Alessa Rhode, Bestatterin in freier Ausbildung, begleitet selbstbestimmte Trauerprozesse in Berlin.von Lola Franke, erschienen in Ausgabe #67/2022
Sechs Paar Hände umfassen das helle, schwere Holz. Sechs Paar Füße versuchen, einen gemeinsamen Rhythmus zu finden, stolpern, finden wieder in den Takt. Bunte Haare flattern im Wind. Menschen halten sich in den Armen. Der Weg ist mit prachtvollen Blumensträußen gesäumt. Langsam kommen die Sargtragenden am Grab an und stellen den Sarg auf den Bohlen über dem tiefen Erdloch ab. Sie halten die Seile auf Spannung, die Bohlen werden entfernt, und nun liegt das gesamte Gewicht in den Händen der Tragenden. Eigentlich sollte jetzt das Signal zum Absenken kommen, doch etwas ist im Ablauf schief gegangen. Das Lied, welches das Ablassen des Sargs ankündigen sollte, beginnt nicht; die Bohlen wurden zu früh entfernt. Die Sekunden fühlen sich an wie Minuten, während die sechs Menschen sich stumm dabei anfeuern, noch ein bisschen länger durchzuhalten und nicht nachzulassen. Weitere Minuten verstreichen, und erste Schweißperlen bilden sich auf Nacken und Stirn einer jungen Frau mit kurzen braunen Locken. Ihre Arme beginnen zu zittern, die Anstrengung steht ihr ins Gesicht geschrieben, aber noch immer warten alle auf das Zeichen, um endlich die schwere Last von den Schultern geben zu können. Dann werden die ersten Töne abgespielt.
Die Verstorbene war Feministin, eine unabhängige Frau. Nicht von Männern abhängig zu sein, nicht von ihnen getragen zu werden – das war ihr im Leben und auch für ihren letzten Weg wichtig. Daher stehen in diesem Moment über ihrem Grab Seite an Seite und mit Seilen in den Händen keine Männer. Die schwitzende junge Frau ist Alessa Rhode, und in jenem Moment, in dem das Gewicht des schweren Holzsargs auf ihren Armen lastete, ihr das Herz bis zum Hals pochte und sie spürte, wie wichtig es sei, jetzt nicht nachzulassen, da wusste sie, dass sie Bestatterin werden wolle. Später sagte der Friedhofswärter bewundernd, er habe noch nie ein Team den Sarg so lange halten sehen.
Alessa hat viele solcher Geschichten zu erzählen, denn sie ist Sterbebegleiterin, hat Friedens- und Konfliktforschung studiert und lernt nun den Beruf der Bestatterin. Die 32-Jährige wuchs in Freiburg auf. Zu ihrer Herkunftsfamilie sagt sie: »Ich hatte immer das Gefühl, mit meiner Kindheit und Familie reich beschenkt worden zu sein. Die Frage, was ich zurückgeben kann, hat mich auch bei meinen beruflichen Entscheidungen beeinflusst.«
Ihre Ausbildung macht sie bei »Thanatos-Bestattungen« in Berlin-Neukölln. Für queere Menschen in Berlin ist diese Anlaufstelle ein besonderer Ort, der es ihnen ermöglicht, als die beerdigt zu werden, als die sie gelebt haben. Alessa bezeichnet sich selbst wie auch einen Teil ihres Kollegiums als queer; mit ihrer Arbeitsweise möchte sie sich auch an andere marginalisiserte Menschen richten. »Ich begleite die Menschen, die zu uns kommen, und trage zu einem selbstbestimmten Bestattungsprozess bei. Wenn dabei Queersein eine Rolle spielt, dann gehe ich darauf ein. Es können aber auch ganz andere Aspekte sein, zum Beispiel wenn die Person Rassismus erfahren hat, die Familie zerstritten ist oder die Verstorbene suchtkrank war.« Selbst mit der Lebensrealität und den besonderen Bedürfnissen queerer Menschen verbunden zu sein, macht es leichter, auf diese Bedürfnisse auch im Trauerfall einzugehen. Einen Trauerprozess so zu gestalten, dass Menschen sich nicht erklären müssen, gehört für Alessa zu den wertvollsten Aspekten ihrer Arbeit. Aber wie kommt ein junger Mensch, der mitten im Leben steht und sich beruflich mit queeren Identitäten, Politikwissenschaften und Friedens- und Konfliktarbeit beschäftigt, dazu, Bestattungsarbeit zu leisten?
