Gemeinschaft

Der Acker ist nichts ohne die Welt drumherum!

»Autarkie? Jein, bitte!« Die Oya-Redakteurinnen Luisa Kleine, Anja Marwege und Andrea Vetter reflektieren mit dem Sozial­utopisten Simon Sutterlüti den in Gemeinschaften häufig
anzutreffenden Ansatz der »Selbstversorgung«.
von Simon Sutterlütti, Andrea Vetter, Anja Marwege, Luisa Kleine, erschienen in Ausgabe #65/2021
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© Susann Stüve

Luisa Kleine  Oft ist die erste Frage, wenn ich erzähle, dass ich in Gemeinschaft lebe, »Versorgt ihr euch auch selbst?«. Auch im Kontakt mit Medien wollen alle den Gemüsegarten filmen – und -bemerken dann mit Genugtuung, dass wir ja doch in Tetrapacks abgefüllte Hafermilch kaufen. Ich frage mich, inwieweit Selbstversorgung Teil der Geschichte ist, die ich über Transformation und Utopie erzählen möchte. Reproduzieren wir damit die Mär von Unabhängigkeit und Individualismus, wie sie in neoliberalen Erzählungen gepriesen werden? Welche Sehnsüchte werden dadurch berührt, und was sagen uns diese über die Verhältnisse, in denen wir leben? Wie geht es euch mit diesem Thema?

Anja Marwege  Das Wort »Selbstversorgung« trifft den Nagel nicht auf den Kopf. Produziere ich nur für mich selbst? Ein Verb, das auf das gemeinsame Tun hinweist, gefiele mir besser als ein Substantiv. Was genau ist es, das wir da tun, und in welchem Zusammenhang steht es? 

Seit drei Jahren bestelle ich mit ein paar Frauen einen gemeinschaftlichen Acker mit Möhren, roter Bete, Kartoffeln und Pastinaken. Der Boden ist reiner Sand; weit und breit gibt es kaum weniger Bodenpunkte. Aber für uns ist es dennoch ein guter Standort. Ein Trampolin, eine Toilette und der Wald zum Hüttenbauen für die Kinder sind nicht weit. Wir haben nicht den Anspruch, alles, was wir fünf Familien brauchen, selbst zu produzieren. Vielmehr widmen wir uns gemeinsam diesem Stück Land, so wie es uns nach Kräften möglich ist. Wenn ich zwei oder drei Stunden lang eines der Beete jäte, fliegen die Vögel um mich und die Rehe kommen äsend näher; ich werde dann zum Teil der Landschaft. Immer mehr spüre ich die Verantwortung, die ich für diesen kleinen »Erd-Teil« habe. Wir sparen kein Geld durch den Acker, auch wenn ich übers Jahr gesehen einen Tag in der Woche dort tätig bin. Was wir produzieren, ist nur ein kleiner Teil unserer Bedarfe, wir kaufen für den Möhrenkuchen noch den Zucker oder für die Kartoffeln die Butter. 

Andrea Vetter  Wenn wir auf die Vision von Autarkie und Selbstversorgung blicken, müssen wir auch darauf schauen, wer diese aus welchen Beweggründen teilt. Autarkie war auch ein nationalsozialistischer Traum und findet sich noch immer in völkischen Utopien. Seit der Lebensreformbewegung – von circa 1900 bis in die 1930er Jahre hinein – gab es eine große Siedlerbewegung, die in Teilen auch aus einem anarcho-syndikalistischen Impuls kam, von Menschen, die nicht in Gewerkschaften für bessere Arbeitsbedingungen innerhalb der Fabriken kämpfen, sondern direkt nicht-kapitalistische Siedlungen aufbauen wollten. Der Deutsche Gewerkschaftsbund entschied sich in den 1920er Jahren, diese Bewegungen nicht zu unterstützen. Die Nationalsozialisten haben die Siedler hingegen mit offenen Armen aufgenommen, und viele Siedlungen hatten antisemitische Weltbilder. Durch die Spaltung der Linken schon in den 1870er Jahren in ein kommunistisches und ein anarchistisches Lager wurden auch anarchistische Siedlungen, die nicht völkisch waren, von anderen linken Gruppierungen skeptisch betrachtet. Das hat sich erst seit den 1970er Jahren mit den Landkommunen und der Alternativbewegung verändert, als über solche Projekte in linken Zusammenhängen überhaupt erst wieder diskutiert werden konnte. Teilweise gibt es diese Ablehnung aber auch heute noch.

