Die Kraft der Vision

Leben ist nicht nützlich

Ausharren in der Katastrophe – eine ortsgebundene Perspektive.von Ailton Krenak, erschienen in Ausgabe #70/2022
Photo
© garapa.org

Im Moment erleben wir die Herausforderung einer Art Erosion des Lebens. Diejenigen, die von der Modernität, der Wissenschaft, dem permanenten Gebrauch neuer Technologien erfüllt sind, werden davon auch aufgefressen. Bei jedem weiteren Schritt hin zum technischen Fortschritt kommt mir dieser Gedanke: Wo wir vorbeikommen, verschlingen wir etwas. Die Anweisung, vorsichtig aufzutreten, damit kurz darauf keine Spur mehr von uns zu erkennen ist, wird zum Ding der Unmöglichkeit: Unsere Spuren werden mit jedem Mal tiefer. Und jede Bewegung, die jeder einzelne von uns macht, machen wir alle. Die Vorstellung, dass jede Person ihre eigene Spur auf der Welt hinterlässt, gehört der Vergangenheit an; wenn ich auf den Boden trete, bleibt dort nicht meine Spur zurück, sondern unsere. Es ist die einer Menschheit, die keine Richtung mehr hat und tiefe Spuren hinterlässt. Ein Kleinkind auf dem Schoß der Mutter bewegt ein Bein, und der Boden bricht ein. Denn dieses Kleinkind wird auf der Welt, in der wir heute leben, Hygieneprodukte benutzen, Windeln, Stoffe, Materialien, die irgendwo anders die Erde auffressen. Völlig unwillkürlich plündert es bereits den Planeten.


*


Seit zwei Jahren lebe ich gemeinsam mit anderen Familien meines Volks am linken Ufer eines Flusses, von wo wir unter pragmatischen Gesichtspunkten längst hätten evakuiert werden müssen wie die Leute aus Brumadinho, Bento Rodrigues und anderen Orten. Die Krenak haben in ihre Umsiedlung nicht eingewilligt, wir wollten am Ort unseres Leids bleiben. »Aber ihr habt hier kein Wasser!« – Na und? »Aber ihr habt auch kein Essen!« Na und? »Aber ihr könnt sterben!« Na und? Wir wissen, dass unser Dorf schwer getroffen wurde, zu einem Abgrund geworden ist, aber wir stecken mit darin und werden nicht gehen. Es stört uns, aber man muss sich der Situation stellen, um bei klarem Verstand eine Antwort zu finden. Bei vollem Bewusstsein des Körpers, des Geists, einem Bewusstsein darüber, was man ist. Und sich dann entscheiden, über die bloße Erfahrung des Überlebens hinausgehen.

Eine Rettungsaktion hat das Ziel, den betroffenen Körper zu retten und anderswohin zu bringen, wo er wiederhergestellt wird. Wiederhergestellt kann er dann vielleicht auch wieder nützlich sein. Immer von der Idee ausgehend, dass Leben nützlich sein muss. Aber Leben ist keineswegs nützlich. Das Leben an sich ist so wunderbar, dass unser Verstand ihm eine Nützlichkeit zuschreiben möchte, aber das ist Unsinn. Das Leben ist Freude, ist Tanz, aber ein kosmischer Tanz, den wir zu einer albernen, nützlichen Choreografie degradieren wollen.

Eine Biografie: Man wird geboren, hat dies getan, jenes getan, ist erwachsen geworden, hat eine Stadt gegründet, hat den Fordismus erfunden, eine Revolution gemacht, eine Rakete gebaut, ist in den Weltraum geflogen; all das ist eine lächerliche kleine Geschichte. Wieso bestehen wir dermaßen darauf, das Leben zu etwas Nützlichem machen zu wollen? Wir müssen den Mut haben, radikal zu leben, anstatt um unser Überleben zu schachern. Wenn wir weiterhin unseren Planeten auffressen, werden wir vielleicht noch einen weiteren Tag überleben.

