Titelthema

Sommergeschichten

Wer kennt sie nicht, die Geschichte von der Maus Frederick? Als Vorrat für die dunkle Zeit haben wir einige farbenfrohe Geschichten gesammelt.
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© Luisa Kleine

»Frederick, warum arbeitest du nicht?«, fragt eine Familie schwatzhafter Feldmäuse ein Familienmitglied in dem 1967 erstmals erschienenen Kinderbuch von Leo Lionni. Frederick beteiligt sich nicht am Sammeln von Körnern, Nüssen, Weizen und Stroh für den Winter, sondern antwortet: »Ich arbeite doch, ich sammle Sonnenstrahlen für die kalten, dunklen Wintertage.« Außerdem sammelt er Farben und Worte, und an diese Geschichte fühlten wir uns erinnert, als uns die ersten Erzählungen aus dem Sommer des guten Lebens erreichten. Zum ersten Mal seit elf Jahren ist eine Oya-Ausgabe nicht gedruckt worden, sondern hat an vielen verschiedenen Orten in Deutschland stattgefunden. Menschen haben dabei in ihr Zuhause, an ihren Platz oder in ihre Gemeinschaft eingeladen. Mancherorts folgte niemand dieser Einladung, an anderen trafen sich zwei, drei oder viele Menschen, die ihre Geschichten miteinander teilten, die zusammen am Feuer saßen oder sich mit der Landschaft vertraut machten. Viele Geschichten bleiben ein Wispern im Wind – ein Geheimnis, das zu den Orten, an denen sie erzählt wurden, gehört – oder ein Knistern im Feuer zwischen klirrendem Geschirr, Gelächter und Musik an einem lauen Sommerabend. Vielleicht werden sie schon jetzt oder erst eines fernen Tages in mündlicher Tradition weitergetragen. Einstweilen können wir uns an den auf den nachfolgenden Seiten gedruckten Geschichtengaben nähren. (Redaktion)


Die Lindenkinder

Vor vielen Jahren lebte ich in einem Dörfchen in der Uckermark auf einem ehemaligen Gutshof. In diesem Dorf kamen Menschen zusammen, um auf neue oder alte Weise zu leben, zu arbeiten und ihr Leben miteinander zu teilen. Es gab dort mehrere alte und stattliche Sommerlinden, unter deren ausladenden und hohen Kronen wir im Sommer saßen und uns von der Tagesarbeit erholten, schwatzten und miteinander die lauen Abende genossen. 

Ich hatte zuvor einige Jahre in einer ökologischen Baumschule gearbeitet und Erfahrungen gesammelt. Das war am Rand der Oder, in einer kleinen, nach dem letzten großen Krieg wieder aufgebauten Stadt, in der zur Wendezeit mehrere Leute zusammenkamen und in den umliegenden Wäldern Sämlinge ausgruben, um sie für die Betonwüste aufzuziehen. Es gab verschiedene solcher Initiativen, bei denen bereits kurz vor der Wende die ersten parkähnlichen Anlagen von den Anwohnerinnen und Anwohnern selbst geschaffen worden waren.

In der Baumschule lernte ich, dass Lindensamen unter guten Bedingungen zwei Jahre benötigen, um zu keimen. Sie liegen in feuchtem Sand – das nennen die Spezialisten »Stratifikation«  –, und mit etwas Glück gelingt es, dass 17 Prozent der Samen tatsächlich keimen.

Eines Jahres im Spätsommer, zur Zeit unseres Sommerfests, entdeckte ich neben dem Tor der alten Holzscheune unter einer der Linden Unmengen von Sämlingen, für mich daran erkennbar, dass ihr Keimblatt aussieht wie die Umrisse einer menschlichen Babyhand, die sich dem Licht entgegenstreckt. Ich war so erstaunt über diese grünen Mini-Wunder, dass ich Holzstiegen holte, Erde hineintat, etwa hundert Sämlinge pikierte und sie zwischen die Beete unserer Biogärtnerei trug, in der Hoffnung, sie wachsen zu sehen. Ein Jahr später waren sie, wenn ich mich richtig erinnere, bereits zwanzig bis dreißig Zentimeter hoch.

Es gab einen Landschaftsgärtner, der in jenen Jahren nächtens mit Schubkarrenladungen voller Wasser durch die frisch angelegte Hecke kroch, um die jungen Bäume und Sträucher zu wässern, damit sie durch die trockenen Sommer kamen. Diesen Mann bat ich, die weitere Pflege der Pflanzen zu übernehmen. Einige Zeit später, als die Linden etwa anderthalb Meter hoch waren, setzte er ein paar von ihnen an den Rand des sogenannten Schwarzen Wegs. Das war Ende der 1990er Jahre.

In diesem Frühjahr wollte ich bei einem Besuch nach den Linden sehen. Der Schwarze Weg war zugewuchert, ich stakste durch ein Dickicht von Brombeeren. Die Linden aber waren zu kräftigen Bäumen geworden, schön gewachsen in der Umgebung geschwisterlicher und anderer Bäume.  
Kathrin Schulz, Berlin


Gartenschere und Märchentanz

Wir hatten zu einem Treffen in unserem großen Garten eingeladen, zu dem insgesamt 60 Menschen kamen. Wir trafen uns unter dem Motto »Erzähl mir von deinem guten Leben!« Unter dem Apfelbaum, dem Kirschbaum, im Pavillon und beim Strandkorb, im Zelt und unterm Sonnenschirm – überall saßen kleine Gruppen zusammen. Die Menschen erzählten einander von ihrem letzten Jahr und den Entwicklungen, die sie durchlebt hatten. Wir alle genossen den intensiven Austausch. Es war so berührend zu hören, wie viele verschiedene Wandlungen die Menschen durchschreiten!

