Grassoden, Leder, Palmblätter, Sand, Wolle, Pflanzensäfte und -fasern, Bruchsteine, Rinde, Joghurt, Schnee – und natürlich immer wieder Lehm und Holz. Diese und viele weitere lokal verfügbare Stoffe haben Menschen vor der Industrialisierung und Globalisierung für den Bau ihrer Behausungen verwendet. 30 internationale Expertinnen und Experten zeigen in dem von Christian Schittich im Baseler Birkhäuser-Verlag herausgegebenen Band »Traditionelle Bauweisen – Ein Atlas zum Wohnen auf fünf Kontinenten« die faszinierende Vielfalt »vernakulärer« Bautechniken. Durch die 384 großformatigen, mit zahlreichen (oft historischen) Fotos, Grundrissen und Konstruktionszeichnungen ausgestatteten Seiten dieses Atlanten zu blättern, ist tatsächlich eine Art Weltreise zu immer neuen fernen Orten. Die kenntnisreichen Texte – etwa zu den von Menschen in Neuguinea in schwindelerregenden Höhen errichteten Baumhäusern – geben neben architektonischen Informationen stets auch interessante ethnologische Einblicke in die Lebensweise der jeweiligen Erbauerinnen und Nutzer. Wir treffen dabei auf einfache Zelte, Iglus, Jurten oder auch auf komplexe Konstruktionen aus Holz, die höchsten Ansprüchen an Design und Funktion genügen. Das heißt: All diese Bauten sind auf bewundernswerte Weise an die Gegebenheiten der Umwelt sowie an die beabsichtigte Nutzung angepasst – vom Emmentaler Holzbauernhaus bis zu den halb-unterirdischen Erdbauten nordamerikanischer Indigener. Zudem strahlen alle diese Konstruktionen durch ihre Material-verwendung und Ausführung eine »Heimeligkeit« aus, die mein Auge und mein Körper bei den meisten modernen Häusern nicht empfinden können. Diese Behausungen sind zutiefst menschlich – und es ist genial, was sich Menschen alles haben einfallen lassen, um auch in unwirtlichen Umgebungen ein gutes Leben führen zu können!
Bedauerlicherweise sind diese Traditionen in zahlreichen Fällen bedroht; vielerorts wird seit einigen Jahrzehnten nicht mehr auf hergebrachte Weise lokal angepasst und enkeltauglich gebaut, viel Wissen und viele Fertigkeiten sind deshalb bereits verlorengegangen. Der Atlas möchte dazu beitragen, dass das »Hausen in Holz und Halm« (so der Titel von Oya Ausgabe 36) auch in der zeitgenössischen Architektur wieder einen angemessenen Stellenwert erhält. Er kann als hervorragende Ergänzung bzw. Inspiration des Oya-Forschungsfelds zum enkeltauglichen Bauen betrachtet werden. Und für solch eine Weltreise (Stay home, stay safe!) sind achtzig Euro auch nicht zu viel verlangt. Jochen Schilk