Titelthema

Gemeinschaffende Gastlichkeit

Maria König, Luisa Kleine und Tabea Heiligenstädt unterhielten sich über das Gastsein und Gastgeben an Orten, die nach Allmendeprinzipien organisiert sind.von Maria König, Luisa Kleine, Tabea Heiligenstädt, erschienen in Ausgabe #65/2021
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© Felix Bruns

Maria König  Als wir letztes Jahr zum ersten Mal bei unserer Oya-Kollegin Anja Marwege in Holzen zur Redaktionskonferenz zu Gast waren, fühlten wir anderen aus dem Redaktionskreis uns gleich heimisch, und Johannes Heimrath kam der Buchtitel »Always Coming Home« von Ursula K. Le Guin in den Sinn. Ganz ähnlich ging es mir, als ich euch zum ersten Mal in der Fuchsmühle besuchte, Luisa und Tabea. Trotz der Verschiedenartigkeit der Geographie blickt mir an Allmendeorten oft etwas Vertrautes entgegen. »Allmende«, ein Wort das aus dem Alemannischen kommt, bezeichnet wörtlich ein Gut – früher typischerweise Wald- oder Weideland –, das allen Mitgliedern einer Gemeinschaft gleichermaßen zur Pflege und Nutzung offensteht. Das bedeutet nicht, dass alles allen gehört, sondern dass auch ich als Gästin zunächst Teil der Gemeinschaft der Ortshütenden im erweiterten Sinn werden muss, bevor ich einen Ort nutzen kann; und um ihn nutzen zu können, muss ich ihn auch pflegen, ansonsten ist es keine Allmende, sondern die vielbesungene »Tragik der Allmende«, die gar nichts mit einer Allmende zu tun hat, sondern mit unbedachtem oder ausbeuterischem Übernutzen. Dieses Heimischfühlen in Verbindung mit der Qualität von Gastlichkeit an Allmendeorten möchte ich gern mit euch ergründen.

Luisa Kleine  Das Gefühl, an einem »fremden« Ort mit zuhause zu sein, kenne ich auch aus Klein Jasedow, an dem ebenfalls einige aus dem Redaktionskreis leben. Ich fühle mich als Teil des Orts, kann einfach dasein und bin voller Dankbarkeit und Freude darüber. Es hat etwas Leichtes und Selbstverständliches.

Tabea Heiligenstädt  Auch hier in der Gemeinschaft Sonnen-wald in Schernbach, wo Luisa und ich gerade zu Gast sind, empfinde ich etwas Vertrautes, eine beständige Offenheit und Gastfreundlichkeit. Es gibt keinen besonders herausgehobenen Moment des Bemühens, sondern ich fühle mich die ganze Zeit über eingeladen und willkommen, und dabei in einer großen Selbstverantwortung. Es erscheint mir unkomplizierter oder tiefer zu sein, weil so viel Vertrauen da ist.

LK  Ja, mir wird hier ganz viel Verantwortung für mein Wohlbefinden zurückgegeben. Von mir wird kein passiver Gaststatus erwartet, sondern eher eine aktive Gastrolle, in der ich selbst dafür sorge, dass es mir gutgeht und ich mich einbringe.

TH  Dass wir Gästen in der Fuchsmühle zutrauen, für sich selbst zu sorgen und mitzugestalten, entspannt mich auch in der gastgebenden Rolle. Erst dadurch, dass ich nicht die ganze Zeit alles perfekt vorbereiten muss, kann ich überhaupt so viele Gäste empfangen. Dabei kann ich mich viel mehr auf das Miteinander anstatt auf die Infrastruktur fokussieren. 

MK  Ja, Subsistenztätigkeiten wie Kochen und Wäscheaufhängen werden nicht hinter einer Hier-ist-alles-fertig-und-glänzt-Fassade versteckt, sondern wie an jedem anderen Tag gibt es Dinge zu tun. Vielleicht habe ich extra den Boden gesaugt, weil Gäste kommen, aber wenn etwas ansteht, wie Bretter zu streichen, muss ich das nicht bis nach dem Besuch verschieben, sondern kann Gäste dazu einladen. Vielleicht ist das ein Kulturwissen, das wir uns an Allmendeorten zurückholen, dass ich mich als Gastgebende mit meinen alltäglichen Tätigkeiten meinen Gästen zumuten und auch diese zum Mitmachen einladen kann.

