Der Titel des neuen Buchs von Bestseller-autor Joachim Bauer hat mich im ersten Moment irritiert: »Das empathische Gen« – denn der renommierte Arzt, Psychotherapeut, Gen- und Hirnforscher hat selbst in einem früheren Buch darauf hingewiesen, dass Gene kein Eigenleben haben. Sie sind auch nicht »egoistisch«, wie Richard Dawkins in »Das egoistische Gen« behauptete; sie sind vielmehr vollständig passiv. Aber der Autor rückt das mögliche Missverständnis selbst zurecht: Gene haben kein Bewusstsein und keine Moral, sie reagieren aber auf prosoziales Denken und stiften damit Gutes.
Die neue Forschungsrichtung »Social Genomics«, über die Bauer referiert, ist absolut faszinierend. Gene, so der Autor, reagieren stark auf Lebenseinstellungen. Wer hedonistisch-narzisstisch um sich selber kreist, aktiviere eine Gruppe von 53 »Risikogenen«, die chronische Entzündungen initiieren und damit die Gefahr von Demenz, Krebs und Schlaganfällen erhöhen können. Wer hingegen ein sinngeleitetes soziales Leben führte, sei vor solchen Krankheiten besser gefeit.
Bei einem vierwöchigen Experiment wurden Menschen in Gruppen geteilt, die entweder sich oder anderen etwas Gutes taten – oder aber niemandem. Danach ergaben medizinische Tests, dass Aktivitäten von Risikogenen bei jenen markant weniger auftraten, die eher altruistisch agiert hatten. Fürsorglichkeit hält also länger gesund. Entscheidend ist dabei jedoch, dass dies freiwillig geschieht. In einer Gemeinschaftskultur wie etwa in Südkorea korrelierte der positive Effekt nur da, wo die Menschen ihre Autonomie wahren konnten und ihnen nichts vorgeschrieben wurde.
Der emeritierte Universitätsprofessor Bauer folgert daraus, dass der Mensch auf Zuwendung und Liebe eingestellt sei und dass jeder Bindungsverlust Kraft koste und eine Demenz einleiten könne. Zudem sieht er eine Bestätigung seiner früheren Forschungen, die ergaben, dass seelischer Schmerz die Schmerzzentren im Gehirn ebenso aktiviert wie körperlicher. Wer als Kind Diskriminierung oder Nichtbeachtung erfährt, ist genauso schlimm dran wie ein Kind, das verprügelt wird. Verbundenheit ist also ein Wert an sich – und nur verbundene Menschen können ihr volles Lebenspotenzial entfalten.
Genauso faszinierend fand ich die Ausführungen über die »Selbstnetzwerke«, die sich in unserem Stirnhirn etwa dort befinden, wo manche indische Frauen ihren »Bindi«-Punkt aufmalen. Dort werden unsere Vorstellungen von uns selbst, von Angehörigen, Freunden und fiktionalen Figuren verwoben. Das Ich und das Wir sind untrennbar.
Wenn ich noch mehr Platz hätte, würde ich noch lange über dieses großartige Buch weiterschwärmen, denn es belegt wissenschaftlich, was wir schon lange ahnten: Menschen und ihre Gesellschaften besitzen ein gigantisches Potenzial zum Guten, wenn sie nicht durch Gewalt in irgendeiner Form daran gehindert werden. Ute Scheub
Das empathische Gen
Humanität, das Gute und die Bestimmung des Menschen.