Alles schien an diesem Tag im Fluss. So waren auch eine Märchenerzählerin und eine Tanzanleiterin da, die sich vorher nicht gekannt hatten. Sie haben sich kurz abgesprochen, und dann hat die eine ein Märchen erzählt, die andere eine dazu passende Musik sowie einen Kreistanz ausgewählt. Danach hat die eine wiederum ein Märchen erzählt, das zum Tanz passte: So entfaltete es sich immer weiter, alles unter unserem riesigen Kirschbaum. Die Menschen waren völlig verblüfft, was da entstand. Einige tanzten mit, manche schauten zu – so wie es jeder und jedem stimmig erschien.  
Rainer und Nurima Lichterstein, Grebenhagen


Zärtlichkeit

Ich leitete einen Kurs, bei dem es um Bewegung und Körperselbstwahrnehmung ging. Unter den fünfundzwanzig Teilnehmenden war auch ein Mann. In der Pause saß ich auf der Terrasse bei Kaffee und Kuchen, während am Nachbartisch vier Harley-Davidson-Motorradfahrer in der für sie typischen Kluft schon beim Nachmittags-bierchen saßen. Wir kamen ins Gespräch: »Was ist das für ein Kurs, der da stattfindet? Da ist ja nur ein Mann dabei!« In mir war ein kurzes Zögern, spürte ich doch mein klischeehaftes Vorurteil gegen »diese« Motorradfahrer-typen. Dann aber nahm ich meine Chance wahr und meinen Mut zusammen: »Das ist ein Mann, der sich traut, sich auf körperliche Weise mit seiner Zärtlichkeit zu beschäftigen. Wenn mehr Männer das täten, gäbe es weniger Gewalt auf dieser Erde.« Sie grinsten sich an, und schließlich sagte einer: »Dann geht das mit dem Sex auch besser!« Wieder verfiel ich in mein Klischeedenken, »Männer denken nur an ... «, und ein leiser Ärger rührte sich. Erst später wurde mir klar, dass dieser Mann ja genau seine Wahrheit ausgesprochen hatte.

Gerade wird mir bewusst, dass die beiden Oya-Ausgaben zum Thema »Matriarchat« in mir eine Spur hinterlassen haben, die sich im Hintergrund in mir bewegt und sich in der oben geschilderten Situation Bahn gebrochen hat. Ich nehme wahr, wie diese Spur – als Frau für das einzustehen, was ich denke und fühle – mir als Teil meiner Verantwortung dafür, was in dieser Welt passiert, zunehmend bewusster wird.  
Heidje Duhme, Hamburg


Vom Gehen und Zurückkommen

Ich schreibe diese Zeilen, dick in einen Wollpullover eingehüllt, mit dem Gedanken spielend, den Ofen anzuwerfen – es ist Ende August, aber nach dem keltischen Kalender hat der Herbst ja längst begonnen –, und versuche, mich an das Oya-Treffen in der Mitte des Sommers zu erinnern. An einem sonnigen Julitag saßen wir, Maria König aus dem Redaktionskreis, Annette aus dem Hütekreis mit ihrer Tochter Paula und ich mit meinem Sohn in unserem Hofprojekt in der Oberlausitz. Ein Zufall wollte es, dass wir uns hier gemeinsam trafen; zum eigentlich geplanten »Oya findet statt«-Wochenende hatte sich leider niemand angemeldet.

Wir erzählten uns von unseren derzeitigen Lebensstuationen. Annette lebt in Dresden, ihre Tochter ist auf der Suche, wie es für sie nach der Schule weitergeht; Maria lebt in Berlin, ist gerade bei ihrer Herkunftsfamilie unweit von hier zu Besuch und mit dem Fahrrad angereist. Wir schweiften von einem zum anderen Thema, und blieben dann bei einem hängen: Wie ist es, in eine Gegend zurückzukehren, in der man aufgewachsen ist? Maria und ich teilen die Erfahrung, nach der Schule der Oberlausitz den Rücken gekehrt zu haben, um  – ja, was eigentlich? Zu uns selbst zu finden? Unseren Seelen den Raum zu geben, den sie zur Entfaltung brauchen? Es kommt mir privilegiert und fast einfältig vor, darüber zu schreiben, und dennoch war es für uns relevant, an diesem Tag darüber zu sprechen. Nicht nur »das Dorf«, die »Provinz«, »der Osten« oder die eine oder andere biografische Wunde bereiteten uns dabei Schwierigkeiten. Das Gefühl, dass ich in der Gegend, aus der ich komme, viele Jahre lang gehabt hatte und immer noch kenne, ist, mich fremd zu fühlen, eingeengt, unfrei. Maria erlebte es ähnlich. Die Wendungen des Lebens haben aber dazu geführt, dass ich inzwischen wieder unweit des Städtchens wohne, in dem ich zur Schule gegangen bin. Maria hadert mit dieser Gegend, wünscht sich teils, wieder hier zu leben, und teils überhaupt nicht. Wir rangen um Worte, um auszudrücken, was es eigentlich ist, das uns hier derart herausfordert, bei uns selbst zu bleiben.

