Die Bildungsinitiative »Ferhat Unvar« und der Podcast »Schokolade und Fisch« widmen sich Macht und Ohnmacht.von Lola Franke, erschienen in Ausgabe #65/2021
Wie lassen sich rassistische Strukturen im Alltag eines einzelnen Menschen und in der Gesellschaft verändern? Diese Frage beschäftigt mich immer wieder und ist für mich ein wichtiger Teil von Bildungsarbeit (siehe »Abschied vom Zentrum«, Oya 60). Durch den Anschlag von Hanau Anfang vergangenen Jahres ist mir noch einmal klar geworden, wie lebensgefährlich rassistische Strukturen für viele Menschen sind. Am 19. Februar 2020 tötete ein Rechtsextremist in der Kleinstadt Hanau bei Frankfurt am Main erst neun andere Menschen und dann sich selbst und seine Mutter. Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov verloren vor anderthalb Jahren ihr Leben.
Um mich mit den Strukturen hinter solch rassistischer Gewalt auseinanderzusetzen und auch, um zu verstehen, warum die offensichtlichste Form von Gewalt – nämlich körperliche Angriffe, Morde und Attentate – so häufig von Männern ausgeübt werden, habe ich mich mit Ali Yildirim und Damjan Gavrić getroffen. Beide sind in der Bildungsarbeit tätig und arbeiten als Antirassismustrainer an Schulen, beziehungsweise in der feministischen Aufklärungsarbeit mit Männern.
Aber warum zieht es mich eigentlich zu diesen beiden Themen hin? Ich bin heute 26 Jahre alt und aufgewachsen als weiß gelesenes Mädchen in Leverkusen. Die Hälfte meiner Mitschülerinnen waren Menschen, die auf Grund ihres Äußeren und ihrer Familiennamen von rassistischen Feindbildern betroffen sind. Und doch ist mir erst jetzt im Nach-hinein bewusst geworden, wie stark sich das Erlebnis unserer Schulzeit unterschieden haben muss. Ich denke da zum Beispiel an den Lehrer, der uns in einer denkwürdigen Stunde erklärt hat, warum Toshihiko und seine Eltern besser »integriert« seien als die Familie von Muhammed. Das läge daran, dass »Türken zu laut und stur sind und Asiaten sehr höflich und anpassungsfähig«. Außerdem erinnere ich mich daran, dass ein anderer Lehrer Schokrola verboten hat zu sagen, er komme aus Kurdistan, denn Kurdistan gäbe es nicht und er solle aufhören, sich lächerlich zu machen.
Viele dieser Erinnerungen habe ich sehr lange Zeit verdrängt und vergessen, weil sie unangenehm sind. Meine Rolle war nicht die der mutigen Verbündeten, die aufgestanden ist und sich gegen die Ungerechtigkeit im Klassenraum ausgesprochen hat. Ich war eine der vielen, die sitzen geblieben ist und den Mund gehalten hat. Wenn ich mich heute mit Rassismus beschäftige, dann kann ich das auch, weil es zum Glück genug Menschen gab, die mit mir diskutiert haben, mir mit Geduld begegnet sind und mich immer wieder an ihren Perspektiven und Lebensrealitäten teilhaben ließen. Menschen wie Serpil Temiz Unvar.
Serpil ist die Mutter von Ferhat Unvar, der in Hanau ermordet wurde. Am 14. November 2020, an Ferhats Geburtstag, gründete sie eine Bildungsinitiative, die den Namen ihres Sohnes trägt und sich aktiv gegen Rassismus im Alltag und in Institutionen einsetzt. Mitarbeiterinnen der Initiative sind Freunde und Verwandte von Ferhat. Unter ihnen Ali Yildirim, ein Kindheitsfreund von Ferhat, mit dem ich zum Telefonieren verabredet bin.