Ich sage immer wieder zu den Leuten in meinem Dorf und auch anderswo, dass schon das Überleben allein eine Verhandlung über das Leben ist, das schon allein eine großartige Gabe ist und nicht geringgeschätzt werden darf. Zum Leben verhalten wir uns wie winzige Fische im riesigen Ozean, die reinste Erfüllung. Einem Fisch wird niemals der Gedanke kommen, der Ozean sei nützlich, denn der Ozean ist das Leben. Von uns aber wird ständig verlangt, nützliche Dinge zu tun. Deshalb sterben so viele Leute zu früh, geben den ganzen Unsinn auf und verschwinden. Einmal hat mich jemand gefragt: »Warum nehmen sich so viele junge Indigene das Leben?« Weil sie das Leben erbärmlich finden und diese Erfahrung hier so ungesund, dass sie lieber woandershin gehen. Ich weiß, dass es schmerzhaft ist, das zu sagen, denn viele Familien haben Kinder verloren, Jugendliche, junge Erwachsene, aber wir brauchen keine Angst zu haben, nicht einmal davor.


*


Die ursprünglichen Völker sind nicht deswegen noch auf dieser Welt, weil man sie ausgeschlossen hat, sondern weil sie entkommen sind. Daran sollte man immer denken. In vielen Regionen der Erde haben sie mit aller Kraft und mit allem Mut Widerstand geleistet, um nicht völlig verschlungen zu werden von dieser utilitaristischen Welt. Die eingeborenen Völker widerstehen dem Angriff der Weißen, weil sie wissen, dass diese irren, und werden dafür meist selbst wie Verrückte behandelt. Dieser Hetzjagd zu entkommen, ein Leben zu führen, das nicht der Idee einer Nützlichkeit erlegen ist, schafft einen Ort innerer Stille. Dort, wo man heftige Eingriffe der Nützlichkeit in das Leben erdulden musste, ist die Erfahrung der Stille beschädigt.


*


Das leere Denken der Weißen kommt nicht mit der Idee klar, einfach so auf der Welt zu sein. Sie glauben, unser Existenzgrund sei die Arbeit. Sie haben die anderen so versklavt, dass sie nun auch sich selbst versklaven müssen. Sie können nicht einfach aufhören und das Leben als eine Gabe genießen, einfach nur die Welt als wunderbaren Ort. Diese mögliche Welt, die wir alle teilen können, muss gar keine Hölle sein, sie kann schön sein. Das macht ihnen entsetzliche Angst, und sie nennen uns faul und sagen, wir wollten uns nicht »zivilisieren« lassen. Als sei dieses »Zivilisieren« eine Bestimmung. Es ist ihre Religion: die Religion der Zivilisation. Das Repertoire ändert sich, aber der Tanz ist derselbe, die Choreografie bleibt die gleiche: hart mit dem Fuß auf die Erde stampfen. Unser Tanz ist das leise Auftreten, ganz leicht.

Ich habe diese großen Städte der Welt immer als eine Art Implantat auf dem Körper der Erde betrachtet. Als könnten wir sie, weil wir nicht zufrieden sind mit ihrer Schönheit, anders gestalten. Doch wir sollten die Übergriffe auf ihren Körper einstellen und ihre Integrität respektieren. Wenn die Indios sagen: »Die Erde ist unsere Mutter«, sagen die anderen: »Wie poetisch sie sind, was für ein schönes Bild!«

Aber es ist keine Poesie, sondern unser Leben. Wir haften am Körper der Erde, wenn jemand auf sie einsticht, sie verletzt oder kratzt, bringt er unsere Welt durcheinander.

Jedes Individuum dieser Zivilisation, die gekommen ist, um die indigene Welt auszuplündern, beteiligt sich aktiv an diesem Raubzug. Und sie sind sogar davon überzeugt, dass es richtig ist, was sie tun. Es scheint Weiße unglaublich zu stören, dass indigene Völker Privateigentum nicht als bedeutsam erachten. Es ist ein Erkenntnisproblem. Die Weißen sind zu Urzeiten aus unserer Mitte hervorgegangen. Sie haben mit uns gelebt, dann aber vergessen, wer sie einmal waren, und leben seitdem auf andere Weise. Sie haben sich an ihre Erfindungen geklammert, an ihre Werkzeuge, ihre Wissenschaft und Technologie, haben sich verrannt und den Planeten geplündert. Wenn wir uns nun wiederbegegnen, herrscht eine Art Zorn darüber, dass wir auf einem Weg auf der Erde geblieben sind, den sie nicht hatten weitergehen können.

