Ein Gespräch zwischen der Biologin und Dozentin für Interkulturelle Kommunikation Gülcan Nitsch und der Oya-Redakteurin Lotte Selker.von Charlotte Selker, Gülcan Nitsch, erschienen in Ausgabe #68/2022
Gülcan Nitsch Schön, dass wir uns zum Gespräch treffen! Wir haben uns ja auf dem »utopival 2015« kennengelernt. Wie geht es dir und was machst du gerade?
Lotte Selker Ich freue mich über den Frühling, fühle momentan aber auch viel Aufwühlendes in der Welt. Ich studiere und lerne gerade über Elementare Musik- und Tanzpädagogik. Wir forschen entlang von Musik und Bewegung mit verschiedenen Zielgruppen, mit Gesang und leicht spielbaren Instrumenten.
GN Ich singe auch sehr gerne. Als ich in den letzten Wochen auf einer Nordseeinsel war, habe ich jeden Tag am Strand gesungen, einfach so, wie es aus mir herauskam, auf Türkisch; manchmal habe ich dabei auch geschrien. Ich merke, dass sich meine Stimmung sofort verändert, sobald ich anfange zu singen – egal, welches Gefühl davor bei mir präsent war. In dem Moment, in dem ich mich auf das Singen einlassen kann, finde ich schnell wieder in meine Mitte. Ich denke, Singen ist auch ein Werkzeug für mehr Frieden auf der Welt und eine wichtige Stellschraube für positive Veränderung und Glück, auch in der Erziehung der Kinder. Ich habe während meines Studiums in Australien auch mit Aborigines Kontakt gehabt und fand ihren Umgang mit Gesang und Natur sehr inspirierend und bereichernd. Damals habe ich den Impuls mitgenommen, einfach zu singen, wie es aus mir gerade herauskommt. Außerdem ist mein Mann Chorsänger und singt fast täglich. Wenn ich am Strand singe, fühle ich mich auch wie ein Teil eines Orchesters, mit den Vögeln, dem Meer und dem Wind als Musizierende. Einmal hat mich eine Frau angesprochen, dass sie das auch gern tun würde, sich aber nicht traut, und so habe ich sie eingeladen, mit mir draußen zu singen.
LS Für mich ist es wie ein Grundbedürfnis, das Singen ernst zu nehmen. Es macht einen großen Unterschied, in jedem Alter Berührung mit dem eigenen Gesang zu haben – auch um in Kontakt zu den eigenen Gefühlen zu kommen oder über sich selbst hinauszuwachsen.
GN Ich finde es sehr schön, dass aus unserem geplanten Portrait oder Interview dieses wunderbare Gespräch wurde und ich auch etwas über dich erfahren kann. Es ist essenziell für meine tägliche Arbeit, die Interkulturelle Kommunikation, dass wir wahres Interesse am anderen empfinden. Oft kommt auf meine Frage, wie es einer Person geht, nichts zurück. Viele Menschen sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt und können sich schwer empathisch in die Lage eines anderen versetzen.Es gibt einen gewissen Zauber der Begegnung, wenn wir uns dafür öffnen, in andere Realitäten einzutauchen, und einfach schauen, was wir alles dabei entdecken. Und das kann ich nur zulassen, wenn ich ein bisschen über diese Realität Bescheid weiß, offen und neugierig bin.