Warum fällt es manchmal so schwer, zurückzukehren? Warum scheint es oft leichter, sich woanders frei und in sich selbst beheimatet zu fühlen? Was genau ist in den paar Jahrtausenden zwischen dem matrilokalen Langhaus und dem Einfamilienhaus, das manche von uns so straucheln lässt, passiert? Warum ist Beheimatung oft  ausgerechnet in der Herkunftsregion so schwierig?

Nach einiger Zeit wurden wir müde vom Sprechen und machten einen Rundgang über den Hof. Als wir an den meterhohen Wildgemüsen – auch »Brennnesseln« genannt –, vorbeigingen, die die angebauten Tomaten- und Porreepflänzchen um ein Vielfaches überragen, wurde uns eindrucksvoll vor Augen geführt, dass die anteilige Selbstversorgung – aus einer ackerbaulichen Perspektive betrachtet – auf unserem Hof in einem ungünstigen Verhältnis zu der vielen Sorge-, Lohn- und politischen Arbeit, die wir hier tun, steht. Günstig allerdings für die Wildpflanzen, die sich ganz ohne unser Zutun an uns verschenken. Wie schön es ist, ihr Geschenk zu sehen, anstatt den Blick auf das in diesem Jahr Verpasste, das Nicht-Getane (»Unkrautjäten«) zu richten! Im Beisein der drei Frauen, von denen ich keine Wertung über den wenig gepflegten Zustand unseres Gartens wahrnahm, gelang mir das. Das, was da ist, ebenso zu akzeptieren wie das, was nicht da ist, ist auch ein Aspekt des Erntens.

Für das Oya-Wochenende hatte ich einen Naturgang, manche nennen es »Schwellengang«, im angrenzenden Wald angedacht, um den mehr-als-menschlichen Wesen des Orts einen Besuch abzustatten. Die anderen drei hatten auch Lust darauf und verschwanden flugs hinter den Sträuchern, Himbeeren, Birken oder dem Pfuhl. Zurückgekehrt, tauschten wir Geschichten darüber aus, was wir erlebt hatten, und ich spiegelte sie zurück. Es fühlte sich ganz normal und für keine von uns merkwürdig an, die Pflanzen, Tiere, Bäume und Steine in unser Treffen einzubeziehen. Eine hatte eine eindrückliche Begegnung mit einer Käferin – der Gattung »Vierbindiger Schmalbock«, wie sie später recherchierte –, die ihren Hinterleib in ein Stück Holz gepresst hatte, offenbar um Eier abzulegen. Eine andere war unruhig und wusste nicht, warum, aber sie kehrte mit mehr Ruhe aus dem Wald zurück. Hinter all den Geschichten schwebte ein stilles Einverständnis darüber, dass »diese Welt hier draußen« mit in unsere gehört; dass diese Geschichten ebenso wie die, die nur von Menschen handeln, ausgetauscht und erzählt gehören. Erst im Nachhinein begriff ich: Je mehr ich solche zen-tralen Seinserfahrungen in der Region, in der ich nun wieder lebe, mit anderen teilen kann, desto weiter und freier fühle ich mich an diesem Ort. Und das schlug einen Bogen zu unserem Gespräch über Beheimatung: Vielleicht wird ja das Gefühl des Fremdseins verschwinden, wenn wir solche Erfahrungen immer öfter auch mit den Hiesigen teilen können.  
Anne Wiebelitz, Bischofswerda


Sommergäste

Seit dem Frühling 2020 bin ich mit meinem Pferd Cordelleo und meiner Ziege Alisha auf Wanderschaft. Im ersten Jahr lernten wir gemeinsam, in der wilden Welt zuhause zu sein, und wohnten den ganzen Sommer draußen. Auch dieses Frühjahr machten wir uns wieder auf den Weg. Um Weimar herum besuchten wir drei gemeinschaftliche Orte, die wir auf der Karte vom »Sommer des guten Lebens« fanden. Zu zwei von ihnen begleitete mich meine Mutter, die als Lehrerin gerade Sommerferien hatte.

Durch die Sommerhitze eines Julitags suchten Alisha, Cordelleo und ich unseren Weg über die Feldwege nach Pfarrkeßlar. Die Bremsen umschwirrten uns unsäglich und fraßen das arme Pferd fast auf. Auf Mama und ihre Hündin Jarla trafen wir auf dem Kirchplatz von Reinstätt, und gemeinsam zogen wir weiter nach Pfarrkeßlar. Der Nachmittag hatte keine Abkühlung gebracht, und auf der Suche nach einem Pfad hatten wir uns durch den verwilderten Saum eines Rapsfelds geschlagen.

Am Ziel sattelte ich Cordelleo ab und schickte ihn auf eine Weide hinter dem Gartengelände. Teresa, ein Gemeinschaftsmitglied, zeigte uns die Außenküche, den Schlafort über der Außendusche, den Schwimmteich und alles andere Wesentliche. Alisha durfte bei den Ziegen und der Eselin des Orts weilen, die gerade im Hühnergehege das überstehende Gras weideten, und so hatte ich zum ersten Mal seit langem eine ziegenfreie Zeit.

Die Menschen in der Gemeinschaft begegneten uns freundlich und luden uns zum Tee an den großen Tisch im Vorhof ein. Später kochten Mama und ich uns in der Außenküche eine Gemüsepfanne und badeten in der Abendsonne im Teich. 

