Buchtipps

Die Häuser der Menschen

von Jochen Schilk, erschienen in Ausgabe #67/2022
Photo

Grassoden, Leder, Palmblätter, Sand, Wolle, Pflanzensäfte und -fasern, Bruchsteine, Rinde, Joghurt, Schnee – und natürlich immer wieder Lehm und Holz. Diese und viele weitere lokal verfügbare Stoffe haben Menschen vor der Industrialisierung und Globalisierung für den Bau ihrer Behausungen verwendet. 30 internationale Expertinnen und Experten zeigen in dem von Christian Schittich im Baseler Birkhäuser-Verlag herausgegebenen Band »Traditionelle Bauweisen – Ein Atlas zum Wohnen auf fünf Kontinenten« die faszinierende Vielfalt »vernakulärer« Bautechniken. Durch die 384 großformatigen, mit zahlreichen (oft historischen) Fotos, Grundrissen und Konstruktionszeichnungen ausgestatteten Seiten dieses Atlanten zu blättern, ist tatsächlich eine Art Weltreise zu immer neuen fernen Orten. Die kenntnisreichen Texte – etwa zu den von Menschen in Neuguinea in schwindelerregenden Höhen errichteten Baumhäusern – geben neben architektonischen Informationen stets auch interessante ethnologische Einblicke in die Lebensweise der jeweiligen Erbauerinnen und Nutzer. Wir treffen dabei auf einfache Zelte, Iglus, Jurten oder auch auf komplexe Konstruktionen aus Holz, die höchsten Ansprüchen an Design und Funktion genügen. Das heißt: All diese Bauten sind auf bewundernswerte Weise an die Gegebenheiten der Umwelt sowie an die beabsichtigte Nutzung angepasst – vom Emmentaler Holzbauernhaus bis zu den halb-unterirdischen Erdbauten nordamerikanischer Indigener. Zudem strahlen alle diese Konstruktionen durch ihre Material-verwendung und Ausführung eine »Heimeligkeit« aus, die mein Auge und mein Körper bei den meisten modernen Häusern nicht empfinden können. Diese Behausungen sind zutiefst menschlich – und es ist genial, was sich Menschen alles haben einfallen lassen, um auch in unwirtlichen Umgebungen ein gutes Leben führen zu können! 

Bedauerlicherweise sind diese Traditionen in zahlreichen Fällen bedroht; vielerorts wird seit einigen Jahrzehnten nicht mehr auf hergebrachte Weise lokal angepasst und enkeltauglich gebaut, viel Wissen und viele Fertigkeiten sind deshalb bereits verlorengegangen. Der Atlas möchte dazu beitragen, dass das »Hausen in Holz und Halm« (so der Titel von Oya Ausgabe 36) auch in der zeitgenössischen Architektur wieder einen angemessenen Stellenwert erhält. Er kann als hervorragende Ergänzung bzw. Inspiration des Oya-Forschungsfelds zum enkeltauglichen Bauen betrachtet werden. Und für solch eine Weltreise (Stay home, stay safe!) sind achtzig Euro auch nicht zu viel verlangt.
   Jochen Schilk


Traditionelle Bauweisen 

Ein Atlas zum Wohnen auf fünf Kontinenten.

Christian Schittich (Hg.)

Birkhäuser, 2019

384 Seiten

ISBN 978-3035616095

79,95 Euro


weitere Artikel aus Ausgabe #67

Photo
von Jannis Pfendtner

Verirrt im Wald

Es war ein Samstagmorgen im Herbst 2021, und die Bäume am Waldrand waren längst in bunte Farben getaucht. Kühler Wind zog durch die Äste und ließ das eine oder andere Blatt nach einem heißen Sommer nun langsam zu Boden segeln. Dort unter der großen Buche stand

Photo
von Matthias Fersterer

Gespräche mit Verwandten

Klimakrise, Dürre, Überschwemmungen: Die Welt wird sich in den kommenden Jahrzehnten um 2, 3 oder sogar 4 °C erwärmen – das waren die Ausgangspunkte der vergangenen Ausgabe zum Thema »Kompost werden!« und sie sind es auch in dieser Ausgabe, in der

Photo
von Anja Marwege

Nass und lebendig

Im Jahr 1929 veröffentlichte die deutsche Moorkundlerin Selma Ruoff (1887–1978) ihre Forschung über das Zehlaubruch, eines von wenigen am Beginn des 20. Jahrhunderts noch wachsenden Hochmoore. Beeindruckende, acht Meter dicke Torfschichten zeichneten das im damaligen

Ausgabe #67
Von Kühen und anderen Verwandten

Cover OYA-Ausgabe 67
Neuigkeiten aus der Redaktion