Ali ist in Hanau geboren und aufgewachsen, hat in Gießen studiert und lebt heute wieder in Hanau. Durch die »Initiative 19. Februar«, in der sich seit dem Anschlag die Angehörigen der Opfer organisieren und austauschen, traf er auf Serpil. »Betroffen sein«, erklärt mir Ali im Gespräch, »bedeutet eben leider auch immer ein bisschen, Experte zu sein.« Deshalb arbeitet Ali an Serpils Seite für die Bildungsinitiative »Ferhat Unvar«. Er spricht bei Veranstaltungen, gibt Seminare an Schulen und in Unternehmen und koordiniert die 16 neuen Demokratietrainerinnen, die allein von September bis Dezember 2021 40 Seminare an Schulen in Hanau geplant haben. Wir sprechen über seine Gründe, der Initiative beizutreten: »Wut ist ein Motor – und ja, ich bin wütend, aber ich mache daraus etwas Konstruktives, setze da an, wo ich etwas verändern kann. Hass kannst du nicht mit Hass schlagen. Die Bildungsinitiative bedeutet deshalb für uns Menschen aus Hanau und für alle Angehörigen auch Heilung.« Die Arbeit gibt ihm auch Hoffnung, künftige Anschläge verhindern zu können. »Wenn wir ehrlich sind, wird es irgendwann wieder eine andere Stadt treffen. Halle, Mölln, Solingen, München – niemand glaubt, dass so etwas in der eigenen Stadt passieren kann, aber solange wir nichts unternehmen, werden sich solche Anschläge wiederholen.«
In den Bildungsangeboten der Initiative geht es darum, das eigene Schubladendenken zu hinterfragen, sich mit Mikroaggressionen im schulischen Alltag und darüber hinaus auseinanderzusetzen und zu lernen, einander zuzuhören. Jeweils eine junge Demokratietrainerin und eine Bildungsreferentin gehen dafür zusammen in eine Klasse und üben gemeinsam in kleinen Gruppen, wie ein aufmerksames, diskriminierungsfreies Miteinander möglich sein kann. »Wir sind alle als die geboren, die wir sind«, betont Ali. »Keiner kann etwas dafür, wer er ist. Es ist auch nicht schlimm, sich bestimmte Dinge nicht vorstellen zu können, es geht um ein grundlegendes Interesse für die Lebensrealitäten der anderen«.
Ali hat große Hoffnung, dass die junge Generation sich nicht mehr mit bloßen Gesten oder schönen Worten und einem Anti-Rassismus-Banner abspeisen lässt, denn er erlebt immer wieder, wie inter-essiert und engagiert junge Menschen auf das Thema Antirassismus zugehen, Forderungen stellen, Druck machen und gemeinsam und laut für eine gerechte Welt einstehen. Ali würde sich manchmal gerne einfach zurücklehnen und in Ruhe trauern, aber er weiß, wenn die Betroffenen und Angehörigen des Anschlags diese Arbeit nicht machen, dann fehlt ein wesentlicher Teil. »Selbst wenn wir nur eine Person in einem Workshop erreichen konnten, dann hat er sich gelohnt.«
Ablehnung annehmen
Diese Einstellung teilt auch Damjan Gavrić. Zusammen mit seinem Mitbewohner Matje hat Damjan den Bildungs-Pod-cast »Schokolade und Fisch« gegründet, in dem die beiden über Männlichkeiten, Feminismus und Identität diskutieren. Jedes Jahr werden weltweit 95 Prozent aller tödlichen Gewaltdelikte von Männern begangen. »Gewalt, egal ob psychische oder physische, bildet einen historischen Teil dessen, was wir heute Männlichkeit nennen«, sagt Damjan. »Männer haben jahrhundertelang Herrschaft über Vergewaltigungen, Ausbeutung und Versklavung manifestiert. Frauen mischen da mittlerweile auch mit, aber das ist eher ein Trend der jüngeren Zeit. In patriarchalen Gesellschaften muss, wer herrschen will, eben auch unterdrücken. Für mich stellt sich also eher die Frage: Warum wundert es uns, dass Männer, die seit jeher zu Gewalt und Dominanz als Strategie zur Lösung von Problemen erzogen werden, diese dann auch nutzen?« Ein gesteigertes Gewaltpotenzial, rassistische Feindbilder, und ein gefährliches Männlichkeitsbild hängen laut Damjan untrennbar miteinander zusammen. Zudem werde Männern oft kein konstruktiver Umgang mit Ablehnung vermittelt. »Wenn du es als Junge gewohnt warst, alles zu bekommen, was du willst, und dann ist das plötzlich nicht mehr so, brauchst du eine Strategie für den Umgang mit dieser Ablehnung. Männer dürfen vielerorts aber nicht über ihre Gefühle sprechen. Was übrigbleibt, ist dann angestauter Frust, ohne ein gesundes Ventil, um mal ein bisschen Druck abzulassen. Du wirst also zu einem Pulverfass, das jederzeit explodieren kann.«
Die Wut richtet sich laut Damjan in solchen Fällen häufig auf Minderheiten, denn historisch gesehen haben wir kollektiv gelernt, dass es in Ordnung ist, diese als Ventil für unseren Frust zu nutzen. Frauen, queere Menschen, Migrantinnen, schwarze und andere Menschen mit rassistischen Diskriminierungserfahrungen würden zu Feindbildern erklärt und seien am Ende Parkplätze für Hass. In diesem Bild können laut Damjan rechte Gruppen gleichsam als Betroffenengruppen für Männer verstanden werden, die gemeinsam wütend sind. »Diese Männer treffen sich aus dem falschen Grund – Ausländer nehmen ihnen natürlich nicht ihr Land weg, aber über dieses Bild wird ein Zugehörigkeitsgefühl hergestellt«, sagt Damjan. »Sie könnten alternativ auch mal ein bisschen gemeinsam weinen, über ihre Sozialisation zum Beispiel, aber das haben sie nicht gelernt. Unser Podcast soll eine alternative und hoffentlich ehrlichere Betroffenengruppe sein.«
Grausamer Logik verhaftet
Eine ehrliche Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen, das Hinterfragen der tief verinnerlichten Muster von Dominanz und Gewalt als Antwort auf Probleme, die Konfrontation mit eigenen Ängsten und Feindbildern – all das erhofft sich Damjan von »Schokolade und Fisch«. Solche Prozesse könnten vielleicht schmerzhaft, sein, aber auf lange Sicht nachhaltiger. In unserem Gespräch stellt er immer wieder die Verbindung zwischen verschiedenen Formen von Gewalt und Ausbeutung her und beschreibt, wie wichtig es sei, diese bei ihrer gemeinsamen Wurzel zu packen. »Wenn ich Menschen herabwürdige, die eine andere Hautfarbe oder einen ausländisch klingenden Nachnamen haben, was hindert mich dann noch daran, Menschen aufgrund von anderen Gründen herabzuwürdigen, weil sie arbeitslos sind, schwul oder Frauen?