Den Tod vor Augen
In Alessas Fall entstand einer der ersten Kontakte zu dem Berufsfeld über ein Portrait in Ausgabe 23 von Oya. Darin berichtete die Bestatterin Gabriele Steinborn von ihrem Weg zum Umgang mit Sterben und Tod. Dieser Beruf, der bis dahin auch in Alessas Kopf mit alten Männern in schwarzen Anzügen verbunden war, bekam für sie durch die Sichtweise der Bestatterin einen vollkommen neuen Anstrich. Die Anbindung der Trauerarbeit an eine uralte matriarchale Praxis der Fürsorge für Tote und Sterbende erschien Alessa sinnvoll. Als dann 2016 ein guter Freund von ihr plötzlich verstarb, schien ihr der Boden wie unter den Füßen weggezogen; zugleich kamen wesentliche Fragen auf: »Wohin geht es in meinem eigenen Leben? Was ist der Sinn des Lebens? Was passiert nach dem Sterben?«
Dieser erste Todesfall in ihrem nahen Umfeld führte dazu, dass sie die Weichen ihrer Lern- und Arbeitswege neu stellte und sich auch in ihrem Studium der Friedens- und Konfliktforschung am Innsbrucker Unesco-Lehrstuhl für Friedensstudien immer mehr mit dem Tod auseinandersetzte. Während einer sogenannten »Armee-Woche« wurden Alessa und die anderen Studierenden ihres Jahrgangs eine Woche lang gemeinsam mit Soldaten und Soldatinnen des österreichischen Bundesheeres nach draußen geschickt, um Krisenszenarien nachzuempfinden, um unter Druck schnelle Entscheidungen treffen zu lernen, sowie um emotional und physisch an »vorderster Front« zu stehen und dabei einen kühlen Kopf zu bewahren. Während dieser Woche voll Schlafentzug, zerkauten Lippen und dem ständigen Gefühl, nie in der eigenen Wachsamkeit nachlassen zu dürfen, wurde Alessa eines bewusst: »Ich bin keine Person, die inmitten von aktuellen und brennenden Konflikten arbeitet. Dennoch habe ich keine Angst vor Tiefe, und in einem emotional geschützten Rahmen bin ich gerne gestaltend dabei.«
Diese Erkenntnis wurde zu einem wichtigen Puzzlestück auf der Suche nach dem Ort für ihr eigenes Wirken in der Welt. Alessa schrieb ihre Masterarbeit über die Bedeutung von Mythen und Märchen rund um den Tod. Schon seit Jahrhunderten erzählen sich Menschen Geschichten und Parabeln über das Sterben, die nichts mit der heutigen Kommerzialisierung und Professionalisierung in der Bestattungsarbeit zu tun haben. Je tiefer sie sich in das Thema einarbeitete, desto deutlicher wurde ihr, dass die politischen Dimensionen des Sterbens untrennbar mit der Friedens- und Konfliktarbeit verbunden sind. Sie sagt dazu: »Zu einem guten Leben gehört, dass wir uns streiten können und gemeinsam einen Rahmen für Konflikttransformation schaffen – und genau das tue ich jetzt in der Trauer- und Bestattungsarbeit.«
Nach ihrem Studium und einer anschließenden Ausbildung zur Sterbe-begleiterin in einem Hospiz begann Alessa, zunächst als Bildungsreferentin bei einem Träger für internationale Freiwilligendienste und als Gemeinschaftsgestalterin bei einem freien Schulverband zu arbeiten. Ihr Herz schlug jedoch für ein anderes Thema, und so verfasste sie eine E-Mail an Thanatos, um sich für ein Praktikum zu bewerben. Ihr heutiger Chef, der derartige Anfragen meistens ablehnt, war so begeistert von Alessas mitgeschickter Masterarbeit, dass er sie gleich für den folgenden Tag zu einer Abschiednahme einlud. So wuchs Alessa aus einem einfachen, persönlichen Weg in die Arbeit hinein.
