Titelthema

Erdfürsorge statt Klimastress

Ausgebrannte Leute auf einer ausgebrannten Planetin? – Die Subsistenzperspektive zeigt,
wie es anders geht.
von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #67/2022
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© privat

Ein junger Mensch rennt vor die Tür, raus aufs Feld, und brüllt. Überforderung, Wut, Verzweiflung über das drohende Scheitern – all das schreit er in die kühle Herbstluft. Er steckt in einer Mühle. Die beiden Mahlsteine, die ihn zu zerreiben drohen, heißen »alles ist zu viel« und »alles ist zu wenig«. Indem sich Marco mit einer Baumschule für Agroforstbäume im Sommer 2020 selbständig gemacht hat, wollte er mit sinnvoller Arbeit einen nicht unerheblichen Beitrag zur gemeinsamen Ökonomie seiner Gemeinschaft in Brandenburg leisten. Die Geschäftsidee: Landwirtinnen und Landwirte, die mit Baumfeldwirtschaft beginnen wollen, oder Kommunen, die essbare Parks schaffen wollen, mit klimaresilienten Bäumen beliefern und diese auch gleich pflanzen.

Marco und Co. nahmen einiges Geld in die Hand und kauften zahlreiche junge Esskastanienbäume aus Frankreich und Walnussbäume aus Ungarn. Erste Projekte bahnten sich an – aber nicht genug. Nach ein paar Monaten war klar: Das sind zu wenige. Etwas anderes wurde zu viel. Marco schlug sich mit Ämtern herum, erstellte Kalkulationen und musste ständig am Telefon erreichbar sein. Bald war er mehr mit seinen Kunden im Gespräch als mit den ihm nächsten Menschen seiner Gemeinschaft. Vor der Kundschaft musste er den kompetenten Alleskönner auf seinem Gebiet repräsentieren – gerade weil er Neuling war. Es war seltsam, in erster Linie in seiner Rolle als Unternehmer angesprochen zu werden. Nach ein paar Monaten war schlichtweg alles zu viel.

Nach dem Gebrüll kam die Scham. Marco wurde klar: Er hatte ein Held sein wollen – einer, der aus eigener Kraft Gutes tut, der gutes Geld nach Hause bringt. Jetzt stand alles auf der Kippe. Die ganze Arbeit, die ihn und seine Leute über Monate strapaziert und vom guten Leben entfernt hatte, drohte vergebens gewesen zu sein.

Ausbrennen im Klimanotstand

Immer wieder höre ich Geschichten von Druck und Stress, gerade auch in Projekten, die sich hautnah mit dem Klimanotstand auseinandersetzen. Leve, der sich mit dem Gedanken trägt, in meinem Dorf Klein Jasedow heimisch zu werden, und derzeit Lernbegleiter an der dortigen freien Schule ist, erzählte mir, wie er 2020 Teil einer Gruppe junger Leute war, die einen Hof nutzen konnte, um dort regenerative Landwirtschaft mit einem Schwerpunkt auf Agroforstsystemen zu betreiben. Nur drei von ihnen hatten landwirtschaftliche Erfahrung. Sie wussten, dass es wichtig ist, geeignete Wetterfenster für bestimmte Arbeiten zu nutzen und dann auch mal durchzuarbeiten. Heldenhaft schlugen sie sich teilweise die Nächte um die Ohren, um die Pflanz-arbeiten für den nächsten Tag vorzubereiten. Andere betonten, der Gruppenprozess sei mindestens ebenso wichtig wie die Landwirtschaft, und wenn eine Rederunde dran war, sollte man ihr Raum geben, das Bäumepflanzen könne doch warten. So kam es, dass diejenigen, welche die Arbeit voranbringen wollten, immer wieder fragten: »Wollt ihr wirklich hier sein? Dann geht aufs Feld und lasst das Reden! Landwirtschaft ist hart, gewöhnt euch daran!« Da war das Gefühl, dass angesichts der drohenden Dürren die Zeit dränge – das Projekt müsse schnell zum erfolgreichen, nachahmenswerten Vorbild werden. Die Gruppe ist am Konflikt zwischen Rede-runde und Arbeitseinsatz auseinander-gebrochen. Die Mahlsteine hießen »es ist alles zu viel«, viel zu viel Arbeit, und »es ist alles zu wenig«, viel zu wenig geschafft, viel zu wenig Zeit fürs Menschliche.

