Gemeinschaft

Gemeinsam und solidarisch den Widerstand leben

Um langfristig aktiv politischen Widerstand leisten zu können, teilen ein Dutzend
Menschen ihr Geld. Dieses sich ausbreitende Lebensmodell formt ein Netzwerk von
gemeinsamen Ökonomien.
von Fritz Popp, erschienen in Ausgabe #67/2022
Photo
© Fritz Popp

Lützerath im Rheinland (siehe Oya 66), mitten im Winter. Ein kalter Sturm zieht über die weiten Braunkohlegruben, in denen die größten Maschinen der Welt Tag um Tag den Grund durchwühlen. Sie wühlen nach dieser feuchten, faserigen braunen Erde, welche so wichtig zu sein scheint, dass dafür öde Mondlandschaften geschaffen und die eigentlich nicht zu überhörenden Warnungen vor den katastrophalen Auswirkungen ihrer Verbrennung überhört werden. 

Der altmodisch anmutende Caravan mit Plastikschränkchen, in dem ich wohne, wackelt wie ein landendes Flugzeug, so stark ist der Sturm.  Etwa hundert Menschen harren hier in Lützerath aus, mitten im Winter. Die Geschichte von einigen von ihnen möchte ich hier erzählen.

Solidarische Bezugsgruppe 

Wir kämpfen. Ja, wir kämpfen gegen ausbeuterische kapitalistische Wirtschaftsformen, gegen die Klimakrise und rassistische Strukturen, gegen Diskriminierungen und Kohlegruben. Aber gegen etwas zu kämpfen heißt auch immer, für etwas zu leben. Wir leben für eine Gesellschaft, welche nach Bedürfnissen und Fähigkeiten gestaltet wird, in welcher wir frei sind von strukturellen Zwängen. Zwänge, wie zum Beispiel die eigene Arbeitskraft auf dem Markt zu verkaufen oder wegen der eigenen Hautfarbe weniger Chancen auf das Mieten einer Wohnung zu haben. 

Darum gründeten einige Menschen, die jetzt hier leben, vor einigen Jahren eine »Bezugsgruppe fürs Leben«. Wir unterstützen uns in Lebensentscheidungen und deren Umsetzung, teilen unsere finanziellen sowie nicht-finanziellen Ressourcen und führen einen regen Austausch über politische Strategien oder unsere aktuelle Praxis. Dadurch, dass wir nicht immer alle Geld verdienen müssen, möchten wir Bedingungen schaffen, die es ermöglichen, uns langfristig für ein gutes Leben für alle einzusetzen.

Wir, das bedeutet in unserem Fall eine Gruppe von zwölf Menschen, die recht jung und von vielen Unterdrückungs-mechanismen eher positiv betroffen sind. Einmal im Jahr feiern wir zum Gründungs-jubiläum der gemeinsamen Ökonomie das Fest der Fülle, dieses Jahr  schon zm vierten Mal. Wir leben verstreut in verschiedenen Städten und stecken in verschiedenen Projekten, Lohnarbeits- oder Studienzusammenhängen. Aber eigentlich möchte ich hier lieber von unserem Konzept berichten.

Keimform einer Utopie

Ich denke, dass wir viele Formen der Kollektivierung und Vergesellschaftung brauchen. In unserem Fall verbinden wir zwei wichtige Modelle: die Keimform und das Werkzeug. Aber was genau soll das sein?

Unter Keimform verstehen wir, samenhaft – eben wie ein Keim – etwas zu leben, das zumindest Aspekte unserer Utopie bereits vorwegnimmt. Wir ermöglichen uns und anderen die Erfahrung, dass wir verinnerlichte Logiken aufbrechen und andere Realitäten erschaffen können. Damit meine ich zum Beispiel, dass wir uns durch unsere gemeinsame Ökonomie in einem anderen Beziehung zu Geld üben. Unabhängig von erbrachten Leistungen werden hierbei alle nach ihren jeweiligen Bedürfnissen versorgt.
   Diese und viele andere Dinge mögen zwar sehr klein und partikulär erscheinen, sie können aber möglicherweise im Zuge einer größeren Gesellschaftsveränderung verallgemeinert werden und mehr Möglichkeiten gesellschaftlicher Entwicklung eröffnen. Dabei ist nicht alles perfekt  – aber wir schreiten fragend voran, und ich bin überzeugt, dass wir mehr solcher Strukturen brauchen.  

Viele Menschen praktizieren kleine gemeinsame Formen des Wirtschaftens, etwa in der Küche der Wohngemeinschaft, innerhalb einer Ehe oder sogar in größeren intentionalen Gemeinschaften. Das Besondere an unserem Konzept der »solidarischen Bezugsgruppe fürs Leben« ist, dass wir keinen gemeinsamen Wohnort teilen, sondern verstreut leben. Uns vereint also nicht ein räumlich gebundenes Projekt, sondern die große Idee einer anderen, freieren Gesellschaft. 

Um dieser Vision näherzukommen, kämpfen und lernen wir, verbünden und vernetzen wir uns an verschiedenen Stellen. Trotzdem wirtschaften wir gemeinsam. 