Dann brach die Nacht herein. Von meinem gemütlichen Matratzenlager unter dem Giebel der Außendusche konnte man die Weite der Landschaft und einen Teil des Sternenhimmels sehen.

Diese Stunden bedeuteteten einen wichtigen Schritt auf einem langen Heilungs- und Reifungsweg. Zum ersten Mal seit zehn Jahren konnte ich in den Armen meiner Mutter liegen, schlafen und wirklich Frieden empfinden. Ich bin mir sicher, dass auch der Geist dieses Platzes diese Begegnung ermöglicht hat.

Am nächsten Morgen zogen wir weiter in Richtung Westen nach Tannroda. Die Sonne war kurz davor, hinter den Hügeln des Ilmtals zu versinken, als wir die Burg erreichten. »Was für illustre Gäste!«, begrüßte uns die Burgherrin, als sie den bunten Zug aus Pferd, Ziege, Hund, Mutter und Tochter erblickte. Auch wenn der ganze Ort noch eine Baustelle war, strahlte die Anlage Charme und Eleganz aus. Wir ließen den Abend mit einem schönen -Essen auf der Wiese im Burghof ausklingen. Alisha spielte aufgeregt mit den kleinen Hunden des Gastgeberpaars. Und endlich verschwanden die letzten Sonnenstrahlen zwischen den Zinnen und Baumwipfeln, über denen die Turmfalken singend im Abendwind kreisten.

Am Morgen wachte ich früh auf und öffnete Cordelleos Gehege. Als er friedlich und entspannt graste, huschte ich die Treppe zum Turm hinauf. Oben angekommen, eröffnete sich mir die Weite der Landschaft. Schloss Tonndorf, mein nächstes Ziel im Norden, verbarg sich jedoch hinter Hügeln und Bäumen, auch wenn es nicht weit weg sein konnte. Nur sieben Kilometer zeigte mein Navigationsgerät an. So zogen wir im Schein des Mittags über den bewaldeten Bergrücken, der die Täler von Tannroda und Tonndorf trennt.

Auch wenn der Rollsplitt auf dem Weg Cordelleo anstrengte, und immer wieder kleine Regenschauer über uns niedergingen, legte sich ein zauberhafter Frieden um meine kleine Herde. Irgendwo im Rhythmus der Schritte fand ich meine Stimme und konnte so frei singen, wie schon lange nicht mehr. Die süße Ruhe der Einsamkeit und tiefe Gefühle mischten sich mit Vorfreude. Endlich kam der Burgturm in Sicht. Wir zogen durch das Dorf im Tal zum Schlossberg auf der gegenüberliegenden Seite und erreichten über einen gewundenen Pfad den Platz um die große Kastanie. Sie grüßte uns freundlich. Wenig später erschien eine aufgeregte Saa, so hieß unsere Patin für den Besuch, und wies uns in unsere Koppel und den Zeltplatz ein. »Was du machst, ist ein großer Traum von mir!«, sagte sie, und weil die Sympathie gleich spürbar war, blieb die Frau mit den feuerroten Haaren, obwohl sie eigentlich in Eile war, noch zu einem kurzen Gespräch. Zum Glück lernte ich bald auch die Kinder kennen. Während Alisha und Cordelleo auf der Koppel bei zwei Kälbchen blieben, führten sie mich im Schloss und auf dem Gelände herum. Alle waren etwas aufgeregt, denn die Gemeinschaft erwartete zwei neue Pferde. 

In Tonndorf erlebte ich eine glückliche Woche, knüpfte Freundschaften, hatte sogar selbst Besuch, durfte an Saas »Agnihodra«-Ritual teilnehmen, lauschte den Klängen eines Didgeridoo- und Harfenkonzerts, spielte mit den Kindern, schnitzte einen neuen Wanderstab, besuchte Yoga-Kurse im Seminarraum, trieb Kühe, ging mit zum Ausreiten und zweimal in die Sauna, führte tiefe Unterhaltungen, erzählte Geschichten, fand Momente, um einfach friedlich und dankbar dafür zu sein, mit meiner Herde zu ruhen oder den Sternenhimmel zu bewundern, und ich erlebte lange Lagerfeuerabende im Garten vor Thomas’ Waldhäuschen. Ich kann mich nicht erinnern, mich jemals zugleich so frei, sommerlich, lebendig, sozial und willkommen gefühlt zu haben.

Diese drei Orte haben mir verschiedene, neue Qualitäten von Glück gezeigt. Ich bin dankbar, diese Erfahrungen als Früchte meiner Wanderschaft zu ernten und bin erfüllt von Wertschätzung für die Wege und Großzügigkeit all dieser besonderen Menschen. Danke, liebe Oya, für diese Initiative in diesem passenden Moment. Ich bin mir sicher, dass sie im Sichtbaren und Verborgenen kostbare Früchte tragen wird und den Sommer für viele Menschen reicher gemacht hat. Weitere Oya-Orte liegen auf unserem Weg.  
Sarah Pruß, unterwegs


Waschbeutel auf großer Fahrt

Meinsdorf heißt das Dorf, in dem ich lebte, bis ich acht Jahre alt war. Durch Meinsdorf fließt ein Bach, die Rossel. Auf meinem Schulweg blieb ich immer auf der Brücke am Mühlenwehr stehen und blickte fasziniert hinab. Auf dem Rücken trug ich den kleinen Lederranzen und in der linken Hand meinen hellblauen Waschbeutel. Der bestand aus festem Plastik. Sein Inhalt waren eine Seifendose und ein kleines Handtuch. In der Schule sollten wir uns damit die tintenbeklecksten Hände schön sauber waschen können.