Die Mitglieder der Gruppe »Essen retten – Leben retten« schauen sich als Teil der Bewegung »Aufstand der letzten Generation« täglich die Mahlsteine, die unsere Lebensgrundlagen zerstören, an. Sie protestieren gegen das ungenügende Handeln der Politik angesichts des Klimanotstands. Ihre Forderungen sind, das Wegwerfen von Nahrung sofort per Gesetz zu verbieten sowie der sofortige Umstieg auf regenerative Landwirtschaft. Um ihrem Protest mehr Nachdruck zu verleihen, klebten sie ihre Hände teilweise auf der Autobahn fest. »Die Polizei musste die Hände vor der Räumung erst loslösen, was teilweise mit Skalpell erfolgte. Drei Personen kamen ins Krankenhaus«, heißt es in einer aktuellen Pressemitteilung. Mit einem der Initiatoren, Julian, führte ich für die letzte Ausgabe das Interview »Ich komme aus dem Zirkus«. Wie kann es gelingen, dass diese jungen Leute, die bereit sind, mit ihren Körpern massiv Widerstand zu leisten, nicht in kurzer Zeit als ausgebrannte Aktivistinnen und Aktivisten brüllend auf einem Feld stehen?

Marco weiß inzwischen, wie er weiteres Gebrüll vermeidet. Nach seiner Scham über den heldenhaften Ehrgeiz kam die Erschöpfung – und er war bereit, sich selbst zu verzeihen. Ihm wurde bewusst, dass die Ausbeutung seiner selbst und seiner Nächsten nirgendwohin führen würde, und auch, wie sehr er seine Unternehmung gerne fortsetzen will – aus einer anderen Haltung heraus. Nach der Einsicht kam das Lachen: »Ein Held! Was braucht die Welt denn Helden? Von denen hatten wir in 6000 Jahren Patriarchat doch mehr als genug!«

Im vergangenen März machte Marco sich mit seinen Leuten und einigen Mitgliedern der Klein Jasedower Lebensgemeinschaft auf zu einem mit Gras überbewachsenen Acker am Rand des Fuchsmoors unweit unseres vorpommerschen Dörfchens. Auf einem Anhänger lagerten Schätze: Junge Exemplare der an Trockenheit gewöhnten, südfranzösischen Esskastanien mit beeindruckend langen Wurzeln. Zwei Tage lang waren Zweierteams am Werk: setzten erst den Pflanzkorb, dann den Baum ins Loch, füllten mit Erde auf, wässerten, montierten den Verbiss-Schutz. Wir picknickten in der Sonne, erzählten uns Geschichten, und lernten viel über die neuen nährenden Ackerbewohnerinnen. Nach der Arbeit wurden wir aufs Feinste bekocht. Welch ein Luxus! Wir setzten unseren Acker nicht dem Stress aus, Mitarbeiter entlohnen zu müssen, denn er ist Teil einer gemeinsamen Ökonomie. Er ist kein klassisches Unternehmen, sondern eine Allmende.

Wir waren auf dem Acker – nicht auf Arbeit, sondern im mußevollen Tun. Mein Blick schweifte immer wieder zu den wilden Weiden und Birken am Rand des Fuchsmoors. Freuten sie sich auf die neuen Wesen auf dem Feld, deren Wurzelgeflechte sich bald mit den ihren verbinden würden? Indem wir hier pflanzten, begannen wir, dieses Stückchen Landschaft neu zu bewohnen, es war ein Akt der Beheimatung und Verwurzelung, auch für diejenigen, die von weiter her kamen.