Simon Sutterlüti  Ich kann den Impuls Richtung Selbstversorgung gut nachvollziehen. Er verspricht Handlungsfähigkeit und Gestaltbarkeit, Bedürfnisorientierung und Ökologie, Care und Produktion statt Profit und Marktkonkurrenz. Aber Selbstversorgung ist auch ein »Klein-Klein«, eine Absage an die gesellschaftliche Ebene und damit eine Absage an den Einsatz für eine – gerade in der Klimakrise so notwendige – neue Art globaler Kooperation und Organisation von Arbeit. Ich denke, die Menschen ziehen sich häufig auf die individuelle und kollektive Ebene zurück, weil sie auf gesamtgesellschaftlicher Ebene die Hoffnung auf Veränderung aufgegeben haben. Angesichts dessen, dass Staat und Reformismus die gesellschaftliche Ebene der Transformation dominieren, kann ich das gut verstehen. Aber statt nur das Alte zu reformieren, könnten wir auf dem Land und in der Stadt in sozialen Bewegungen Commons aufbauen und das Alte materiell, politisch und symbolisch herausfordern. 

Ich glaube, viele Menschen suchen Unabhängigkeit und Autonomie von diesem System, weil Abhängigkeit in dieser Gesellschaft so herrschaftlich organisiert ist. 

LK  Ja, mir geht es genauso! Seitdem ich auf dem Land lebe und Zugang zu Gärten habe, fühle ich mich viel sicherer. Letztens habe ich bei Silvia Federici gelesen, wie sie in Nigeria von ihren Kolleginnen an der Uni gefragt wurde: »Wie kannst du dich nur sicher fühlen ohne Allmende? Ohne Gemeinschaftsnetz und Beziehungsgefüge, die dich tragen? Wie kannst du dich sicher fühlen in so einer krassen Abhängigkeit vom Markt, und ohne freien Zugang zu deinen Existenzgrundlagen zu haben?« Das hat mich sehr bewegt und mir die Fremdheit ins Bewusstsein gerufen, in die ich geboren wurde, und die ich zu Land und Landschaft empfinde. Ich habe die Vorstellung, dass Menschen zu anderen Zeiten oder an anderen Orten eine viel intimere Beziehung zum Boden hatten bzw. haben und dass daraus eine Sicherheit erwächst, die auf dieser Einbettung beruht. Das ist eine Qualität, die ich selbst gar nicht mehr nachvollziehen kann, aber die, glaube ich, für viele Menschen tatsächlich ein Beweggrund ist, sich wieder selbst versorgen zu wollen: Die Sicherheit, mit den eigenen Existenzgrundlagen verbunden zu sein, und dadurch auch die eigene Lebendigkeit mehr zu spüren.

AV  Ich halte es für ein sehr legitimes Bedürfnis, sich unabhängig vom Markt Versorgungsstrukturen aufzubauen. Veronika Bennholdt-Thomsen nennt das so schön »Existenzsouveränität«. 

AM  Diese Souveränität lässt sich auch auf Bereiche jenseits von Lebensmitteln beziehen: Etwa – wie ich es selbst erlebt habe – weitgehend mit den eigenen Händen und mit Materialien aus der Umgebung, eingebettet in ein Netzwerk von Helfenden, ein Haus zu bauen, für das kein Kredit nötig ist. Das beschreibt eine Qualität, die als »Wohnraumsouveränität« bezeichnet werden könnte. 

AV  Was mich befremdet, ist, dass Subsistenz als »Selbst«-Versorgung oft so vereinzelt gedacht wird. Wir haben im »Haus des Wandels« zwar einen großen Garten, den Großteil unseres Gemüses und Ziegenkäse bekommen wir aber von einer benachbarten Solawi. Dadurch entsteht ein regionales Netzwerk, das Menschen, Tiere und Pflanzen einschließt, in dem Wissen und praktische Hilfe zirkulieren können. Ich würde gerne erforschen, wie der Ansatz der Existenzsouveränität zu regionalen Vernetzungen führen kann. Wenn die Einheit der Subsistenz zu klein gedacht ist, und Menschen alles auf ihrem Hof selbst machen wollen, entstehen eben keine stabilen Beziehungen. Aber ohne diese Beziehungsnetze sind wir viel weniger resilient.