Austausch im Netzwerk

Weil es zur Grundidee einer Keimform auch gehört, dass sie wächst, gibt es das »Solidarnetz«, einen Zusammenschluss gemeinsamer Ökonomien, die ähnlich wie unsere funktionieren. Was könnte alles noch möglich sein, wenn dieses Netzwerk immer weiter wüchse und irgendwann vielleicht nicht nur unsere alltägliche Ökonomie, sondern auch unser Vermögen geteilt würde! Konkret organisieren sich im Solidarnetz derzeit zehn Gruppen, welche an unterschiedlichen Punkten der Kollektivierung stehen. Das Netzwerk fungiert dabei vor allem als ein Raum des Austauschs, des Wissenstransfers und der Diskussion politischer Strategien. In diesem Jahr haben wir uns nach langen Vorbereitungen erstmals mit etwa 60 Menschen getroffen; das nächste Treffen ist bereits in Planung.

Die andere Kernfunktion, welche ich in unseren Gruppen sehe, ist die eines Werkzeugs. Wir verfolgen keinen Selbstzweck, sondern wollen etwas gegen die Ungerechtigkeit in der Welt tun. Zum Beispiel habe ich das Privileg, dass ich in dem Land, in dem ich lebe, von der Polizei schlimmstenfalls verprügelt werde, wenn ich mich auf einen Bagger setze. Ich kenne einen Menschen in Kolumbien, der das nicht wagen würde, denn sein Freund wurde deshalb erschossen. Ein befreundeter Anwalt aus Ägypten wurde sieben Stunden von der Polizei verhört, als er nach Italien fliegen wollte, wo er geflüchtete Menschen vor Gericht vertritt. Was kann ich also mit meinen Privilegien tun, um diese Welt ein Stück weit besser zu machen? Und wie kann ich damit auf eine Art umgehen, die nicht eine weiße Überheblichkeit reproduziert, welche mir von klein auf eingetrichtert wurde: Nämlich schon zu wissen, was das Beste für andere ist?

Rahmenbedingungen verändern

Ich glaube nicht, dass wir allein die Welt verbessern können, dass nur die »Richtigen« an die Macht kommen oder die richtigen Konsumentscheidungen getroffen werden müssten. Um strukturelle Bedingungen zu ändern, müssen wir uns vielmehr zusammenschließen.

Kapitalistische Strukturen formen die Art, wie wir über Gaben, Tätigsein und Eigentum denken. Patriarchale und rassistische Strukturen lassen uns Menschen in Gruppen einteilen, von denen die einen als prinzipiell wertvoller oder handlungsmächtiger als andere wahrgenommen werden. Diese Strukturen formen uns individuell und gesellschaftlich. Es nützt also nichts, nur an einem Ende dieser Fahnenstange zu beginnen – wir müssen an beiden Enden ansetzen: bei unseren eigenen Handlungen und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.
In Lützerath finde ich in diesen winterlichen Monaten Ruhe. Die Räumung scheint noch fern, auch wenn sie bei Erscheinen dieses Artikels vielleicht schon vorbei sein  – oder gar nicht mehr passieren wird. Wir bauen viel an warmen Orten, spannen Planen, um uns gegen den Regen zu wappnen, machen Feuer und Musik oder bilden uns weiter. Ich finde Ruhe, weil ich weiß: Ich setze all das, was ich habe – auch die mir zugefallenen Privilegien –, sinnvoll ein, so dass mein Tun wirklich etwas bewegt. Das fühlt sich gut an und es erfüllt mich. 

In dem wackelnden Caravan lege ich die Füße hoch und zünde eine Kerze an. Da umfasst mich Dankbarkeit für eine Gruppe, die sich um mich sorgt und mit der ich Ziele teile. Mit der ich verschiedene Strategien ausprobiere und fragend voranschreite.  Mit der ich das Feuer für eine Revolution unserer Lebensbedingungen schüren, pflegen und füttern – und hoffentlich auch einige Funken davon weitergeben kann! //



Fritz Popp (24) hat gerade sein Studium der Geographie abgeschlossen und streitet schon seit mehreren Jahren in der Klimagerechtigkeitsbewegung für eine Welt, in der viele Welten Platz haben. Er beschäftigt sich besonders mit Intersektionalität (der verschränkten Wirkung verschiedener Diskriminierungsformen), Antikapitalismus sowie der tödlichen europäischen Migrationspolitik.


weitere Artikel aus Ausgabe #67

von Ute Scheub

Das emphatische Gen

Der Titel des neuen Buchs von Bestseller-autor Joachim Bauer hat mich im ersten Moment irritiert: »Das empathische Gen« – denn der renommierte Arzt, Psychotherapeut, Gen- und Hirnforscher hat selbst in einem früheren Buch darauf hingewiesen, dass Gene kein Eigenleben haben.

Photo
von Claus Biegert

Pflanzen vor Gericht

Als ich aufwuchs, war die Welt um mich herum beseelt: Das Leben in einem Grasbüschel faszinierte mich. Als ich aufwuchs, hörte ich Geschichten, die ich nicht glauben wollte: Atombombentests seien doch bloß Tests. Als ich aufwuchs, ging ich, wenn niemand es bemerkte, nachts auf den

Photo

Unsichtbare Pflanzenstärkung

Es hat ziemlich lange gedauert, bis sich die wissenschaftliche Forschung vermehrt mit dem beschäftigt hat, was wir in Wald und auf Wiesen mit Füßen treten: dem Boden. Es ist natürlich nicht einfach, dort hineinzuschauen. Gräbt man im Boden, kommt sofort einiges

Ausgabe #67
Von Kühen und anderen Verwandten

Cover OYA-Ausgabe 67
Neuigkeiten aus der Redaktion