Seither befindet sie sich in der freien Ausbildung zur Bestatterin. Das ist möglich, weil die Berufsbezeichnung in Deutschland nicht geschützt ist. Manchen ist der freie Bildungsweg, den Alessa und andere eingeschlagen haben, ein Dorn im Auge. Doch auch jenseits von institutionalisierten Ausbildungen lassen sich Grundsätze für Bestattungspraktiken festlegen; dafür steht zum Beispiel das »Bestatter-Innen-Netzwerk«. Aber welche Qualität soll eigentlich gesichert werden? »Es gibt ganz unterschiedliche Auffassungen darüber, was eine gute Bestattungs-arbeit ausmacht«, sagt Alessa. »Ich wünsche mir, dass Zugehörige möglichst nah an ihren Verstorbenen sein können, so dass wir als ›Professionelle‹ fast überflüssig werden. Ziel unserer Arbeit sollte es sein, Menschen zu befähigen, selbst mit dem Tod umzugehen und keine Expert:innen mehr zu brauchen. Viele Standards in der gängigen Bestattungsarbeit sind für mich nicht pietätsvoll. Ich verstehe zum Beispiel nicht, warum Mund und Augen der Verstorbenen immer geschlossen und zur Not sogar zugenäht werden, wenn sie sich natürlicherweise öffnen würden. Das halte ich nur in sehr wenigen Fällen für angemessen – es ist aber gängige Praxis.«
Alle sterben anders
Alessa und andere Mitarbeitende bei Thanatos fühlen sich vielmehr den Menschen verpflichtet, denen sie einen sicheren Rahmen für das Erleben eines guten Abschiedsprozesses bieten wollen. Das bedeutet für sie, immer wieder auch Aushandlungsprozesse mit Friedhofsmitarbeitenden einzugehen, um es beispielsweise zu ermöglichen, dass Zugehörige selbst die Urne zum Grab tragen dürfen. Alessa erklärt: »Der Ausdruck ›Zugehörige‹ schließt auch die Menschen, die nicht auf gesetzlich anerkannte Weise zum Umfeld einer verstorbenen Person gehören, gleichermaßen ein. Bruder und beste Freundin sind beide Zugehörige, Angehöriger ist aber nur der Bruder. Da die Pflicht zur Totenfürsorge im Gewohnheitsrecht an die Angehörigen geht, ist es schön, ein Wort zu haben, das den Kreis öffnet und auch die Realität von Wahlverwandtschaften und anderen Beziehungsgeflechten abbildet.«
Erfahrungen im Rahmen ihrer Arbeit tragen dazu bei, gewohnte Vorstellungen von Sterben und Tod zu hinterfragen. So erzählte mir Alessa in unserem Telefonat von einer Person, die in ihren Fetischklamotten aufgebahrt und beerdigt wurde, oder von einem Friedhof in Berlin-Schöneberg, auf dem ein Denkmal für die unzähligen nicht-binären Menschen errichtet wurde, die in unserer Gesellschaft unsichtbar gemacht werden. Ich hörte ihr zu, während sie von zwei Transmenschen erzählte, die sich letztes Jahr das Leben genommen hatten und von Thanatos-Mitarbeitenden bestattet wurden. Eine dieser Bestattungen fand erst am Abend vor unserem Gespräch statt: Ein Mensch Anfang 20 lag in seinem Sarg mitten in einem großen hellen Raum; um ihn herum saßen befreundete Menschen und Familienangehörige auf Stühlen. Sie erzählten Geschichten von den Qualitäten, Fähigkeiten der geliebten Person und besonderen Erinnerungen, die sie mit