AM  Auch wenn wir unsere Möhren selbst anbauen, brauchen wir jemanden, der das Saatgut gewinnt, und auch die Geräte und Maschinen, die uns helfen zu ernten und zu jäten. Einiges können wir selbst reparieren, aber wer zeigt mir, wie das geht, oder wer leiht mir die Maschine, die ich nur einmal im Jahr brauche? 

In unserer Region gibt es einen Menschen, der Spinnräder reparieren kann, und ein älteres Ehepaar, das Körbe flicht. Sie alle sind jetzt alt und können das nicht mehr weiter tun. Letztens war ich in der Flechtwerkstatt. Alles, was da drin steht, wird gesammelt ins Museum wandern. Zwei Puzzleteile eines Netzwerks gehen somit jetzt verloren mit ihrem essenziellen Wissen, das zu erlernen eine lange Zeit erfordert.  

SS  Das mit dem Netzwerk ist ein spannender Ansatz, aber spielt sich weiter vor allem auf der individuellen und kollektiven Ebene ab. Globale Tätigkeitsteilung und Abhängigkeiten sind notwendig, damit eine Commons-Utopie funktioniert. Kooperation jenseits von Kaufen und Tauschen, auf Basis von Gabe und Commoning macht Miteinander und Inklusion notwendig. Wie können wir weite Netzwerke schaffen? Und wo schaffen wir schon globale Commons-Netzwerke? 

Ich frage mich: Welche Geschichte wollen wir mit unserer Praxis erzählen? Die Geschichte, wie schön es auf dem Land ist, und wie wir dort in andere Rhythmen kommen, ist nicht das, was ich erzählen will! Das ist eine Geschichte für wenige Menschen – häufig in der Stadt –, die sich dahin zurücksehnen; eine Geschichte, die nichts von der allgemeinen Ebene erzählt. Wikipedia beispielsweise funktioniert transpersonal. Zehntausende Menschen, die sich nicht kennen, machen dabei mit. Wenn mich jemand fragen würde, ob wir uns schon selbst versorgen, würde ich antworten: »Nein, das ist nicht meine Utopie.« 

AV  Ich denke nicht, dass es genau die eine Geschichte gibt oder geben sollte, genau die eine Utopie, die wir dann als strahlende Lösung präsentieren. Stattdessen sollten wir viele kleine Geschichten von ganz bestimmten Orten erzählen. Ich merke, dass mich die Frage nach der einen Utopie gar nicht mehr interessiert, sondern ich möchte Menschen, die nach konkreten Schritten suchen, praktische Antworten geben; ihnen von Lebensentwürfen erzählen, die in Richtung Krisenstabilität und Transformationsfähigkeit gehen.

LK  Krisenstabilität hat für mich viel mit Jäten zu tun: ganz egal, ob wir uns dadurch versorgen, bewahrt es uns vor dem Verrücktwerden. Ich glaube, dass es Menschen aus politischen Bewegungen, die ich oft an der Schwelle zum Durchdrehen erlebt habe, total gut täte, einfach zu jäten.

SS  Ja, es ist spannend, wie verschiedene Geschichten innerhalb der einen Geschichte jenseits von Markt und Staat existieren. Da gibt es kämpfende Commons, die in sozialen Bewegungen aktiv sind, und reproduktive Commons, die sich um die Versorgung kümmern. Ich sehe, dass diese Geschichten oft noch getrennt voneinander erzählt werden, und frage mich, wie wir sie mehr verweben können.

AM  Geschichten aus der Subsistenzperspektive haben gesellschaftliche Relevanz. Sie stehen in direktem Zusammenhang mit den großen Fragen nach Bodenerhalt oder Unabhängigkeit von Lohnarbeit und wirken wechselseitig aufeinander ein. Muster des Commoning kommen darin zum Tragen, wenn ich etwa dem Arbeitsmarkt meine Arbeitskraft teilweise entziehe, wenn ich etwas »ohne Zwänge beitrage« oder wenn wir »gemeinstimmig entscheiden«. Der Acker ist nichts ohne die Welt drumherum.

AV  Mich beschäftigt auch, wie wir Erzählungen vom Eingebettetsein und Beziehungen mit dem Acker mit Aspekten individueller Freiheit in Einklang bringen können. Aus einer queeren Perspektive auf Geschlechtergerechtigkeit braucht es dafür andere Beziehungsformen neben der traditionellen kleinbäuerlichen Familie. 