Ich wusste schon, dass der Bach Rossel in den Fluss Elbe mündet. Und dann fließt die Elbe weiter und wird immer breiter und breiter, weil immer mehr Bäche und Flüsse in sie münden. Schließlich ist sie viele Kilometer breit. Und zwar hinter der Großstadt Hamburg.

Aber Hamburg lag damals in einem anderen Land.:In Westdeutschland. Dort konnten wir nicht hinfahren, weil davor eine Grenze war. Da kam niemand drüber. Auch meine Tante Marianne und meine vier Cousinen in Frankreich lebten hinter einer Grenze, und wir konnten sie nicht besuchen.

Doch die Elbe störte sich nicht an dieser Grenze. Die floss da einfach durch. Hin zu ihrer Mündung in der Nordsee. Die Nordsee ist ein großes Meer im Norden von Deutschland. Und die Nordsee geht über in den riesigen Ozean. Der heißt Atlantik.

So weit konnte das Wasser der kleinen Rossel fließen. Bis in den Atlantischen Ozean hinein! Und das war noch nicht alles. Dieser Ozean ist mit den anderen Ozeanen verbunden. Mit dem Indischen und dem Pazifischen Ozean.

Und was hat jetzt die Rossel mit dem Waschbeutel zu tun?

Eines Tages stand ich als kleine Solveig wieder einmal auf der Rosselbrücke am Meinsdorfer Mühlenwehr. Ich blickte hinab ins magisch strudelnde Wasser, ließ die Arme übers Geländer baumeln und stellte mir vor, wie die Rossel ganz, ganz, ganz weit weg fließt, bis in die Weltmeere hinein. Da löste sich wie durch Zauberei der hellblaue Waschbeutel aus meiner linken Hand. Fiel, plumps!, in die Rossel, drehte sich kurz noch einmal im Kreis und reiste nun dem Ozean entgegen. Einen Moment noch erfreute ich mich an diesem Gedanken.

Plötzlich fiel mir ein: Oje, der Waschbeutel ist weg! Wie sag ich das meiner Mutti? Sie wird nicht verstehen, wieso Seife und Handtuch auf hohe See gehen und nie mehr wiederkommen.

Omi! Omi Ida war immer zur Stelle, wenn es Probleme gab. Hatte ich das Frühstück vergessen – brachte Omi mir eine dicke Blutwurstschnitte in die Schule. Hatte ich einen Riss im Kleid – nähte Omi ihn an ihrer Nähmaschine zu. Hatte ich meinen Waschbeutel verloren – musste Omi suchen helfen! Wir liefen zusammen am grasigen Rand der Rossel auf und ab. Vielleicht hatte er sich ja irgendwo verfangen. Hing vielleicht fest im Ufergestrüpp. War vielleicht noch zu retten.

Aber nein. Er war tatsächlich weitergeschwommen. Nun musste ich Mutti von dem Verlust erzählen. Aber wie? Schwindeln darf man nicht! Die Wahrheit sagen? Das ging gar nicht. Ein Waschbeutel, der ins Weltmeer reist. Wer sollte das denn glauben? Also stammelte ich: »Mutti – mein Waschbeutel – ist – weg. Er ist – in – in – die Rossel gefallen.« Ist doch nicht gelogen, oder? Und die Mutti fragte: »Wie kann denn der so einfach ins Wasser fallen?!« »Ich weiß nicht«, murmelte ich. Dann hob ich den Kopf und fügte etwas lauter hinzu: »Aber Omi hat schon einen neuen besorgt.«  
Solveig Feldmeier, Harzgerode


Gammaeule

Zu Beginn dieses Jahres, als im Berliner Himmel gerade die Schneeflocken herumwirbelten, stand ich in meiner Küche und putzte einen Salatkopf. Auf einmal entdeckte ich auf einem Salatblatt eine kleine, hellgrüne Raupe und nahm sie in meine Hand, um sie mir genauer anzuschauen. Da türmte sich die Raupe mit ihrem ganzen Oberkörper auf und strampelte mit ihren kleinen Füßchen. Es war, als würde sie zu mir sagen: »Hallo, ich bin da!«. Auf ihrem Oberkörper waren zwei weiße Linien zu sehen, die sich von ganz vorne bis ganz hinten, wie geschwungene Wellen, über den Körper zogen. Ich war neugierig geworden. In welchen Falter würde sich wohl diese Raupe verwandeln? Ich beschloss, sie in eine kleine, abgeflachte Schüssel zu setzen, und legte ein Salatblatt hinzu. In den darauffolgenden Tagen verschlang die Raupe alles, was ich in die Schüssel gab: Salat, Kohlrabiblätter, Grünkohl. Da sie so viel fraß, fand ich auch reichlich schwarze Kotkügelchen in der Schüssel und entsorgte diese jeden Tag. Es war schön, auf einmal eine Mitbewohnerin zu haben, in einer Zeit, in der die Kontakte sehr eingeschränkt waren. Als ich von einem Spaziergang zurückkam, schaute ich als erstes in die Schüssel und begrüßte die Raupe, die sich wie so oft eingerollt unter den Kohlblättern versteckte. An diesem Tag jedoch war sie nicht mehr da. Sie war nicht unter den Kohlblättern, nicht am Schüsselrand, nicht unter dem Tisch – nicht einmal in der hintersten Ecke der Küche war sie aufzufinden. Ich war ratlos. Sie konnte sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben? Oder doch?