Und wenn wir dann noch einen Schritt weitergehen, was hindert mich dann noch daran, die Erde und alles Leben auf ihr auszubeuten, mir unterzuordnen und herabzuwürdigen?«, fragt er. »Hass, Schubladendenken und Herrschaft sind tiefsitzende, strukturell gesellschaftliche Probleme, die wir nicht mehr als Einzelfälle abtun dürfen. Sie alle hängen mitein-ander zusammen, verbunden durch die gleiche grausame Logik.«
Die Podcasts sieht Damjan auch als einen dringend notwendigen Austauschraum, in dem unangenehme Wahrheiten ausgesprochen und gemeinsam ausgehalten werden können. Im Lauf der Zeit sollen die Hörer immer mehr Werkzeuge sammeln, um sich ihrer eigenen Sozialisation zu stellen. Anteile, die sie als »zu weiblich« in sich abgelehnt haben, wie Fürsorgearbeit, Kommunikationsfähigkeiten und Empathie, können geschult und als etwas Positives, Gemeinschaftsstiftendes geschätzt werden. Es gehe nicht darum, einander an den Pranger zu stellen, sondern – frei von Schuld und Scham – Räume der Selbstreflektion zu schaffen, in denen es in Ordnung ist, gegenseitige Abhängigkeit zu spüren und mehr Emotionen auszuhalten als Wut. Es gehe um Räume, in denen persönliche Betroffenheiten genauso Platz haben wie die Kritik an eigenen toxisch patriarchalen Verhaltensmustern. »Wir alle haben diese ungesunden Aspekte in uns. Deswegen sind wir nicht falsch, es ist nicht unsere Schuld – aber eben unsere Verantwortung, das anzuerkennen, wenn wir alle in einer besseren Welt leben wollen.« Und er fährt fort: »Die meisten Menschen, die Attentate begehen oder sich selbst töten, sind Männer. Wieso denken sie, dass sie alleine sind mit ihren Gefühlen? Uns allen geht es so und wir sprechen nicht darüber, weil das Teil unserer verkorksten Männlichkeit ist. Aber das befreit uns noch lange nicht von unserer Verantwortung unseren Mitmenschen gegenüber. An der Stelle wollen Matje und ich ansetzen, uns verletzlich und angreifbar machen und gemeinsam mit unserer Geschichte, unserem Schmerz und vor allem unserer Verantwortung umgehen.«
Eine Woche nach den Gesprächen mit Ali und Damjan halte ich noch immer viele lose Fäden in den Händen. Sehr langsam, Faden für Faden, erkenne ich, wie stark die Arbeit dieser beiden Bildungsprojekte miteinander zusammenhängt. Wie sehr die Befreiung von einer unterdrückerischen Struktur Wellen schlägt, und wie Freiheit und Verständnis zu noch mehr Freiheit und Verständnis führen. Im Umkehrschluss sehe ich auch, wie rechte Bewegungen in Europa immer mehr Macht gewinnen, wie sich rassistische Anschläge häufen und sich in Incel-Netzwerken wütende Männer über ihren Hass auf Frauen und Minderheiten austauschen. Den Bezug zu diesen Menschen zu verlieren, bedeutet, sie Strukturen zu überlassen, die ihnen Hass als einfache Antwort auf komplizierte Fragen präsentieren. Als Schlüssel für Veränderung zeichnet sich für mich immer mehr die Bildungsarbeit aus – denn ich glaube, indem wir miteinander sprechen, die Perspektive der anderen einnehmen, uns Empathie schenken und zuhören, können wir die Grenzen überwinden, die uns trennen, obwohl wir vielleicht jahrelang im gleichen Klassenzimmer saßen. //