Buchtipps

Das Dorf des Willkommens

von Elisabeth Voß, erschienen in Ausgabe #67/2022
Photo

Der Autor Domenico »Mimmo« Lucano wurde am 30. September 2021 in Italien zu mehr als 13 Jahren Gefängnis verurteilt, wegen der vermeintlichen Förderung illegaler Einreise von Geflüchteten. In seinem Buch »Das Dorf des Willkommens« beschreibt er, wie das kleine kalabrische Bergdorf Riace, dessen Bürgermeister er von 2004 bis 2018 war, seit 1998 Schutzsuchende aufgenommen hat (siehe Oya 4). Das »Modell Riace« fand weltweite Aufmerksamkeit, Wim Wenders drehte den Kurzfilm »Il Volo« (»Der Flug«) über Riace, und 2017 bekam Mimmo Lucano den Dresdner Friedenspreis. Aber es gab auch Gegenwind und Repression: 2018 wurde der Bürgermeister abgesetzt und verbannt, elf Monate durfte er Riace nicht betreten. Das Schandurteil von 2021 wird hoffentlich im Berufungsverfahren zurückgewiesen werden.

Im Buch schildert Lucano seine Kindheit und Jugend in dem von Abwanderung betroffenen Bergdorf. Auch Angehörige seiner Familie waren für immer nach Übersee gegangen, denn in Kalabrien fanden sie keine Perspektive. Die Traurigkeit über den Verlust und das Verständnis für Migration prägten viele Familien. Der Autor war inspiriert von anarchistischen, antipsychiatrischen und befreiungstheologischen Ideen und engagierte sich in der außerparlamentarischen Oppositionsbewegung »Lotta Continua«. Im Buch würdigt er seine Vorbilder und Mitstreiter und gibt Einblicke in politische Kämpfe an der Seite der Armen und Schwachen, gegen Ungerechtigkeiten und gegen die Macht der Mafia.

Mimmo Lucano berichtet über die Anfänge des Willkommensdorfs, als 1998 ein Schiff mit kurdischen Geflüchteten in Riace strandete, um die er sich mit Freundinnen und Freunden kümmerte. Sie gründeten den Verein »Città Futura« und schufen Arbeitsplätze für Schutzsuchende und Einheimische in kleinen Werkstätten und Läden. Mit den Geflüchteten kam wieder Leben ins Dorf (mehr zu Riace in der nächsten Ausgabe von Oya) .

Die Schutzsuchenden waren Lucano wichtiger als die Bürokratie. Besonders betroffen machte ihn der Tod von Becky Moses, die 2015 aus Nigeria, wo sie gegen ihren Willen verheiratet werden sollte, nach Riace gekommen war. Als ihr Asylantrag abgelehnt wurde, tauchte sie Anfang 2018 bei Bekannten im berüchtigten Lager San Ferdinando unter. Als dort ein Feuer ausbrach, verbrannte sie im Zelt. Neben ihrem Leichnam wurde der Personalausweis gefunden, den Mimmo Lucano ihr kurz zuvor noch ausgestellt hatte. Er ließ Becky Moses auf dem Friedhof von Riace beisetzen.

Die Mailänder Soziologieprofessorin Giovanna Procacci hat die Gerichtsverfahren gegen Lucano und 26 seiner Mitstreitenden verfolgt. In einem ausführlichen Nachwort schildert sie, wie die Rechtsprechung gegen Solidarität und Menschenrechte eingesetzt wird. Mimmo Lucanos Buch ist ein berührendes Zeugnis der Menschlichkeit in einer gewaltvollen Welt.  


Das Dorf des Willkommens

Mimmo Lucano

rüffer & rub, 2021, 288 Seiten

ISBN 978-3906304878

28,50 Euro


weitere Artikel aus Ausgabe #67

Photo
von Theresa Leisgang

Vom Ende der Klimawissenschaft

Bei einem Waldspaziergang Anfang Februar traf ich unverhofft einen alten Freund: Allium paradoxum, Wunder-Lauch, auch Berliner Bärlauch genannt. »Ihr hier? Um diese Jahreszeit?«, fragte ich die kleinen Triebe, die überall unter den mächtigen Buchen hervorspitzten.

Photo
von Anja Marwege

Nass und lebendig

Im Jahr 1929 veröffentlichte die deutsche Moorkundlerin Selma Ruoff (1887–1978) ihre Forschung über das Zehlaubruch, eines von wenigen am Beginn des 20. Jahrhunderts noch wachsenden Hochmoore. Beeindruckende, acht Meter dicke Torfschichten zeichneten das im damaligen

Photo
von Jannis Pfendtner

Verirrt im Wald

Es war ein Samstagmorgen im Herbst 2021, und die Bäume am Waldrand waren längst in bunte Farben getaucht. Kühler Wind zog durch die Äste und ließ das eine oder andere Blatt nach einem heißen Sommer nun langsam zu Boden segeln. Dort unter der großen Buche stand

Ausgabe #67
Von Kühen und anderen Verwandten

Cover OYA-Ausgabe 67
Neuigkeiten aus der Redaktion