Noch einen Tag zuvor hatte ich im Netz Bilder gefunden, die zeigten, dass sich aus der Raupe der »Gammaeule« genannte Nachtfalter Autographa gamma entwickeln würde. Und jetzt war sie einfach spurlos verschwunden. Die Tage vergingen, und ich hatte die Raupe schon fast vergessen. Doch eines Abends, als ich mich ins Bett legte und gerade mein Buch weiterlesen wollte, flackerte und zappelte es bei der Nachttischlampe. Ich traute meinen Augen nicht: Sie war es – die Gammaeule! 

Es war eindeutig: Der Falter trug auf beiden Flügeln ein kleines, silbern schimmerndes Gamma-Zeichen und saß nun ganz dicht neben mir. Die Raupe hatte sich also irgendwo in meiner Wohnung versteckt, dort verpuppt und sich in den Nachtfalter Gammaeule verwandelt. Jetzt war ich es, die zu ihr »Hallo und gute Nacht!« sagte und dann leise und entzückt das Licht ausschaltete. Jeden Abend schlief ich nun neben ihr ein, bis ich sie nach etwa zehn Tagen leblos auf dem Fensterbrett fand. Die Falter leben nicht so lange wie wir Menschen. Ich hob die Gammaeule behutsam auf und legte sie auf ein Blatt Papier.

Diese Begegnung trägt mich bisher weich und staunend durch dieses Jahr voller persönlicher und kollektiver Transformation.  
Ulrike Bernard, Berlin


Ich hatte einen Liebsten

Ich hatte einmal einen Liebsten, den Sohn einer sorbisch/wendischen Frau. Dieser Mann schenkte mir ein Kind, da war ich fast 26 Jahre alt. Und damals, als ich schwanger war, in dem bitterkalten Winter, starb er bei einem Unfall auf dem Weg zu mir. Der Unglücksort liegt weniger als zehn Kilometer von dem Platz entfernt, zu dem mein heutiger Mann und ich zum Sommer des guten Lebens eingeladen hatten. Seit meiner Kindheit erlebe ich in der von weiblich anmutenden Hügeln sanft gezeichneten Landschaft immer wieder erstaunliche Momente, die tief in mir das Gefühl einer heimatlichen Verbundenheit aufkommen lassen. Himmelhochjauchzende Freude und bitteren Schmerz habe ich hier kennengelernt.

Im Lauf vieler Jahre hat sich mein Gefühl, wenn ich am Unfallort vorbeikomme gewandelt. Manchmal nehme ich ihn gar nicht wahr; andere Male komme ich voll guter Gedanken daran vorbei und mitunter fahren wir einen Umweg oder eine Abkürzung zu unserer Hütte – abhängig davon, wie fragil ich gerade bin.

Heute ist dieses von P.  geträumte Kind, mein drittes, eine wunderschöne erwachsene Frau, die im Juli in Schwedt beim Sommerfest des dortigen Kunstvereins gemeinsam mit einer anderen Sängerin ein Konzert gesungen hat. Lydia ist ihr Name.

Mir erscheint in dieser Sommerzeit gerade der Spruch einer alten Uckermärkerin, Oma Wegener, wie eine Wahrheit: »Wir sind alle Märchen.« Oma Wegener wohnte in den 1990er Jahren mit ihrem Mann in einem luftigen, alten Fachwerk-Katen, direkt neben dem Büro unserer Gemeinschaft. Hinter dem Haus gab es einen wunderlichen und bezaubernden Gemüsegarten, der wie eine gut durchdachte Aufreihung von klapperndem, raschelndem und vögelscheuchendem Plastikmüll anmutete.

Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der mir schien, ich würde gleichzeitig zwei verschiedene Zeitebenen wahrnehmen. Die eine galt meinem gewöhnlichen Alltagstrott, parallel dazu gab es aber eine Aufmerksamkeit für die »größeren« und die »winzigen« Dinge, die unser Leben begleiten und manchmal wie Märchen anmuten. So, als erschiene uns die Welt wie eine Verkettung von »Zufällen«, extra für uns gemacht. In dieser Zeit hatte ich mit Oma Wegener eine kurze Unterhaltung, die mit ihrer trockenen Bemerkung endete, wir seien alle Märchen.

Oft schwingt noch Trauer in den Märchen. Über Lydia und ihren Vater gäbe es noch mehr zu erzählen, zu singen und zu hören. Hier nur noch eines: Das Lied, das ich träumte, als Lydias Vater vier Monate tot war, und ich hoffte, dieses neue noch winzige Lebenskörnchen gut in mir tragen zu können – bis zu seinem ersten Atemzug, und noch viele weitere Jahre. Lydias Vater sang an einem Abend zwei Monate vor seinem Tod angesichts des Monds, der langsam aber stetig, riesengroß und rot über den polnischen Hügeln aufstieg »Der Mond ist aufgegangen«. Das einzige und letzte Lied, das ich je von ihm hörte.

