Autorin und Tänzerin Heike Pourian sprach
mit Tabea Heiligenstädt und Luisa Kleine über das gemeinschaftliche Leben von Alt und Jung in Zeiten der Klimakrise.von Heike Pourian, Luisa Kleine, Tabea Heiligenstädt, erschienen in Ausgabe #68/2022
Tabea Heiligenstädt Ich begann, über Generationen nachzudenken, als ich für einige Monate in einer altersgemischten Gemeinschaft lebte. Viele der Menschen, mit denen ich dort kochte, herumblödelte, tanzte und denen ich mich anvertraute, waren so alt wie meine Eltern. Es war schön, zu erfahren, wie viel Nähe zu Älteren möglich ist – aber es war auch ungewohnt. Das zu merken, machte mich traurig.
Heike Pourian Ich wurde einmal eingeladen, eine Gemeinschaft zu begleiten, die sich aus einer älteren und einer jüngeren Gründungsgruppe zusammensetzte. Es war das erste Treffen, bei dem es darum ging, was die beiden Gruppen eigentlich zusammen machen wollten. Wir saßen in einem großen Kreis, und ich merkte, wie die Älteren mit der Zeit immer stiller wurden. Die Jungen wendeten mit Leichtigkeit ihre Kommunikationskompetenzen, ihr Wissen über Soziokratie und Gemeinschaftsbildung an und sprachen ganz selbstverständlich vor der großen Gruppe, ohne sich zu verlieren. Ich sah die Alten wegbrechen, weil sie sich offenbar schämten, all das nicht zu können. Nachdem ich meine Beobachtung geteilt hatte, kam ein junger Mensch in die Mitte und erzählte von seiner Scham. Er schämte sich, weil ihm die Tatsache bewusst geworden war, dass er in eine Zeit geboren wurde, in der ihm all diese Ressourcen schon zur Verfügung standen, während ältere Menschen mit kriegsgebeutelten Eltern ganz andere Voraussetzungen mitbrachten. Er bat die Älteren, ihre Geschichten und Wunden nicht zurückzuhalten. Das konnte gehört werden.
TH Nachdem ich Gewaltfreie Kommunikation gelernt hatte, konnte ich für Ältere in Gesprächen anders da sein, habe viel zugehört und war in der Lage, -Gespräche so zu gestalten, dass sie wohltuender und konstruktiver waren. Das brauchte Mut, weil es nicht der üblichen Rollenverteilung entspricht, die den Älteren die Gesprächsführung zuspricht. Kommunikationskompetenz gibt mir ja auch durchaus eine gewisse Macht: Wer etwa Gesprächsverläufe bewusst gestalten kann, gestaltet damit auch viel von der Beziehung.
Luisa Kleine Rollen verändern sich auch durch die Gegebenheiten der Zeit, in der wir leben. Noch vor ein paar Jahrhunderten wussten die Älteren etwa, wie sich anhand von Wolkenformen Regen vorhersagen oder wie sich ein gutes Hochzeitsfest organisieren lässt. Die Welt, in die junge Menschen heute geboren werden, ist ganz anders als die, die ihre Eltern kennen. Es werden ganz andere Anforderungen an uns Junge gestellt – und auch die ändern sich immer schneller. Die Generation unserer Eltern ging zum Beispiel im Allgemeinen noch davon aus, dass alle einen Beruf erlernen, den sie dann ihr ganzes Leben lang ausüben.
Viele ältere Menschen haben das dringende Bedürfnis, ihr Wissen, das sie sich mühevoll ihr ganzes Leben lang angeeignet haben, weiterzugeben. In traditionellen Gesellschaften ist dies die explizite Aufgabe der Alten. Was aber, wenn dieses Wissen für die nächste Generation keinen Wert mehr hat, weil sich die Gegebenheiten so stark verändert haben? Dadurch kann viel Schmerz entstehen – bei älteren, aber auch bei jüngeren Menschen, weil diese irgendwann verstehen, dass die meisten Älteren in dieser verwirrenden Zeit, in der wir leben, genauso wenig wissen, was zu tun ist. Ich kenne tatsächlich nur wenige ältere Menschen, die mir das Gefühl geben, wesentliche Kompetenzen und Antworten auf die Krisen entwickelt zu haben – aber viele wollen uns Jüngeren ihre Antworten geben. Als Tabea einmal in einer TV-Doku über unsere Gemeinschaft sagte, dass sie sich mehr lebenserfahrene Menschen wünscht, bekamen wir eine Flut an Zuschriften von älteren Menschen, die sofort bei uns einziehen wollten.