Zudem stellt sich aus einer Perspektive auf soziale Gerechtigkeit die Frage nach Subsistenzkulturen umfassender. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und empfand es als Befreiung, als junge Erwachsene in die Großstadt zu gehen, als erste in meiner Familie zu studieren, Theatervorstellungen zu besuchen und viel Neues zu lernen. In unserer Gesellschaft sind der Zugang zu universitärer Bildung und auch zu bestimmten musikalischen oder literarischen Kulturformen immer noch stark an die Herkunft geknüpft. In einer echten Subsistenzgesellschaft, wie vielleicht noch im ländlichen Indien des 20. Jahrhunderts, sind kulturelle Elemente wie Musik, Mythendramen, philosophische Beschäftigung und Tanz viel mehr mit der bäuerlichen Kultur verwoben. Ich empfinde es als große Herausforderung, Subsistenz nicht von der geistigen und kulturellen Ebene zu spalten. Wie wäre es möglich, dass nicht mehr die einen Menschen am Schreibtisch sitzen und ins Theater gehen, während die anderen in der Erde buddeln und für die materiellen Existenzgrundlagen ersterer sorgen? 

LK  Eigentlich wäre es doch schön, diese Diskussion beim Jäten führen zu können! Manchmal versuchen wir hier in der Fuchsmühlen-Gemeinschaft, die Gespräche, die sonst am Küchentisch stattfinden, in den Garten zu verlegen. Bestimmt verändert es Diskurse, wenn Menschen dabei ihre Finger in der Erde haben. Vielleicht wäre das ein Ansatz, um urbane und ländliche Kultur miteinander zu verweben?

AV  Bei meiner Reise nach Kuba vor einigen Jahren hat mich besonders beeindruckt, wie viele Tiere in den Städten leben. In dieser Postkollapsgesellschaft ist die Versorgung durch den staatlich geregelten Markt so mangelhaft, dass sich die Menschen größten-
teils durch Kleingärten versorgen, und es in urbanen Räumen einen Mix aus Hühnermist und Kulturangeboten gibt. Wird es durch das globale politische Nicht- oder Zu-Wenig-Handeln angesichts der Klimakrise nicht schlichtweg zu mehr Subsistenzsouveränität kommen müssen? Was tun Menschen, wenn die Lebensmittel knapp werden? Sie pflanzen Bohnen und halten Hühner im Hinterhof!

SS  Mit Klimakrise und ohne fossile Brennstoffe müssen wir sowieso viel mehr in der Landwirtschaft tätig sein. Aber die Klimakrise weist auch darauf hin, dass krasse ökologische Veränderungen auf uns zukommen werden, und dass globale Abhängigkeiten und Kooperationen deswegen total wichtig sind. 

AM  Unser Ackerfrauenprojekt ist gar nicht aus einer strategischen Überlegung heraus entstanden. Plötzlich war dieser Flecken Land da, und das Naheliegendste war, es gemeinsam zu bestellen. Für viele Menschen scheint es tatsächlich vernünftig zu sein, hier im Dorf zu schlafen und jeden Tag zur Arbeit in die Stadt zu pendeln, aber mir erscheint es viel sinnvoller, meine Kraft in meine direkte Umgebung zu stecken.

SS  In diesem gemeinsamen Tun in der unmittelbaren Umgebung steckt ja auch viel Kraft! Die Philosophin Eva von Redecker erzählte, wie sie in ihrem Dorf mit vielen AfD-Wählern wirklich ins Gespräch kam, als alle zusammen eine Brücke reparierten. Schlussendlich nehmen wir durch ein gemeinsames Tun, das uns gesellschaftlich handlungsfähig macht, viel mehr Menschen mit als durch das Spinnen von Theorien – auch wenn gute Praxis guter Theorie bedarf. 

LK  Danke für das inspirierende Gespräch! //


Simon Sutterlütti (30) schreibt und spricht zu den Themen Utopie sowie Transformation. Er ist Co-Autor von »Kapitalismus aufheben«, bloggt auf Keimform.de, ist aktiv im Commons-Institut, im Netzwerk Utopie sowie im Uni-Projekt »Gesellschaft nach dem Geld«. 


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