Die Tatsache, dass mein heutiger Mann und ich seit zehn Jahren den Sommer und viele Wochenenden in Stützkow verbringen, fühlt sich wie die Erfüllung meines geträumten Lieds an. Da hieß es: »Jahre werden gehen, ich wart’ auf sanften Wind, bis ich für uns’re Träume mein Leben wiederfind’.«  
Tinka Federpflug, Berlin


Auf Getreidefühlung

Mit den zweiten Gästen, die meiner Einladung zum Sommer des guten Lebens folgten, sprach ich viel über die Natur und darüber, dass nicht nur wir die nicht-menschliche Natur wahrnehmen, sondern selbst auch wahrgenommen werden. Alle um uns herum sind ja beseelte, bewusste Wesen! Abends, als es dämmerte und wir fast nichts sehen konnten, gingen wir über meine Getreidefelder. Da sagte ich zu den Gästen: »Ihr müsst das Getreide in die Hand nehmen, müsst es fühlen!« Es war interessant, dass sie genau die Qualitäten fühlten, die den jeweiligen Sorten auch in Büchern zugeschrieben werden: die luftige Leichtigkeit des Hafers, die erdige Schwere des Weizens, das wilde Chaotische des Dinkels. Für die beiden Gäste war es eine völlig neue Erfahrung, dass man sich so an Pflanzen heranfühlen kann. Wer weiß, vielleicht können sie sich dieses Gefühl ja bewahren, bis sie das nächste Mal in ein Dinkelbrot beißen.  
Jürgen Frey, Rot an der Rot


Geschenkte Zeit

Ich brauche mehr Licht. Der wolkenverhangene Nachmittag wirkt dunkler, als ein Augustnachmittag sein sollte. Die frühe Dunkelheit lässt mich das erste Mal an den Herbst denken, offenbar naht die Zeit der Dunkelheit. Höchste Zeit, sich der reichen Ernte des Sommers zu erinnern!

Zusammen mit meiner Schulfreundin, meinem chilenischen Cousin, meiner Mutter, meinem Beziehungsmenschen, einem  – wie meine Eltern ihn nannten – »Oya-Menschen« auf Wanderschaft und einigen Nachbarinnen und Nachbarn trafen wir uns für ein Wochenende. Und auch nicht-anwesende Menschen waren dabei – die, die ihre Pläne geändert hatten oder uns absichtlich Raum geben wollten. Teilweise waren wir miteinander bekannt, teilweise lernten wir uns gerade erst kennen – so oder so sind wir uns neu begegnet.

Neben all den Geschichten am abendlichen Feuer, einem Ausflug und den gemeinsamen Mahlzeiten haben wir uns vor allem Zeit geschenkt. Ich bin immer noch erfüllt von der freudigen Neugier, der rücksichtsvollen Zurückhaltung, den leidenschaftlichen Erzählungen und dem verbundenen Austausch.

Was bedeutet Oya für dich? Die Verbundenheit über Generationen hinweg mit der Welt, Verbundenheit mit der Natur und einfach immer wieder Neues entdecken. Was hält die Demokratie am Leben? Gemeinsamer Glaube an Beteiligung, eine neue chilenische Verfassung, das bewusst gehaltene Erbe einer Diktatur und eine Bildung, die Menschen das Vertrauen in ihr eigenes Handeln schenkt. Was rettet die Welt? Die Wiesen nur noch mit der Sense zu mähen, alte Maschinen zu restaurieren, um die eigene Wolle zu spinnen, Hühner aus Riesenställen zu retten, einfach zu Fuß zu gehen – estar loco, de una buena manera, auf gute Weise ver-rückt sein. Wie halten wir etwas vom Augenblick fest? Mit den Aufnahmen der quietschenden Fahrräder auf dem Weg am Deich, mit den Fotos von Schmetterlingen, Schafen und Hängematten, mit der Erinnerung an das Bett im Garten unter dem Apfelbaum, eingehüllt in ein großes Mückennetz, wie in einem Himmelbett und mit den Gedanken an die gemeinsame Zeit.  
Marie Sauß, Holtorf


Heukranz

Der Mattheshof ist eingebunden in eine lose Dorfgemeinschaft. Es gibt ein paar Momente im Jahr, die wir bewusst miteinander teilen. Einer davon ist der 1. Mai, wo wir einen Kranz hochziehen, der zuvor gebunden werden muss. Daran durfte ich dieses Jahr zum ersten Mal teilnehmen.

Die Tage davor war es noch sehr aufregend, weil der Frühling so kalt war und die Birken noch nicht zu grünen begonnen hatten – denn wir wollten natürlich Birkenzweige nehmen! Die Älteren beschwichtigten mich, dass es doch noch jedes Jahr zur rechten Zeit zu grünen begonnen hätte – und richtig: einen Tag vor dem 1. Mai fanden wir eine Birke mit den ersten grünen Blättchen. Daraus konnten wir einen schönen Kranz binden und den Maibaum aufstellen.