LS Ja, wenn ich in meinem Studium, aber auch mit Klima-Themen an verschiedene Menschen herantreten will, frage ich mich jeweils: »Mit wem habe ich es zu tun, wem begegne ich? Wie können sich die Menschen gesehen fühlen?«
GN Ja, es gibt zu viele Menschen in unserer Gesellschaft, die leider kaum gesehen werden. Ich versuche, sie sichtbarer zu machen und ihre Stimme weiterzuleiten – sie haben so viele berührende Geschichten zu erzählen! Dafür brauchen wir Räume, in denen sich Menschen auf der gleichen Augenhöhe begegnen können, etwa gemeinsame Pflanzaktionen oder müllfreie Picknicks. Das kann aber auch mit Fremden an der Bushaltestelle sein, im Supermarkt in der Warteschlange oder im Taxi. Wir können in unsere alltäglichen Begegnungen mehr Bewusstsein tragen – zum Beispiel, wenn wir einen fremden Menschen im Rollstuhl auf der Straße treffen. Vor fünf Jahren saß ich für drei Monate im Rollstuhl, und es war eine unglaubliche Erfahrung für mich, für die ich sehr dankbar bin. Ich konnte auf einmal Sachen sehen, die ich vorher nicht sah, und ich wurde oft von fremden Menschen angesprochen. Mir wurde bewusst, dass es viele Realitäten gibt und dass ich auf einmal das Schicksal von Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung teilte. Es ist auch faszinierend, wie ungezwungen fremde Kinder auf dem Spielplatz miteinander spielen. Wir verlernen oft diese Offenheit, wenn wir erwachsen werden, und ersetzen sie mit Schablonen im Kopf.
LS Ich bemühe mich auch, die Neugier wiederzufinden. Wir spüren zwar meist Neurgierde auf andere Kulturen, wenn wir auf Reisen sind oder zu einem Konzert gehen, doch im Alltag sind wir eher befangen oder zu durchgeplant, um uns auf eine interkulturelle Begegnung oder auch nur auf ein Zusammentreffen zweier Individuen einzulassen.
GN Neben der Neugier ist für mich das Annehmen wichtig. Erwartungen führen oft dazu, dass Situationen nicht so angenommen werden können, wie sie sind. Meiner Erfahrung nach ist in der deutschen Mehrheitsgesellschaft die Erwartungshaltung insgesamt ziemlich hoch. Damit gehen automatisch ständige Enttäuschungen einher, und das erklärt vielleicht die sogenannte Jammerkultur. Stattdessen könnten wir mehr innerlich beobachten, was Situationen mit uns machen, was wir im Moment spüren: Welche Gedanken und Gefühle löst eine Begegnung aus? Wie kann ich mit mir ins Reine kommen? Genau das ist für mich der innere Wandel. Und das wird meines Erlebens nach hier in Deutschland noch unterschätzt. Wir wissen alle viel über die Themen ökologischer Krisen und deren Lösungen, es fehlt wenig an Wissen. Aber wir wissen noch zu wenig über die Psychologie des Umweltbewusstseins oder dessen Hürden. Ich möchte gerne Skulpturen aus diesen Hürden bauen – sie sichtbar machen und mehr Geschichten miteinander teilen, Probleme anders betrachten, und zwar als Chancen dafür, neue Wege zu gehen! Das versuche ich zum Beispiel bei Yeşil Çember (siehe unten).
LS Ja, es braucht Praktiken, die uns verbinden. Ich war letzte Woche bei einer sehr berührenden Gongmeditation mit unglaublich tollen Schwingungen. Danach war ein tiefer Frieden in mir und ich war glücklicher im Kontakt. Manchmal sind es auch kleine Geschichten, die viel bewirken. Was sind für dich Geschichten des Gelingens, Gülcan?
GN Ich gebe an einer Hochschule das Seminar »Interkulturelle Kommunikation in der Bildung für Nachhaltige Entwicklung« und frage meine Studierenden selten nach ihren Erwartungen, weil die uns hindern, die Dinge zu sehen, wie sie sind; weil wir sie abgleichen und in Schubladen stecken. Die Studierenden sollen lernen, was eine Begegnung mit einer anderen Kultur mit ihnen macht, was sie dabei spüren und wie sie bewusst reagieren können. Ich lasse sie zu zweit einen interkulturellen Spaziergang durch Berlin-Wedding machen, um alles mit anderen Augen zu betrachten und dabei verschiedene Lebenswelten erleben und entdecken zu können, zum Beispiel bei einer türkischen Bäckerei Sesamringe auf Türkisch zu bestellen oder einige Minuten in einem Moscheehof zu verweilen. Wir beschränken uns in der heutigen Wissensgesellschaft zu sehr auf das Wissen. Das Motto sollte vielmehr sein: »Zeige nicht wie ein Schiff gebaut wird, sondern erwecke die Sehnsucht nach dem Meer.« Ich versuche die Menschen zu rütteln und zu schütteln, so dass sie Neues und Überraschendes erfahren.