LK  »Gast« und »Fremder« haben übrigens sprachgeschichtlich dieselbe Wurzel. Es ist eine Frage der Perspektive, ob ich in ankommenden Menschen Gäste, die auch etwas zu geben haben, oder Fremde, vor denen ich eine schützende Fassade aufbauen muss, sehe. Als Gästin empfinde ich es als besonders schön, wenn ich den Leuten auch etwas bringe, wenn ich das Gefühl habe, mein Gastsein ist ein Geschenk für die Leute und sie freuen sich darüber. Oft ist es so, dass der Gast nichts zu tun hat. Er kommt an einen Ort, ist aus seinem Alltag rausgerissen und als Gast erstmal in einer Leere. Vielleicht ist ein anderer Umgang mit dieser Leere auch ein Muster von Allmendeorten. Wir wissen noch gar nicht, was entsteht, wir gucken, was kommt, wenn wir zusammenkommen, und die Gästin schaut, welche Impulse sie spürt und zu welchen Tätigkeiten sie der Ort einlädt.

MK  Einem Ort auf diese Weise zu begegnen, war für mich eine ganz eigene Lernerfahrung: Nachher werden wir zusammen essen – vielleicht gibt es zuvor noch Möhren zu schnippeln oder was ist mit den Zwiebeln da? Kann ich schon mal den Tisch decken? Was ist das für ein Ort? Was liegt hier herum? Welche Dynamik nehme ich wahr? Sind die Kinder gerade trubelig, und kann ich vielleicht was vorlesen? In vielen Gegenden, etwa in Schweden oder auch bei den Beduinen im Nahen Osten, gibt es den Begriff des »Gastrechts«. Den finde ich spannend, weil er auch eine Pflicht, sich einzubringen, beinhaltet. Die Klein Jasedower erzählten einmal von ihrer Freundin Monika, die bei ihnen Gastrecht beantragte, was für sie beinhaltete, sich frei in den gemeinschaftlichen Räumen bewegen und auf eine ganz selbstverständliche Weise auch für die Gemeinschaft kochen und putzen zu dürfen.

LK  An Allmendeorten wird der Ort gehütet, nicht – im Sinn von Eigentum – über ihn verfügt: Ich hüte diesen Ort, aber er ist auch deiner und eigentlich gehört er sich selbst. Wenn ich mich einem Ort zueigne, mache ich mich – wie Donna Haraway schreibt – mit ihm »verwandt«; daraus folgt, dass ich mich pflegnutzend in seinen Dienst stelle. Dafür ist es jedoch entscheidend, dass ich den Ort mitsamt seinen menschlichen und mehr-als-menschlichen Leuten hinreichend kenne und erkenne, ansonsten kann es leicht passieren, dass ich Abläufe störe oder Dinge verschlimmbessere.

TH  Ich glaube, dass es diese Möglichkeit des Sich-Zueignens war, die die Menschen bei unserer Kulturwoche in der Fuchsmühle am tiefsten berührt hat. Dass wir beispielsweise unser Wohnhaus mit ihnen geteilt haben und sie selbständig bei uns in der Küche gekocht haben, ohne, dass jemand von uns dabei war. Leute, denen das fremd war, fragten: »Darf ich das?« – und wir sagten: »Ja, du kannst dich bewegen wie bei dir zu Hause.« Damit Menschen selbständig ins Gestalten gehen können, war es jedoch hilfreich, am Anfang auch einen Überblick zu geben.

LK  Da muss ich an das Care-Book im »Haus des Wandels« in Ostbrandenburg denken: ein kleines Heft, in dem die Ortshütenden Hinweise zur Philosophie und Pflegnutzung des Hauses aufgeschrieben haben. Es liegt in allen Zimmern aus, so dass Gäste sich darüber informieren können. Das finde ich inspirierend, weil ich oft auch so müde bin, alles wieder und wieder zu erklären. Und es erinnert mich an die »Stigmergie« – aus den griechischen Begriffen für »Zeichen« und »Arbeit« zusammengesetzt –, bei der es darum geht, einen Ort so auszuschildern und zu kennzeichnen, dass er für Gäste zugänglich und nutzbar wird. Jacques Paysan hat das in Oya einmal am Beispiel eines Ferienhauses in Portugal beschrieben.