Eigentlich gibt es nur zwei Kränze im Jahr – den Mai- und den Adventskranz –, doch durch den vielen Regen ist der Kranz in diesem Jahr ganz schön in Mitleidenschaft gezogen worden. Irgendwann meinte eine erfahrene Dorfbewohnerin: »Da müssen wir doch was machen!«

In diesem Jahr ist das Heu ein riesiges Thema – das Gras wächst und wächst, es gibt so unendlich viel davon, wir sind nur noch am Mähen! Diese Fülle haben wir zum Anlass genommen, den Maikranz abzunehmen und gemeinsam einen Heukranz zu binden. Es war total spannend, wie flink es ging und wie schön es wurde, weil mehrere Menschen aus dem Dorf zusammenkamen. Jetzt hängt der Kranz, geschmückt mit Reinfarn- und Schafgarbeblüten, in unserer Dorfmitte und erfreut uns alle sehr! Für mich bietet solch gemeinsames Tun schöne, noch lange nachwirkende Momente der Begegnung.  
Tina Uhlemann, Zschaitz-Ottewig


Sommernachtstraum

Vor drei Jahren habe ich meine Wohnung in München aufgegeben und lebe nun an meinem »Ort des guten Lebens« in Ungarn. Eigentlich sollte ich gerade Sauerkirschen ernten. Es ist so heiß, dass sie am Baum zu Rosinen vertrocknen. In den ersten Wochen ohne Regen behalten die Menschen, Tiere und Pflanzen noch Haltung, aber irgendwann sind auch die letzten Reserven aufgebraucht, und alle sind der Hitze und der stechenden Sonne ausgeliefert. Die Großstadt hat mich fünfundvierzig Jahre getaktet, unerbittlich. Jetzt taktet mich die Natur, auch unerbittlich, aber völlig anders. Ich muss erfinderisch sein, um mich trotzdem wohlzufühlen. Alles ist neu und will erprobt werden.

Meine neueste Entdeckung ist, auf der überdachten Veranda zu schlafen. Am Anfang war das eine Mutprobe, inzwischen finde ich es herrlich. Die Veranda ist groß genug für Stühle, einen Tisch, zwei Schränkchen für Samen, Töpfe und Gartengerät – und für eine Liege mit alten Roßhaar-Matratzen. Auf den Matratzen liegt ein Orientteppich, was an einen Diwan erinnert. Darüber hängt ein maisgelbes Moskitonetz vom Vordach herunter wie ein Baldachin. Vor der Veranda stehen ein Pfirsichbaum und ein Weinstock, dem ich die meterlangen Triebe nicht abschneide, sondern sie bis unters Dach wachsen lasse. Der durchsichtige Baldachin zaubert ein Zimmerchen, in dem ich ausgesprochen gut und tief schlafe. Dennoch erinnere ich mich nach der Nacht an bestimmte Sterne, die sich unerwartet schnell bewegen. Zu den Planeten sagte man früher »Wandelsterne«, glaube ich. Sie sind alle mehr oder weniger im Süden sichtbar, mein Blick von der Veranda reicht von Südosten bis Südwesten. Der Morgenstern, also die Venus, ist zum Beispiel nicht zu übersehen. 

Der Geruchssinn scheint nie zu schlafen, jedenfalls nicht im Freien. Im Schlaf rieche ich, wenn sich das Wetter ändert. Ein unerwartetes Geschenk. Je nach Wetter laufe ich im Garten und auf dem Feld oft gegen eine Wand von Gerüchen, die ich gar nicht benennen kann. Das macht nichts. Es sind Gerüche, die mich satt machen, als bräuchte ich nichts mehr zu essen. Dabei tue ich nichts lieber, als auf der Veranda zu frühstücken.

Manchmal höre ich im Schlaf von Weitem ein Rauschen, das sich donnernd nähert. Durch den Wald schwillt das Tosen gleichmäßig an, ein stetes Ziehen, es sind keine Böen. Ich setze mich auf und will sehen, wie die Bäume vom Sturm tief gebeugt werden. Nicht lange, dann ist die Welle vorbei, der Druck nimmt ab, wie er zugenommen hat. Dann ist es wieder absolut still, als wäre nichts gewesen. In der Stille der Nacht wirkt dieser eilige Wind, als hätte er ein Ziel. Das Schönste sind Gewitter am Horizont und das sogenannte Wetterleuchten.

Manchmal erinnere ich mich nach dem Aufwachen an den Gesang von Schakalen. Ich finde, sie heulen nicht – sie singen schön, harmonisch und laut, meist nicht weit von den Häusern, obwohl es hier tiefe Wälder gibt. Manchmal wache ich auch auf, wenn es absolut still ist und warte auf die ersten Vogellaute. Sie beginnen nach und nach. Diese kleinen Piepser vor dem Morgengrauen sind so zart, dass ich die Vögel nicht bestimmen kann. Ihre Laute tragen mich zurück in den Schlaf, bis es hell wird – eine Drift wie Ebbe und Flut. Manchmal fällt mir das Aufstehen nach diesen traumwandlerischen Nächten schwer. Dabei ist der frühe Morgen die schönste Zeit des Tages. Die nächste Veranda-Nacht ist noch weit.

Meine Sommergeschichte ist diesem Schwebezustand zwischen Wachen und Schlafen gewidmet. Ich bin den Träumen nicht ausgeliefert, sondern ich navigiere. Mein Geist geht auf Reisen – er steuert oder lässt sich treiben, je nachdem. Ich sehe meinen Träumen zu und lasse mich überraschen, was am Tag daraus wird. 

Ich könnte noch schreiben, wie meine Katze mir beigebracht hat, dass sie spazierengetragen werden will, oder warum die Hummeln in den Stockrosen übernachten und nicht in ihre Erdlöcher heimfliegen. Aber das hat alles nichts mehr mit der Nacht zu tun.  
Edelgard Stadler, Erzsébetpuszta

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