HP Wie kann ich denn eine Älteste werden, wenn wir gar keine Ältesten im Rücken haben? Wenn ich jetzt manchmal gebeten werde, in diese Rolle zu gehen, fühle ich mich ganz wackelig. An vielen Stellen empfinde ich euch viel weiter als mich. Dann gehe ich noch mal einen Schritt zurück und erinnere mich, dass ihr auch an einer anderen Stelle angefangen habt. Ich muss dann aufpassen, nicht selbst in diese Scham zu rutschen und mich mit Jüngeren zu vergleichen: Wie wäre ich jetzt, wenn ich mit Mitte Zwanzig schon so und so gewesen wäre? Ich muss mich an die Verlorenheit erinnern, aus der ich komme, und dass ich in meiner Zeit viel einsamer war, als ihr es jetzt seid. Ihr habt euch zumindest gegenseitig. Aber auch wenn junge Menschen sich besser in der digitalen Welt zurechtfinden und ganz schnell lernen, beispielsweise mit soziokratischen Strukturen umzugehen, ist es wichtig, dass Ältere sich mit ihrer Lebenserfahrung an die Position der Ältesten stellen. Mehr Lebenserfahrung gibt nicht das Recht, zu sagen, wie es geht – aber eine andere Perspektive, weil ältere Menschen auf mehr Lebenszeit zurückblicken können, mehr Zyklen durchlaufen haben und sehen konnten, was sich alles in ihrer Lebensspanne verändert hat. Das ist eine wesentliche Ressource, die wegbricht, wenn Ältere sich zurückziehen oder in Scham versinken. Im schlimmsten Fall müssen die Jüngeren dann die Strukturen aufrechterhalten und die Älteren in ihren Prozessen unterstützen.
LK Es gibt intentionale Gemeinschaften, in denen die Mitglieder mit der Zeit immer älter werden, ohne dass Jüngere dazustoßen. Alt wird man ja von ganz alleine, aber um junge Menschen anzuziehen, ist anscheinend irgendetwas nötig. Manchmal beobachte ich, dass junge Menschen in diesen Gemeinschaften nicht richtig landen können. Was denkt ihr, was ist da wichtig?
HP Ich will die Tatsache würdigen, was für ein krasser Aufwand es vor 30 Jahren wahrscheinlich war, eine Gemeinschaft mit gemeinsamer Ökonomie oder freier Liebe – was auch immer die Themen waren – zu gründen. Das war alles viel neuer, aufregender und revolutionärer als in der heutigen sehr diversen Welt, in der es ja alles schon gibt und alles einen Namen hat. Ganz viele Gemeinschaften hatten damals mit heftigen Sektenvorwürfen zu tun und haben in diesem Gegenwind versucht, ganz andere Formen des Zusammenlebens zu entwickeln.
Es war auch eine Zeit, in der die Klimakrise im Großteil der Gesellschaft noch nicht so dringlich auf dem Zettel stand! Immer gegen Widerstand, Verleumdungen und Verdächtigungen ankämpfen zu müssen, kann zu einer Verhärtung führen, die es erschwert, flexibel zu bleiben – besonders wenn die Gemeinschaft in sich stabil ist und eine funktionierende Schnittstelle zur Gesellschaft gefunden hat. Damit dann wieder weich zu werden, Bewährtes zu hinterfragen und sich für Neues zu öffnen, ist schwierig.
Ich erlebe es in Gemeinschaften nicht, dass junge Menschen nicht landen können und in ihren neuen Impulsen ausgebremst werden, sondern dass ihnen oft sogar gehuldigt wird, besonders wenn eine Gemeinschaft gerade ein bisschen wackelig ist und frischen Wind braucht. Wenn in so einem Fall dann die Jungen alles retten sollen, kann sie dieser Anspruch überfordern.
TH In einer etablierten Gemeinschaft, in der ich einmal lebte, hatte ich das Gefühl, mit meinem Nichtwissen, wohin es für mich geht, und mit meiner Kreativität keinen Platz zu haben. Es schien mir, als müsste ich schon ein fertiges Konzept von mir haben. Vorher war ich eine Weile nomadisch unterwegs gewesen und wusste noch nicht, wie ich diese Erfahrungen in ein sesshaftes, verbindliches Leben integrieren wollte. Ich konnte verstehen, dass das Nichtwissen Angst und Überforderung auslöst und das System zu diesem Zeitpunkt mehr Stabilität suchte.