Hinwenden zur Subsistenz

Regenerative Landwirtschaft – das ergibt erst Sinn im Kontext einer regenerativen Ökonomie, eines anderen Tuns und Haushaltens als jenem des kapitalistischen »Idiotenspiels« (Hartmut Rosa). Solange Menschen sich selbst ausbeuten, werden sie nicht anders können, als auch die Erde auszubeuten. Aber mit dieser Erkenntnis brauche ich Olaf Scholz nicht zu kommen. Ich kann nur versuchen, gemeinschaftlich Freiräume zu schaffen, in denen sich eine solche Ökonomie entfalten kann.

In ein paar Wochen wollen wir mit Marco und seinem Team die zweite Hälfte des Kastanienackers bepflanzen. Wir nehmen uns dafür fünf Tage Zeit, denn wir wollen nicht nur pflanzen, sondern auch gemeinsam nachdenken – über Subsistenz. »Die Subsistenzperspektive ist eine Perspektive der Fülle«, sagte die Sozialanthropologin und Oya-Rätin Veronika Bennholdt-Thomsen, als sie uns Ende Januar in Klein Jasedow besuchen kam. Beim Hören ihres Satzes blieb etwas in mir stehen. Es wurde ganz still. Vielleicht war es die Zuviel-Zuwenig-Mühle, die sich auch in mir im Trubel des Alltags immer wieder dreht.

Für die Lebewesen dieser Erde ist genügend Essen da – selbst für die zehn Milliarden Angehörigen der kochenden, gärtnernden Spezies Homo sapiens. Nur in dem absoluten Sonderfall, dass diese Spezies Herrschaftsstrukturen aufbaut, die Reichtum auf der einen und Armut auf der anderen Seite erzeugen, reicht es nicht. Nur im Rahmen solcher Sonderfälle sagt ein designierter Bundeskanzler zu zwei verzweifelten jungen Leuten der »letzten Generation« sinngemäß: »Zehn Milliarden Menschen kann nur eine durch und durch industrialisierte Welt ernähren!« – und schreitet damit auf der altbekannten Einbahnstraße der periodisch kollabierenden »Hochkulturen« fort.

Der »Normalfall« sieht freilich anders aus. So selbstverständlich, wie die Füchse im Fuchsmoor genügend Mäuse, Feldhasen, Brombeeren und Regenwürmer finden, so können auch Menschen als -Allesfresser Wege finden, ein wohlgenährtes Leben zu führen: Sie pflegnutzen die am bequemsten zu erreichenden Lebensquellen mit der gleichen Kunstfertigkeit, mit der die Hornissen ihr Nest in einer Ecke des Hochstands am Fuchsmoor fertigen. Ihr Menschenwerk erzeugt komplexe, arbeitsteilige Allmendegesellschaften, die so organisiert sind, dass die Lebensmittelherstellung nie zum stressigen Vollzeitjob wird, sondern dass mußevolles Tun das Selbstverständliche ist. Solange Menschen die Subsistenz-perspektive nicht verlassen, werden alle satt.

Der Jahrhunderte währende »Krieg gegen die Subsistenz«, der gegenwärtig im Klimanotstand gipfelt, wurde im Namen einer angeblichen Hochkultur geführt – brachte tatsächlich jedoch massiven Kulturverlust mit sich. Darüber werden wir bald mit Marco, Leve und hoffentlich auch Julian und einigen seiner Mitstreitenden nachdenken. Worum geht es heute? Nicht um etwas Höheres oder Tieferes, sondern um etwas Reiches: um die Selbstverständlichkeit der Fülle der wunderbaren Erde. //


Mehr zu Klima und Bäumen

letztegeneration.de

planetenpflege.de

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