Bei Wanderungen geht die »Fachstelle für Radikalisierungsprävention und Engagement im Naturschutz« dem Wald als Symbol für nationalistische und völkische Ideen auf den Grund.von Jannis Pfendtner, erschienen in Ausgabe #67/2022
Es war ein Samstagmorgen im Herbst 2021, und die Bäume am Waldrand waren längst in bunte Farben getaucht. Kühler Wind zog durch die Äste und ließ das eine oder andere Blatt nach einem heißen Sommer nun langsam zu Boden segeln. Dort unter der großen Buche stand eine Gruppe von Menschen, die gerade verschiedene Gegenstände gesammelt hatten – einen Grashalm, ein Stück Moos, einen Kiefernzapfen oder ein Eichenblatt. Gemeinsam überlegten sie, wie lange es diese Dinge wohl schon auf der Erde geben könnte. Vorbeigehende und Hunde schauten interessiert. Die Gruppe traf sich zu einer Waldwanderung mit dem Titel »Mythos Deutscher Wald«.
So oder ähnlich starten gerade viele meiner Wanderungen – sei es, wie hier, in den Kiefernwäldern am Rand Berlins, im hessischen Mittelgebirge des Westerwalds oder auch in den Mischwäldern am bayrischen Fuß der Alpen. Dorthin reise ich als Referent der »Fachstelle für Radikalisierungsprävention und Engagement im Naturschutz«, kurz FARN, mit Sitz in Berlin. Die Fachstelle wurde 2017 von den »NaturFreunden Deutschlands« und der »Naturfreundejugend Deutschlands« gegründet, um die Verknüpfungen des historischen und aktuellen Rechtsextremismus mit Themen der Ökologie, des Landlebens und des Naturschutzes zu untersuchen.
Schon als Kind und Jugendlicher war ich begeistert davon, im Wald zu spielen, zu übernachten oder am Lagerfeuer zu sitzen. Nach einem Freiwilligendienst erkannte ich, wie schnell die Ökosysteme der Erde verschwinden, und entschied mich für ein Studium der Forstwirtschaft und des Naturschutzes. Mit der Zeit merkte ich, dass auch viele Menschen mit rechten, menschenfeindlichen Haltungen in diesen Bereichen unterwegs sind – was mich anfangs sehr verwunderte. Über ein Trainingsprogramm bei FARN lernte ich, dass es rechte Traditionen im Naturschutz in Deutschland schon von Beginn an gab. In Zusammenarbeit mit anderen Mitarbeitenden von FARN entwickelte ich den Workshop »Mythos Deutscher Wald«. Heute werde ich in Wälder in der ganzen Republik eingeladen, um den Interessierten einerseits den Wald und seine Geschichte näherzubringen, und andererseits ihre Wahrnehmung darauf zu richten, wie Rechtsextreme - etwa Neonazis oder rechtspopulistische Parteien - mit auf den ersten Blick sympathischen oder nur schwer zu durchschauenden Botschaften versuchen, die Beliebtheit des Waldes auszunutzen, um ihre menschenverachtenden Ideologien zu verbreiten. Der Wald als romantisches Konstrukt wurde und wird als Grundlage für diskriminierende und ausgrenzende Weltsichten verwendet.
Vereinnahmte Wälder
Während der Wanderung in den Brandenburger Wald erzählte ich auch, wie alt Wälder überhaupt sind: bis zu 270 Millionen Jahre! Wir fragten uns, wie der Wald zum Beispiel in der Zeit der keltischen und germanischen Menschen ausgesehen haben könnte. Wie nutzten und lebten die Menschen in und mit dem Wald? Dies ist relevant, weil viele deutsch-nationalistische Erzählungen sich auf das Bild der »starken Germanen« aus dem Wald stützen: Der römische Autor Tacitus beschrieb im Jahr 98 nach Beginn unserer Zeitrechnung das germanische Gebiet als »durch seine Wälder unheimlich, durch die Sümpfe abstoßend«, geprägt von »rauem Klima und der Kärglichkeit des Bodens«. Ein Hauptthema seines Werks war der vernichtende Sieg der germanischen Leute im Jahr 9 nach Beginn unserer Zeitrechnung über das römische Heer in der Varusschlacht. Tacitus deutete dabei an, dass die Wildheit und Härte des Lebens in den kalten Wäldern und Sümpfen den germanischen Menschen eine besondere Stärke im Kampf verliehen haben könnte. Sein Text wurde im 15. Jahrhundert wiederentdeckt und begeisterte seitdem diejenigen, die auf der Suche nach einem Gründungsmythos für eine deutsche Nation waren.