MK  Dass die Infrastruktur an Allmendeorten sichtbarer und logischer aufgebaut ist, ist wohl auch dem Umstand zu verdanken, dass sich dort ohnehin bereits viele Leute gemeinsam organisieren und das Gesamtgefüge ein durchlässiger Organismus ist, der keine starren Grenzen hat, sondern eher »halbdurchlässige Membranen«, wie Silke Helfrich das in ihren Mustern des Commonings nennt. So ist etwa eine der Ortshüterinnen der Gemeinschaft Pfarrkeßlar dazu übergegangen, die Gerätschaften in der Werkstatt klar zu beschriften.

TH  In der Fuchsmühle haben wir auch eine Mitbewohnerin, die das sehr gut kann, also Sachen und Systeme aufzuschreiben, die so simpel sind, dass alle sie verstehen. Von ihr kommen auch viele geniale Ideen – etwa eine Vorlage, mit deren Hilfe wir Deckel und Schraubgläser nach Größe sortieren können.

LK  Ich muss an das Wohnprojekt »Kanthaus« in Wurzen denken. Sie haben dort viele witzige Upcycling-Geräte, die zum Teil leicht defekt sind. Überall sind Schilder, wie diese besonderen Geräte zu benutzen sind, also zum Beispiel: »Den Wasserkocher musst du einmal anheben, dann funktioniert er« oder »Den Toaster vor Gebrauch einmal schütteln«. Diese Überall-Bedienungsanleitungen gibt es teilweise in mehreren Sprachen.

TH  Ich frage mich, wie Gastlichkeit aufrechterhalten werden kann. Manchmal fehlt mir die feurige, willkommenheißende Energie, immer neue Menschen zu begrüßen. Dabei ist mir diese Herzlichkeit sehr wichtig, weil ich mir denke, wenn der Start gut ist, fällt es Gästen leichter, sich wohlzufühlen und einzubringen. Ich bin mir noch unsicher, wie ich dabei gut mit meinen eigenen Grenzen umgehen kann.

MK  Die Klein Jasedower Lebensgemeinschaft ist dazu übergegangen, bewusste Zeiten im Jahr zu definieren, in denen Gäste willkommen sind – sogenannte Haus- und Hofwochen –, und andere, in denen sich die Gemeinschaft eher zurückzieht. Es ist ein Pendeln zwischen den Impulsen des Sich-Öffnens und Empfangens einerseits und des Einkehrens und Sich-Fokussierens – ob als Individuum oder als Gemeinschaft – andererseits.

LK  Ja, um eine gute Gastgeberin sein zu können, muss ich auch üben, Nein zu sagen, wenn ich gerade keine sein kann.

TH  Eine Zeitlang hatten wir in der Fuchsmühle Regelungen wie: zu Vollmond kommen mehr Leute, zu Neumond eher weniger.

LK  Das war auch gut. Manchmal habe ich Leuten dann einfach mit der Begründung abgesagt, dass gerade Neumond sei.

TH  Ans Abgrenzen habe ich auch gerade von einer anderen Seite aus gedacht: Wie viel Nein verträgt das Verhältnis zwischen Gästen und Gastgebenden? Darf ich auch als Gästin Nein sagen, oder bin ich in der Rolle, alles ganz dankend annehmen zu müssen, weil Nein zu sagen als unhöflich gilt?

LK  Mir kommt noch der Gedanke, dass auch das Gastsein an Allmendeorten ein anderes ist. Wie bin ich ein guter Gast?

MK  Das stimmt. Es ist tatsächlich nicht damit getan, Gemüse zu schnippeln und Sachen produktiv abzuarbeiten. Sich einzuspüren, wie der Ort gerade schwingt – ob zum Beispiel vielleicht gerade Ruhe angesagt ist –, ist auch entscheidend.

LK  Ja, und auch zu wissen, dass Gäste manchmal »ganz schön viel« sein können und dass auch ich, so gut ich es auch meine, gerade zu viel sein kann. Es geht also darum, zu erspüren, auf wie viel Kontakt die am Ort Lebenden gerade Lust haben.

TH  Es kann herausfordernd sein, Gast in einer Gemeinschaft mit vielen verschiedenen und unterschiedlich offenen Menschen zu sein. Gerade denke ich an einen Gast in der Fuchsmühle, der sich der ruhigeren Grundenergie eben nicht angepasst hat. Für mich war das schön, für andere war es zu viel. Zu erlauschen, wie der Tonus eines Orts ist, und dabei selbst lebendig zu bleiben und mich nicht nur anzupassen, kann ganz schön anspruchsvoll sein.