Nun ist es aber so, dass der Klimawandel auf der Erde niemanden verschont, also entsteht langsam, wenn auch spät, die Erkenntnis darüber, dass die ursprünglichen Völker an unterschiedlichen Orten der Welt sich noch sehr wertvolle Lebensweisen erhalten haben, die möglicherweise geteilt werden können – auch sie sind bedroht. Uns bleibt nun, diese Erfahrung zu machen, die Erfahrung der Katastrophe ebenso wie der Stille. Die Erfahrung der Stille möchten wir sogar manchmal machen, die der Katastrophe nicht, denn sie ist schmerzhaft. Wir Krenak haben uns entschlossen, in der Katastrophe zu bleiben, uns braucht man nicht hier herauszuholen, wir gehen durch diese Wüste, müssen durch sie hindurch. Oder willst du jedes Mal wegrennen, wenn du eine Wüste siehst? Wenn sich eine Wüste vor dir auftut, durchquere sie. //


Auszüge aus: »Das Leben ist nicht nützlich«, in: Ailton Krenak: »Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen«, aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt von Michael Kegler, © 2021 btb Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.


Ailton Krenak (69) wurde 1953 am Rio Doce im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais (wörtlich: »Allgemeine Bergwerke«) geboren. Im Alter von siebzehn Jahren zog er in den südlich gelegenen Bundesstaat Paraná, wo er lesen und schreiben lernte, sich zum Grafikgestalter und Journalisten ausbildete und seither als Aktivist für die Rechte indigener Gruppen streitet. So war Krenak in den 1980er Jahren an der Gründung der brasilianischen »União das Nações Indígenas« (Union der Indigenen Nationen) beteiligt und vertrat die Indigenen des Landes 1987, nach dem Ende der brasilianischen Militärdiktatur, bei der verfassungsgebenden Nationalversammlung. Obwohl ihr Siedlungsgebiet 2015 und 2019 in Folge zweier Dammbrüche am Rio Doce durch Schwermetalle belastet ist, entschieden sich die Krenak gegen eine Umsiedlung: »Wir wollten am Ort unseres Leids bleiben.« 2016 erhielt Ailton Krenak den »Orden für kulturelle Verdienste« sowie die Ehrendoktorwürde der Bundesuniversität von Juiz de Fora, Minas Gerais. Sein 2019 auf Portugiesisch erschienenes Buch »Ideias para adiar o fim do mundo« liegt in deutscher Übersetzung als »Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen« vor.

ailtonkrenak.blogspot.com


weitere Artikel aus Ausgabe #70

Photo
von Tabea Heiligenstädt

Tun, was gerade dran ist

Luisa Kleine  Anastasyia, möchtest du uns ein paar Worte über dich erzählen und wie es dir gerade geht?Anastasyia Volkovo  Gerade bin ich entspannter. Das Treffen von GEN Europe, das in der dänischen Gemeinschaft »Ananda Gaorii« stattgefunden

Photo
von Lara-Katharina Roszak

Mit Kohle verbunden

Der folgende Beitrag erscheint im Rahmen der Serie zu den »Muster des Commoning«. Muster sind lebendigkeitsfördernde Werkzeuge. Sie beschreiben den Kern gelingender Lösungen von häufig auftretenden Problemen, ohne dass die Lösung jedieselbe wäre. Muster werden

Photo
von Matthias Fersterer

Im postpatriarchalen Durcheinander (Buchbesprechung)

Im Klassiker der Subsistenzperspektive »Eine Kuh für Hillary« von Veronika Bennholdt-Thomsen und Maria Mies findet sich die bezeichnende Grafik eines Eisbergs: Unterhalb der mit »Kapital und Lohnarbeit« betitelten sichtbaren Spitze liegt der ungleich größere,

Ausgabe #70
Was gibt Sicherheit?

Cover OYA-Ausgabe 70
Neuigkeiten aus der Redaktion