten stelle ich mir die Schnitterin vor, in ihrem schwarzen Kleid, in der Hand eine Sichel. Ihre Geste ist eindeutig, sie sagt: »Genug!« Ihr Genug, ihr klares Nein klingt für mich wie das klare »Genug!« jener Menschen, die einen Wald vor der Zerstörung durch die Megamaschine schützen. Es ist das »Nein« der Schnitterin, das verstehe ich in diesem Augenblick, welches das Wachstum beendet und mit klarer Strenge für den Kreislauf des Lebens einsteht.


»Wir leben in einer Zeit, in der wir ein altes System beim Sterben und ein neues System beim Geborenwerden begleiten«, sagte die Tiefenökologin Joanna Macy und wies zugleich darauf hin, wie viele Menschen sich dem Initiieren neuer Projekte zuwenden, während sich vergleichsweise wenige Menschen der anstrengenden, dreckigen Tätigkeit widmen, das alte System beim Sterben zu begleiten, hinzuschauen, was passiert, und mit der Qualität der Schnitterin ihr »Genug!« in die Welt zu tragen. Ließe sich die Schnitterin heute als Widerstandskämpferin abbilden? An welchen Stellen würde sie mit ihrer Klarheit die Sichel schwingen, Widerstand gegen das »Immer-höher-schneller-Weiter« leisten und klar für die Kreisläufe des Lebens einstehen?

Angesichts eines ganzen Jahreskreises ist es sinnvoll, die Erntezeit als kollektives Loslassen gemeinsam zu feiern. Das Gehenlassen, das Seinlassen, das Sterbenlassen sind Varianten des Genug-gelernt-Habens. In solcher Lassenskraft üben wir uns – auch in diesem gemeinsamen Schreib-, Denk- und Lernprozess. //


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