MK  Lebendigkeit finde ich ein gutes Stichwort. Bei allen guten Regeln, die wir für neue oder andere Gastlichkeit finden können, gilt es, dieses lebendige Beziehungsspiel wachzuhalten. Wie begegnen wir uns gerade jetzt? Wo gehe ich mal in eine andere Energie? Wo passe ich mich an? Was machen wir hier zusammen? Mal will’s nicht so richtig gelingen, und wie gehen wir dann damit um?

TH  Wenn du von Beziehung sprichst, denke ich bei Allmende-orten auch an die Verantwortung der Gastgebenden. Wenn ich persönlich einen Gast zu Besuch habe, dann gibt es auch eine klare Beziehung. Wenn Menschen zu Besuch kommen und es keine klare Bezugsperson gibt, kann das diffus werden. Wir haben für solche Situationen klare Ansprechpersonen etabliert, sonst geht die Verantwortung im Kollektiv unter und verpufft. Bei unserer »Kulturwoche«, in der Menschen beständig kamen und gingen, ist uns das nicht gelungen, so dass Gäste manchmal nicht wussten, wen sie ansprechen können.

MK  Diese Klarheit beim Vertrautwerden mit einem Ort kenne ich von meinen Besuchen in Klein Jasedow. In den ersten Jahren waren meine Patinnen und Paten dort vor allem Mitglieder der Oya-Redaktion, und das machte es mir leicht. Inzwischen bin ich dort auch mit vielen anderen Menschen bekannt und befreundet, und je besser ich den Ort kenne, umso mehr finde ich mich inzwischen auch allein zurecht. Bei Orten mit einem ständigen Kommen und Gehen und ohne feste Ansprechpartnerinnen fallen mir »Circleway«-Camps ein, das sind sommerliche Treffen für eine neue Verbindungskultur. Dort gibt es feste Redekreise und kleinere »Clans« als Bezugsgruppen sowie ein paar Grundregeln wie »Wenn du eine Person verloren auf der Wiese herumstehen siehst, dann sprich sie an« oder »Mindestens zwei Menschen kümmern sich zusammen um eine Aufgabe«.

TH  Neben Treffen mit beständigem Kommen und Gehen finde ich es oft herausfordernd, wenn Menschen aus dem Dorf oder der Gegend unangekündigt vor der Tür stehen und uns kennen-lernen wollen. Ich freue mich grundsätzlich, wenn Leute sich für uns interessieren, manchmal habe ich aber gerade etwas anderes zu tun. Vor allem, wenn ich mit den Menschen nicht vertraut bin, fällt es mir dann schwer, mich abzugrenzen, und ich habe an mich selbst diesen klassischen Gastlichkeitsanspruch, alles geben und allzeit bereit sein zu sollen.

LK  Ich suche in solchen Momenten auch panisch nach sauberen Gläsern und zusammenpassendem Geschirr. Einer unserer Mitbewohner kann das richtig gut, Kaffee und ein paar Kekse auf einem Tablett zu servieren und es nett zu machen.

TH  Manchmal verspüre ich eine Sehnsucht nach diesem Umsorgtwerden! Es kann etwas sehr Schönes haben, den Kaffee serviert zu bekommen und mich nicht selbst darum kümmern zu müssen. Meine Eltern tun das zum Beispiel gern für mich.

LK  Ja, ich weiß das auch sehr zu schätzen, vor allem, wenn es keine bezahlte Dienstleistung ist, sondern die Menschen es tun, weil sie mich gernhaben.

MK  Wie schön, dass wir uns im ganzen Feld von der selbstverantworteten Zueignung bis hin zu den Momenten, wo wir einfach das Umsorgtwerden genießen, zuhause fühlen können. Habt Dank für den schönen Austausch! //


Tabea Heiligenstädt (27) ist Mitgestalterin der Fuchsmühle, insbesondere des Gartens. Sie füllt gern leere Räume mit Tanz und leere Blätter mit Worten; und erforscht, welcher Strukturen es bedarf, um einander offen und zugleich an Grenzen zu begegnen.


Weiterlesen

Jaques Paysan: Gemeinschaffen im Paradies, Oya 48;
Lara Mallien: Hier kann ich doch gewiss übernachten!, Oya 60;
Salim Alafenisch: Ein Zelt für die Träume, Oya 63.


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