An unserem nächsten Halt zeigte ich einige Kopien von historischen Landschaftsgemälden. Dort lernten die Teilnehmenden, wie übermäßige Tierhaltung im Wald, zunehmender Brennstoffbedarf rund um wachsende Städte, Materialbedarf für Schiffs- und Minenbau sowie viele andere Aktivitäten Stück für Stück den Wald weichen ließen. Besonders interessant ist dabei, dass in der Zeit des größten Waldschwunds, vor etwa 300 Jahren, die Waldbegeisterung der Menschen zunahm. Das sächsische Aufforstungsprogramm des in der Forstwirtschaft bis heute berühmten Hans Carl von Carlowitz entstand aus purer Holznot, wurde aber begründet mit der Rückbesinnung auf den »Germanischen Wald« zu Tacitus’ Zeiten.
Dazu kam im 19. Jahrhundert ein wachsender Nationalismus: Mit der kurzen, aber über weite Teile Europas reichenden Herrschaft Napoleons wuchs als Gegenreaktion die Begeisterung für ein unabhängiges deutsches Reich. Die alte Geschichte vom Sieg der germanischen Leute wurde nun wiederbelebt. Der romantische Dichter Joseph von Eichendorff jubelte 1814 nach dem Rückzug der Franzosen: »Auf freien Bergen darf der Deutsche hausen / Und seine Wälder nennt er wieder sein.«
In zeitgenössischen Bildern wurde dargestellt, wie die Angehörigen des an den Kämpfen gegen Napoleon beteiligten Lützower Freikorps, von dessen Uniformen auch die deutschen Nationalfarben hergeleitet werden, geschützt unter einer knorrigen, starken Eiche gemeinsam berieten und die Kraft zum Kampf sammelten. Der Wald und speziell die Eiche waren in der deutsch-nationalen Erzählung zum Symbol des »deutschen Charakters« und der »deutschen Stärke« geworden.
Auch die akademische Forschung im 19. und frühen 20. Jahrhundert verknüpfte sich zum Teil mit nationalistischen und sogar mit antisemitischen Thesen. Der Geschichtsprofessor Ernst Moritz Arndt setzte den Wald, den er als den Beleg für eine verwurzelte, nordische Identität sah, ins Zentrum seiner Schriften. Der Soziologe Werner Sombart wertete Jüdinnen und Juden als »Wandervolk« ab, das aufgrund seiner vermeintlichen Herkunft aus öden Sandebenen keine tiefe Verwurzelung mit einer Region erleben könne. Die Wissenschaft, die häufig antisemitisch argumentierte oder Kategorien für rassistische Ideologien bereitstellte, darf nicht aus der Pflicht genommen werden. Auf solchen Argumentationen konnten die Nationalsozialisten aufbauen und das Narrativ des »deutschen Walds« als mächtige Projektionsfläche für sich nutzen: »als Gegenbild zu Fortschritt und Großstadt, als germanischer Ursprung und deutsche Heimat, als heidnisches Heiligtum und rassischer Kraftquell sowie als Vorbild sozialer Ordnung und Erzieher zur Gemeinschaft«, wie der Historiker Johannes Zechner schreibt.
Welche Geschichte erzähle ich?
Bei der Wanderung blieben wir immer wieder stehen, um aufkommende Gedanken zu teilen. Weite Teile des Weges liefen wir in Kleingruppen. Das Thema unseres Spaziergangs war dabei immer um uns: Wir erlebten den Wald, spürten ihn, rochen und fühlten ihn, während wir auf eine Zeitreise durch die Geschichte des Walds und der Menschen gingen. So blieb auch der Wald als Ökosystem um uns: Seine Pflanzen, seine Tiere, das örtliche Wetter und die Einflüsse der Jahreszeiten spürten wir, während wir uns draußen bewegten. Mir ist es wichtig, dass Menschen sich ihre persönliche Bindung zum Wald und ihr ökologisches Wissen um die Bedeutung von Bäumen nicht von rechten Vorstellungswelten nehmen lassen. Die riesige Bedeutung, die Wäldern in unseren Breitengraden in der Zwillingskrise von Klimawandel und dem Verlust der biologischen Vielfalt zukommt, kann man kaum übertreiben. Für viele hat der Wald darüber hinaus eine ganz persönliche Bedeutung. Dass er aber nicht als Symbol eines dumpfen Nationalismus taugt – diese Einsicht teilen wir auf unseren Wanderungen. //
Jannis Pfendtner (29) ist genauso gerne in Wald und Feld wie unter Menschen. Neben seinem Engagement bei der Naturfreundejugend war er erst bei »Aufstehen gegen Rassismus« aktiv, und engagiert sich heute in der Bildungsarbeit bei FARN. Twitter: @j_pfen