LK Phasen des Nichtwissens und der Orien-tierungssuche sind für menschliche Individuen und auch für Kollektive etwas ziemlich Normales. Gemeinschaften und Gesellschaften sollten bessere Wege finden, damit umzugehen. Wenn die -zyklische Kraft in Gemeinschaften stärker kultiviert würde und wir immer mal wieder alle Gewissheiten und die Geschichte, die wir uns über uns selbst erzählen, loslassen würden – dann wäre bestimmt ein guter Landeplatz für junge Menschen bereitet, weil es dann mehr Raum für neue Ideen gäbe. Es könnte immer wieder Momente geben, in denen wir unsere Geschichte über uns selbst wie Laub abwerfen und uns dann wieder neu wachsen lassen. Gleichzeitig lebt natürlich auch etwas in einer Linearität immer weiter, genauso wie ein Baum immer weiterwächst, auch wenn sein Laub einen Zyklus von Wachsen und Sterben verkörpert.
LK Ein weiteres Thema, das mir in der Begegnung zwischen Generationen wichtig erscheint, sind unterschiedliche Vorstellungen vom Tätigsein. Als unsere Gemeinschaft die Fuchsmühle kaufte, waren manche unserer Eltern sehr irritiert, weil wir uns nicht sofort in riesige Baustellen stürzten, sondern stattdessen zu Gartencafés einluden. Ein älterer Freund empfahl mir, dass wir statt der vielen Direkt-kredite von Freundinnen doch lieber einen Bankkredit aufnehmen sollten, dessen Druck uns »auf Spur halten« würde. Manchmal kommt auch der Vorwurf, wir lägen der älteren Generation auf der Tasche; weil deren Angehörige sich so angestrengt hätten, müssten wir das nun auch machen.
HP Das bewegt mich sehr! Wie kann ich es jüngeren Menschen gönnen, wenn sie es in vielen Dingen besser haben als ich früher? Viele jüngere Frauen gehen zum Beispiel ganz anders mit ihrer Menstruation um als wir damals. Es ist heute ganz normal, dass eine Mentruationstasse in der WG-Küche ausgekocht wird. Das wäre früher undenkbar gewesen! Wir haben alles nur Erdenkliche getan, um zu verbergen, dass wir bluten. Das war tabu. Während ich einmal meiner menstruierenden Tochter die Füße massierte, fragte ich mich, wer mir denn damals die Füße massiert hat. Niemand! Es war einfach keiner da. Kann ich ihr jetzt gönnen, dass sie etwas bekommt, das ich nicht hatte? Und kann ich ihr das geben, während ich dabei den Schmerz über meinen erlittenen Mangel erst richtig fühle?
Ich glaube, ähnlich ist das mit dem Geld. Wenn die Älteren sehen, dass ihr euch nicht in die Riesenbaustelle stürzt, sondern jeden Sonntag Schlaraffentag macht, spüren sie Abwehr, wenn sie den eigenen Schmerz nicht fühlen wollen. Es ist eben leichter zu sagen »Was seid ihr denn für faule junge Leute«, als den eigenen Schmerz zu spüren und Großzügigkeit aufzubringen. Ältere Menschen müssten sich dann eingestehen, dass ihr eine innere Freiheit, eine Gelassenheit und einen Frieden habt, den sie in dem Alter nicht hatten.
Lange Zeit war es mir sehr wichtig, dass das Geld, das in meine Projekte fließt, nicht aus ausbeuterischen Verhältnissen kommt – bis ich verstand, dass das gar nicht geht: Irgendwo ist Geld immer geraubt worden. Dieser Gedanke löste auch eine Erleichterung in mir aus. Wenn Geld letztlich immer geraubt ist, dann geht es nur darum, zu schauen, wie das vorhandene Geld sinnvoll eingesetzt werden kann, um etwas Gutes zu bewirken.
Gleichzeitig kann ich verstehen, dass an Geld einfach viel Leistungslogik haftet. Wie kann ich als älterer Mensch das von mir und anderen durch Ausbeutung und Selbstausbeutung angehäufte Geld weitergeben, ohne zu erwarten, dass an dem Ort, an den ich es gebe, dasselbe passiert? Das ist vermutlich nur möglich, wenn die Älteren ihren Schmerz gut beobachten können und die Jungen viel Anerkennung und Reflektion dafür aufbringen, wie das ihnen zur Verfügung gestellte Geld entstanden ist.