LS Das ist interessant! Welche Begegnungsräume findest du noch wichtig, neben den Seminaren an der Hochschule?
GN Ich lade seit einigen Monaten zu Zoom-Calls unter mir bekannten Frauen ein, auf dass sie sich gegenseitig inspirieren und motivieren mögen. Es sind tolle Frauen: türkische und deutsche und anderer Nationalitäten. Es ist simpel, aber dieses Reallabor ist für uns alle unglaublich bereichernd. Es ist ein beflügelndes Gefühl, sich ohne Erwartungen auszutauschen. Ich habe das Feedback bekommen, dass diese Onlinetreffen die Menschen über die ganze Woche tragen. Bald wollen wir uns in Präsenz treffen.
LS Ich mache auch immer wieder die Erfahrung, dass das gegenseitige offene Zuhören ohne ein vorgegebenes Thema sehr wertvoll ist. Du probierst ja viele Formate von Begegnungen und Ausflügen aus – welche sind deine liebsten Ausflüge?
GN Ein sehr erfolgreicher Bildungsausflug war eine Reise in den Spreewald. Als erstes bin ich dort mit meiner Mutter hingefahren und sie war begeistert von der wunderschönen Natur, vom Pflanzenbestimmen und vom Bäumeumarmen und von den blau schimmernden Libellen. Danach habe ich ein Projekt gestartet und bin mit zig Frauen aus der türkischen Community, die Berlin teilweise noch nie wirklich verlassen hatten, Kanu in diesem versteckten Paradies gefahren. Das Projekt haben wir »Brandenburgische Natur à la Turka« genannt, es lief über zwei Jahre. Nach einem solchen Ausflugstag fühlten die Teilnehmerinnen sich sehr glücklich und mit der Natur verbunden, aber auch verantwortlicher für ihre Umwelt.
LS Danke dir sehr für das Gespräch!
GN Danke dir auch! Ich mag dir noch ein wunderbares Zitat des türkischen Dichters und Dramatikers Nazim Hikmet Ran mitgeben: »Leben wie ein Baum, einzeln und frei / doch brüderlich wie ein Wald, / das ist unsere Sehnsucht.‹ (Türkisch: Yaşamak bir ağaç gibi tek ve hür ve bir orman gibi kardeşçesine.) //
Gülcan Nitsch (49) wurde in Berlin geboren, ihre Eltern waren aus der Türkei eingewandert. Sie ist die Gründerin von Yeşil Çember, Gastdozentin an der Hochschule Eberswalde und Fellow des Sozialunternehmens-Netzwerks »Ashoka«.
Mehr zu Gülcan Nitsch’ Engagement Als bundesweit erste türkischsprachige Umweltorganisation steht der von Gülcan Nitsch begründete Yeşil Çember (Jeschil Tschember, »Grüner Kreis«) für die barrierefreie Umweltbildung aller Menschen in Deutschland. Ziel ist es, einen größtmöglichen gesellschaftlichen Zugang zu entsprechenden Themen zu schaffen. Durch kultursensible, niedrigschwellige und mehrsprachige Aufklärungsangebote schafft Yeşil Çember seit 15 Jahren Beteiligungsmöglichkeiten migrantischer Gemeinschaften und unterstützt auch die interkulturelle Öffnung der deutschen Umweltakteure gegenüber Minderheiten. www.yesilcember.eu