ihr geteilt haben. Fotos der Verstorbenen hingen an den Wänden, es lief Musik, die sie viel gehört hatte. Irgendwann, so sagte Alessa, vergaß sie, dass der Sarg überhaupt mit im Raum stand; sie vergaß, dass der junge Mensch, der hier gefeiert wurde, nicht mehr lebte, denn für einen Moment fühlte es sich so an, als stünde die Person mitten zwischen ihnen, wie eine gute Freundin. Dann verflog die Täuschung, und für Alessa schlich sich die Realität dieses Todes zurück in den Saal. In solchen Momenten muss sie immer wieder an das alte Sprichwort denken: »Der Tod ist ein Skandal.« Denn auch, wenn sie sich in solch existenziellen Augenblicken, in denen Menschen zusammenrücken und tiefe, echte Emotionen teilen, so lebendig wie selten fühlt, gibt es an manchen Schicksalen nichts schönzureden. Der Tod von jungen Menschen oder Suizide von geflüchteten oder queeren Personen tragen dazu bei, dass Alessas Arbeit eine politische Dimension erhält. Mit ihrer Offenheit kreiert sie Schutzräume zum Beispiel für Transpersonen, deren Gräber immer wieder geschändet werden. Queerfeindlichkeit und Hassverbrechen gegen queere Personen sind Realität.
Alessa hat sich schon häufig die Frage gestellt, ob es so etwas wie queere Trauer gibt. Könnten in der Bestattungsarbeit nicht auch neue Rituale, Gedenktage und queere Menschen, die vor uns kamen, eine Rolle spielen? Sie erklärt: »Ich begreife queere Menschen, die vor mir gelebt haben, als meine Ahn:innen – zum Beispiel diejenigen, die vor mir für das, was mir wichtig ist, eingetreten sind. Ich erlebe, dass so etwas für viele queere Menschen wichtig ist, weil sie wenig Rückhalt durch ihre Herkunftsfamilien erhalten. Zu spüren, dass diese Ahn:innen mein spiritueller Rückhalt, meine Kraftressource, mein Schutzschild sein können, eröffnet mir Möglichkeiten, mich jenseits von Bluts-verwandtschaft verbunden fühlen.«
Wenn Alessa nach Hause kommt, ihre Arbeitskleidung ablegt, unter die Dusche steigt und die Geschehnisse des Tages Revue passieren lässt, gehen ihr die Lebensläufe, Geschichten und Menschen, denen sie begegnete, durch den Kopf. Die vielen intimen Details, das Lachen, die Tränen, all die intensiven Erlebnisse machen ihre Ausbildung zu einem sehr ungewöhnlichen Berufsweg. Dazu gibt es auch die andere Seite ihres Alltags: die intensiven Gerüche nach Verwesung, den Ekel, die tägliche Nähe zu erschreckenden Lebensschicksalen. All das ist nach Feierabend nicht vorbei. Alessa gewöhnt sich aber immer mehr an diese Herausforderung. Wenn sie aus der Dusche kommt, sich abtrocknet und den Arbeitstag zusammen mit dem Duschwasser in den Abfluss verabschiedet, denkt sie an das, was ihr Halt im Leben gibt – auch an die Menschen, die jetzt ein offenes Ohr für sie hätten. -Bestatterin zu sein, ist kein »Job«, den mensch zehn Stunden am Tag und wie am Fließband durchführen kann. Es ist ein dichter Beruf, für die, die ihn von Herzen machen.
Wenn Alessa das Bad verlässt, ist das kleine Ritual abgeschlossen. Sie ist wieder bei sich angekommen. //