LK Als wir unsere Genossenschaftsanteile zusammentrugen, haben wir auch davon erzählt, wie Geld akkumuliert wird: Das waren teilweise sehr berührende Geschichten von Armut, Flucht, harter Arbeit, Einsamkeit, Familienkonflikten, Erbe und Bestrafungen. Wenn wir weiter in der Geschichte zurückgehen, können wir ja auch sehen, dass all das monetäre Kapital irgend-wann durch Ausbeutung, Einhegung, Krieg und Sklaverei entstanden ist. Wie können wir überhaupt mit diesem Erbe umgehen?
Mit dem Vorwurf, die jüngere Generation läge der älteren auf der Tasche, wird noch ein anderer Schmerz berührt: Ich nehme Geld an von älteren Menschen aus privilegierten Verhältnissen, die das Geld durch eine Lebens- und Wirtschaftsweise verdient haben, die meine Zukunft zerstört! Es scheint mir absurd: Da bauen Menschen Eigenheime, machen mit in einem System, um Geld anzuhäufen; sie legen sich einen angesagten Lebensstil zu, um ihren Kindern etwas bieten zu können – aber gefährden genau damit deren Zukunft!
TH Ich stelle es mir erschütternd vor, so eine Wahrheit im höheren Alter zu hören und wirklich an sich heranzulassen. In meinem Leben gibt es bislang kaum etwas, das ich bereue; nur mein erstes Studium fühlt sich heute nach verschwendeter Zeit an. Aber ich kann mir nicht vorstellen, mit 70 die Erkenntnis zu haben, dass mein Beruf der Welt geschadet hat. Um so einen Gedanken überhaupt zuzulassen, braucht es viel Mut und innere Größe.
HP Meine Mutter war für solche Themen immer ab einem bestimmten Punkt nicht mehr verfügbar, sie dissoziierte einfach. Das hat mich sehr wütend gemacht, aber sie konnte nicht mehr an sich heranlassen.
Die junge Perspektive sollte aber auch demütig die Tatsache anerkennen, dass Menschen vor dreißig Jahren zum Beispiel noch nicht so gut wussten, was Erderwärmung ist. Damals musste schon sehr spezifisch recherchiert werden, um die Dringlichkeit dieses Themas wirklich zu erfassen. In den gegebenen Strukturen Kinder zu bekommen, hat zudem viele unpolitisch gemacht, weil das Leben einfach voll war mit Kindern, Lohnarbeit und Haushalt.
Ich mag das Bild, von dem mir eine Freundin erzählte, die bei Sobonfu Somé, einer -afrikanischen Lehrerin, eine Ausbildung in naturverbundener Ritualarbeit gemacht hat: Stell dir vor, alle Großeltern und Urgroßeltern stünden hinter dir. Auch der Nazi-Großvater war ja auf dieser Erde nur eine Erscheinung seiner Seele. Alle stehen hinter dir und rufen dir zu: »Ja, wir haben es nicht so richtig hingekriegt – aber jetzt du! Jetzt du!« So feuern sie dich an. Sie haben dafür gesorgt, dass du jetzt auf dem Spielfeld bist, und stehen ganz hinter dir, damit du nun dein Bestes geben kannst.
TH Manchmal träume ich davon, ältere Menschen in Machtposititionen, die die wichtigen Entscheidungen, die gerade getroffen werden müssten, verhindern, liebevoll von ihren Sesseln zu schubsen und zu sagen: »Danke, dass du dein Bestes gegeben hast. Nun ist es Zeit für dich zu gehen«.
HP Vorsicht, das kann aber auch schnell zur Hybris werden! Wo überall werden euch eure Kinder fragen: »Warum habt ihr denn das damals nicht verstanden? Warum habt ihr dies und jenes nicht gemacht?« Wird sich der laute Vorwurf dann immer weiter fortpflanzen? Und hindert dieser Vorwurf uns nicht auch daran, gemeinsam über alle Generationen hinweg wirksam zu werden?
LK Wir müssen wohl über alle Generationen hinweg gemeinsam ins Handeln kommen, denn die aktuellen Krisen können wir nur mit allen Generationen zusammen bewältigen.
Ich danke euch für dieses spannende Gespräch! //
Heike Pourian (54) beobachtet sich dabei, dass sie sich sehr wohl fühlt in der Gesellschaft von Menschen, die viel jünger sind als sie selbst. Oft möchte sie ihnen zurufen: »Da seid ihr ja endlich!« Bisweilen fühlt sie sich, als sei sie zu früh geboren. Und im besten Fall übt sie sich darin, in die Rolle der Ältesten hineinzuwachsen.