Der Autor Domenico »Mimmo« Lucano wurde am 30. September 2021 in Italien zu mehr als 13 Jahren Gefängnis verurteilt, wegen der vermeintlichen Förderung illegaler Einreise von Geflüchteten. In seinem Buch »Das Dorf des Willkommens« beschreibt er, wie das kleine kalabrische Bergdorf Riace, dessen Bürgermeister er von 2004 bis 2018 war, seit 1998 Schutzsuchende aufgenommen hat (siehe Oya 4). Das »Modell Riace« fand weltweite Aufmerksamkeit, Wim Wenders drehte den Kurzfilm »Il Volo« (»Der Flug«) über Riace, und 2017 bekam Mimmo Lucano den Dresdner Friedenspreis. Aber es gab auch Gegenwind und Repression: 2018 wurde der Bürgermeister abgesetzt und verbannt, elf Monate durfte er Riace nicht betreten. Das Schandurteil von 2021 wird hoffentlich im Berufungsverfahren zurückgewiesen werden.
Im Buch schildert Lucano seine Kindheit und Jugend in dem von Abwanderung betroffenen Bergdorf. Auch Angehörige seiner Familie waren für immer nach Übersee gegangen, denn in Kalabrien fanden sie keine Perspektive. Die Traurigkeit über den Verlust und das Verständnis für Migration prägten viele Familien. Der Autor war inspiriert von anarchistischen, antipsychiatrischen und befreiungstheologischen Ideen und engagierte sich in der außerparlamentarischen Oppositionsbewegung »Lotta Continua«. Im Buch würdigt er seine Vorbilder und Mitstreiter und gibt Einblicke in politische Kämpfe an der Seite der Armen und Schwachen, gegen Ungerechtigkeiten und gegen die Macht der Mafia.
Mimmo Lucano berichtet über die Anfänge des Willkommensdorfs, als 1998 ein Schiff mit kurdischen Geflüchteten in Riace strandete, um die er sich mit Freundinnen und Freunden kümmerte. Sie gründeten den Verein »Città Futura« und schufen Arbeitsplätze für Schutzsuchende und Einheimische in kleinen Werkstätten und Läden. Mit den Geflüchteten kam wieder Leben ins Dorf (mehr zu Riace in der nächsten Ausgabe von Oya) .
Die Schutzsuchenden waren Lucano wichtiger als die Bürokratie. Besonders betroffen machte ihn der Tod von Becky Moses, die 2015 aus Nigeria, wo sie gegen ihren Willen verheiratet werden sollte, nach Riace gekommen war. Als ihr Asylantrag abgelehnt wurde, tauchte sie Anfang 2018 bei Bekannten im berüchtigten Lager San Ferdinando unter. Als dort ein Feuer ausbrach, verbrannte sie im Zelt. Neben ihrem Leichnam wurde der Personalausweis gefunden, den Mimmo Lucano ihr kurz zuvor noch ausgestellt hatte. Er ließ Becky Moses auf dem Friedhof von Riace beisetzen.
Die Mailänder Soziologieprofessorin Giovanna Procacci hat die Gerichtsverfahren gegen Lucano und 26 seiner Mitstreitenden verfolgt. In einem ausführlichen Nachwort schildert sie, wie die Rechtsprechung gegen Solidarität und Menschenrechte eingesetzt wird. Mimmo Lucanos Buch ist ein berührendes Zeugnis der Menschlichkeit in einer gewaltvollen Welt.